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    ,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,,Die Mysterien des Finanzkapitals - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 27.02.01 22:04:41 von
    neuester Beitrag 14.03.01 19:20:10 von
    Beiträge: 14
    ID: 348.927
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      Avatar
      schrieb am 27.02.01 22:04:41
      Beitrag Nr. 1 ()
      Dieser Artikel erschien bereits im September 1997 in der Brasilianischen
      Zeitung FOLHA, wohlgemerkt bevor an den asiatischen Boersen ein Crash dem
      naechsten folgte, bevor Waehrungen einbrachen und Banken zusammenbrachen.
      Und bevor hard Business-Maenner weinen lernten. So zeigte der
      Koelner-Stadt-Anzeiger vom 30.12.97 ein Foto mit folgenden Zeilen: "Ein
      Boersenmakler in Tokio wischt sich die Augen: Wie der Nikkei-Index
      geraten auch die uebrigen Wirtschaftsdaten in den Abwaertssog."
      (Vorbemerkung: H.Weinhausen)
      -----------------
      Robert Kurz

      Die Mysterien des Finanzkapitals

      Wann platzt die Blase des irregulaeren Geldes?

      Seit nahezu fuenfzehn Jahren boomt nun schon der globale
      Kasino-Kapitalismus. Das Verhaeltnis von realer Produktion und
      Finanzoekonomie hat sich verkehrt. Nicht mehr das Wachstum der Maerkte
      fuer Konsum- und Investitionsgueter bestimmt das Wachstum der
      Finanzmaerkte, sondern genau umgekehrt: Die scheinbar verselbstaendigte
      Wucherung des spekulativen Geldkapitals diktiert die Konjunktur von
      Industrie und Dienstleistungen. Waehrend die Weltwirtschaft pro Jahr
      durchschnittlich um zwei bis drei Prozent waechst, steigen die Kurse der
      Aktien um das Zehn- bis Zwanzigfache, und zwar in permanenter Progression.

      Zwar hat es Wellen der Spekulation schon frueher gegeben, aber noch
      niemals in einem derartigen Ausmass und ueber einen derart langen
      Zeitraum hinweg. Stets platzte die spekulativ aufgeblaehte Blase des
      realoekonomisch nicht gedeckten Geldkapitals nach wenigen Jahren mit
      einem grossen Finanzkrach; die groteske "Tulpenspekulation" in Holland
      von 1634-1637 endete ebenso mit einem Desaster wie die Aktien-Hausse der
      industriellen "Gruenderzeit" von 1870-1873 und der spekulative Boom der
      "roaring twenties" von 1924-1929, dessen "schwarzer Freitag" mit einem
      Kurssturz an der Wallstreet bekanntlich die bis dahin groesste
      Weltwirtschaftskrise ausloeste. Aber diesmal scheint der grosse
      Finanzkrach auszubleiben. Der Boersencrash von 1987 konnte die weltweite
      Hausse ebensowenig bremsen wie die Kontraktion des japanischen
      Aktienmarkts um fast 50 Prozent Anfang der 90er Jahre und mehrere
      "Mini-Crashs" seither. Das Wachstum des Geldes hat das industrielle
      Wachstum mehrfach ueberrundet, ohne dass die Strafe der Inflation auf dem
      Fusse folgte. Diese historisch einmalige Konstellation ist in keinem
      Lehrbuch zu finden. Eine "ewige" Hausse ohne inflationaere Tendenz bei
      dauerhaft niedrigen Zinsen verhoehnt jede oekonomische Logik, scheint
      aber trotzdem Realitaet geworden zu sein.

      Die Vorsichtigen unter den Analytikern wollen den neuen
      verheissungsvollen Mysterien des Finanzkapitals nicht so recht trauen.
      Sogar A. Kostolany, der ebenso beruehmte wie erfahrene "Altmeister" der
      Spekulation, hat inzwischen kalte Fuesse bekommen. Aber inmitten einer
      Stampede des Optimismus werden die Vorsichtigen nicht mehr ernst
      genommen. Die abnorm lange Dauer der Hausse spuelt alle theoretischen
      Bedenken hinweg. Nicht nur an den zentralen Boersenplaetzen in den USA
      und Westeuropa jagt ein "Allzeithoch" das andere. Seit Mitte der 90er
      Jahre verdoppelten sich die Aktien-Indizes von New York und Frankfurt;
      der Dow Jones explodierte von 4000 auf knapp 8000 Punkte, der Dax von
      2000 auf ueber 4000 Punkte. Entsprechend sprunghaft stieg das nominale
      Geldvermoegen der Besitzer von Aktien. Ein Gemuetsmensch und Entertainer
      der grossen Boersen-Party wie der aus Deutschland stammende New Yorker
      Fonds-Manager Heiko Thieme rechnet die wundersame Geldvermehrung schon
      mal fuer die naechsten 100 Jahre hoch: Im gesegneten Jahr 2097 sieht er
      den Dow Jones bei 750.000 und den Dax bei 400.000 Punkten.

      Die Kokain-Euphoriker des abgehobenen Finanzkapitalismus verlieren
      alle Massstaebe: Aus dem unerschoepflich sprudelnden Fuellhorn der
      utopischen Geldmaschine, so jubeln sie, liessen sich in Zukunft alle
      Probleme loesen. Die Renten zum Beispiel, die in den Industrielaendern
      wegen der Alterspyramide unbezahlbar zu werden drohen, muessten nicht
      mehr muehsam aus den vom Lohn abgezogenen Versicherungsbeitraegen eines
      "Generationenvertrags" gespeist werden, sondern wuerden sich locker aus
      den Kursgewinnen finanzieren lassen - natuerlich nur zugunsten
      derjenigen, die fuer ihre private Altersvorsorge Geld in Aktien anlegen
      koennen. Aber der Aktionaer wird sowieso der einzig wahre Mensch des 21.
      Jahrhunderts sein, waehrend der Rest der Menschheit sich in einen blossen
      statistischen Schatten verwandelt. Soweit die anheimelnde Science fiction
      der neuen Finanz-Gurus, von denen viele zwar schon einen Namen in der
      Welt des Kommerz haben, aber noch nicht ganz trocken hinter den Ohren sind.

      Die frohe Botschaft von der Erloesung durch das kapitalistische
      Spielkasino hat sich schneller ueber die Erde verbreitet als die Lehre
      Christi. Auch an der Peripherie des Weltmarkts, mitten in den Ozeanen der
      Armut, blueht das Wetten mit Wertpapieren. Trotz des Mexiko-Crashs ist
      wieder "Fresh Money" an die Boersen Lateinamerikas geflossen. Selbst
      dort, wo realoekonomisch kein Gras mehr waechst, finden sich
      finanzkapitalistische "Emerging Markets", die aus der ganzen Welt mit
      nach Anlage suchendem Geldkapital bedient werden. Laengst sind sogar die
      alten Schulden der Dritten Welt in Gestalt der "Brady-Bonds" zu einem
      frivolen Gegenstand der internationalen Zocker-Gemeinschaft geworden. Am
      Ende der Welt, in Ulan Bator, handelt die mongolische Boerse mit
      surrealen Privatisierungs-Zertifikaten einer darniederliegenden
      Wirtschaft. In der Ukraine, in Bulgarien oder Rumaenien werden dubiose
      Papiere nicht selten in ebenso dubiosen Hinterzimmer-Banken mit Erfolg
      plaziert. Auch die offiziellen Boersen Osteuropas boomen ganz unabhaengig
      von der industriellen Ertragskraft mit undurchsichtigen Fonds und
      windigen Privatisierungs-Kupons. Hatte die Warschauer Boerse schon 1994
      einen Weltrekord mit der Steigerung ihres Aktien-Index um mehr als 1300
      Prozent hingelegt, so brachte es der Moskauer MT-Index im Sommer 1997
      trotz anhaltender Talfahrt des Sozialprodukts immerhin noch auf eine
      Steigerung um 180 Prozent.

      Nichts ist unmoeglich: Sogar im Hunger- und Buergerkriegs-Kontinent
      Afrika entsteht eine neue Boerse nach der anderen. In einer Reportage
      ueber den Wertpapiermarkt in Sambia, dessen "liberales Regelwerk lockt",
      schrieb die deutsche Wirtschaftszeitung "Handelsblatt" im August 1997:
      "Der unscheinbare Eingang zur sambischen Boerse, der Lusaka Stock
      Exchange (LuSE), liegt bezeichnenderweise zwischen einem Schlips- und
      Kurzwarenhaendler. Hinter einer Tuer und einem Stufenaufgang tritt der
      Besucher in ein Zimmer mit ein paar Schreibtischen, einem Kopiergeraet
      und einigen Computern. Wer nach dem Boersenparkett fragt, wird verwundert
      angeschaut. Schliesslich steht der Besucher mittendrin. Trotz der
      beschraenkten Raeumlichkeiten besteht kein Grund zum Hochmut. 1996 stieg
      der Umsatz der LuSE um fast das Zehnfache. Seit Jahresbeginn hat sich die
      Marktkapitalisierung mehr als verdoppelt".

      Ob Nordkap oder Aequator: Das Risikospiel um Geld ist zum allgemeinen
      Faszinosum geworden, wenn auch mit hoechst unterschiedlichen Volumina.
      Und ausser den grossen, international operierenden Fonds mischen ueberall
      die demoralisierten Reste der Mittelklasse mit, kurz bevor sie als ultima
      ratio Kaffee und Wuerstchen auf der Strasse verkaufen. Solange noch ein
      paar Extra-Dollars uebrig sind, werden sie mit der Mentalitaet von
      Drogensuechtigen in den Rachen des pulsierenden Kasino-Kapitalismus
      geworfen. Schon im spaeten 19. Jahrhundert schrieb der "Eisenbahnkoenig"
      Bethel Henry Strousberg, der wenig spaeter selber bankrott ging, in
      seinen Memoiren ueber den spekulativen Wahn nach 1870: "Meine Dienstboten
      selbst, die sich mit den Jahren einige hundert Taler erspart hatten,
      waren trotz meiner Warnungen nicht zu halten, und merkwuerdigerweise
      beteiligten sich die armen Leute fast immer an den allerfaulsten
      Unternehmungen". Heute ist diese naerrische Haltung global geworden. Die
      Hoffnung auf Glueck im Spiel hat sich zum uebergreifenden Zeitgeist
      entwickelt. Auch die sozial Ausgegrenzten sind davon infiziert. Wer nicht
      an der Boerse spekulieren kann, beteiligt sich an Gewinnspielen aller
      Art. Nicht nur in Sao Paulo kann man erleben, wie Putzfrauen und
      Tageloehner an Bushaltestellen ihr sauer verdientes Geld in
      "Huetchenspielen" verwetten. Auf der ganzen Welt steigt das Lotto-Fieber
      in demselben Masse, wie die Solidaritaet verfaellt.

      Die Redensart vom "Fieber" an der Boerse und in den Koepfen der von
      Spielleidenschaft besessenen Massen verraet unfreiwillig, dass der
      soziale und oekonomische Koerper der Gesellschaft an einer schweren
      Krankheit leidet. Jeder, dem die Faehigkeit zu logischem Denken nicht
      voellig abhanden gekommen ist, kann sehen, dass der neue
      Finanzkapitalismus keinen Boden unter den Fuessen hat. Auf die Dauer ist
      es unmoeglich, dass nur die "Arbeit" als sozialer Faktor fuer sich allein
      in der Krise ist, waehrend das Geldkapital munter weiter akkumuliert.
      Denn was das Kapital akkumulieren kann, ist letzten Endes nichts anderes
      als in Geld verwandelte "Arbeit". Eine ueberdimensionierte Hausse der
      Aktienmaerkte ist nur dann substantiell gerechtfertigt, wenn sie einen
      grossen historischen Boom der realen Oekonomie vorwegnimmt. Als sich die
      Aktienkurse in Deutschland Anfang der 50er Jahre in kurzer Zeit
      verzehnfachten, wurde diese damalige Expansion durch das wenig spaeter
      folgende "Wirtschaftswunder" gedeckt. Auch die grossen historischen
      Spekulationswellen waren nicht ganz ohne reale Grundlage; zu den
      Finanzkraechen kam es erst, als die Hausse der Aktien der realen
      Expansion irreal weit vorauseilte.

      Heute aber ist von einer grossen historischen Expansion der realen
      Oekonomie weit und breit nichts zu sehen. Die Weltwirtschaft duempelt auf
      einem niedrigen Niveau des Wachstums unter drei Prozent, waehrend der
      Sockel der strukturellen Massenarbeitslosigkeit weiter ansteigt.
      Besonders die grossen Industrielaender, mittlerweile auch Japan, bewegen
      sich langfristig eher in der Naehe der Stagnation. Die industrielle
      Globalisierung und die allgemeine Flucht in den Export legen durch
      transnationale Akquisitionen auf die Dauer mehr Kapazitaeten still als
      sie neue aufbauen. Es ist gerade die mangelnde Rentabilitaet
      zusaetzlicher Realinvestitionen, die immer groessere Massen von
      Geldkapital in das Spielkasino der Finanzmaerkte stroemen laesst. Der
      Kapitalismus hat kein "unbekanntes Terrain" betreten, wie verunsicherte
      Oekonomen vermuten, sondern er ist gewissermassen im obersten Stockwerk
      seines babylonischen Turmes aus dem Fenster gesprungen. Die grosse Frage
      ist, warum der Aufprall auf dem harten Boden der Tatsachen bis jetzt
      nicht stattgefunden hat.

      Diese Verzoegerung laesst sich durchaus erklaeren. Ein wichtiger
      Grund besteht darin, dass das Geld im Laufe des 20. Jahrhunderts seine
      eigene Wertsubstanz verloren hat. Bis zum 1. Weltkrieg waren alle
      Waehrungen durch Gold gedeckt, das als eigentliches Weltgeld fungierte.
      Durch diese Bindung an die objektive Wertmasse des Goldes war eine Art
      "automatische Bremse" gegen eine schrankenlose Ausdehnung der Geldmenge
      in das Finanzsystem eingebaut. Jede ueber realistische Perspektiven des
      realen Wachstums hinausschiessende Spekulationsblase wurde auf diese
      Weise relativ bald zum Platzen gebracht. Die Kriegsoekonomien der ersten
      Jahrhunderthaelfte zwangen jedoch die Staaten, ihre Waehrungen vom Gold
      zu entkoppeln, um die immensen Kosten der industriellen Kriegfuehrung
      finanzieren zu koennen. Als das staatliche "deficit spending" auch in
      Friedenszeiten die Konjunktur ankurbeln musste, wurde bald deutlich, dass
      es kein Zurueck zum Gold geben konnte. Keynes, der diese Entwicklung
      theoretisch legitimierte, nannte es ein "barbarisches Metall". Solange
      der Dollar als neues Weltgeld noch goldkonvertibel war, blieb das globale
      Finanzsystem trotzdem wenigstens indirekt durch das Gold verankert.
      Seitdem aber 1973 diese letzte Bremse ausgebaut wurde, konnte sich nicht
      nur die Staatsverschuldung, sondern auch die Spekulation in einer frueher
      nicht fuer moeglich gehaltenen Dimension von der Realoekonomie entkoppeln.

      Damit ist aber die grundsaetzliche Logik des Systems keineswegs
      ausgehebelt, die das Wachstum des Geldkapitals an die Substanz der
      (kapitalproduktiven) "Arbeit" bindet. Der Absturz der scheinbar
      verselbstaendigten Akkumulation von Geldkapital findet dann eben aus
      einer groesseren (inzwischen geradezu stratosphaerischen) Hoehe mit umso
      schlimmeren Folgen statt. Das Karussell der Boersen kann sich nur
      weiterdrehen, solange immer neue Liquiditaet nachfliesst. Sobald der
      Strom zusaetzlicher Liquiditaet versiegt, kommt der grosse Krach und die
      irreale Wertschoepfung verdampft. Die Liquiditaet kann aber niemals
      unbegrenzt sein; es sei denn, der Staat wuerde Geld drucken und es seinen
      Buergern schenken.

      Woher stammt die riesige Liquiditaet, die gegenwaertig die
      Aktienmaerkte fuettert? Im wesentlichen handelt es sich um den
      historischen Ueberhang der Geldvermoegen aus der Zeit des
      "Wirtschaftswunders" nach dem 2. Weltkrieg in den westlichen Laendern.
      Gemessen an der staatlichen und privaten Verschuldung muesste dieses
      Geldkapital gesellschaftlich laengst entwertet sein, aber scheinbar
      handelt es sich um die positive Groesse von realen Guthaben. Es sind die
      von der Hausse geblendeten Generationen der 30-50jaehrigen, die als "neue
      Erben" diese Gelder heute aus den konservativen Anlageformen ihrer Eltern
      und Grosseltern (Sparguthaben, Staatsanleihen etc.) in die Risiko-Maerkte
      der Aktienspekulation umschichten. In Deutschland zahlten kleine Anleger
      allein im ersten Halbjahr 1997 mehr als 15 Milliarden DM in Aktienfonds
      ein; nach Schaetzungen koennen insgesamt etwa 2000 Milliarden DM
      Geldvermoegen eingesetzt werden. Auch in den USA flossen den Aktienfonds
      in den ersten sieben Monaten 1997 fast 140 Milliarden Dollar zu. Das sind
      die wichtigsten Treibsaetze der globalen Spekulationsblase von der
      Wallstreet bis zu den dubiosen hinterwaeldlerischen Wettbueros. Unbewusst
      schieben die "neuen Erben" auf diese Weise das Geldkapital der privaten
      Vermoegen genau in den Ofen, wo es am schnellsten verbrannt werden kann.
      Denn die Entwertung von Staatsanleihen und Sparguthaben waere ein
      gefaehrliches Politikum, die Entwertung von spekulativen Aktienwerten
      dagegen geht "wie von selbst" und niemand kann dabei den Staat anklagen.

      In den vergangenen 15 Jahren versuchten die Staaten, mit einer
      neoliberalen Politik auf die heraufdaemmernde Systemkrise zu antworten.
      Gerade durch diese Politik einer Kombination von drastischen staatlichen
      Sparmassnahmen, Zinssenkungen und Deregulierung der Finanzmaerkte haben
      sie jedoch mitgeholfen, die gegenwaertige paradoxe und irregulaere
      Situation herbeizufuehren. Waehrend durch die permanenten Einsparungen
      die stagnative und deflationaere Tendenz der Realoekonomie ueberall
      verstaerkt wurde, oeffnete gleichzeitig die Deregulierung alle Schleusen
      fuer die Spekulation, die durch das historisch niedrige Zinsniveau in den
      westlichen Industrielaendern einen zusaetzlichen Hebel bekam. Weil die
      Inflation nur in Preisen der Realoekonomie berechnet wird, scheint sie
      ploetzlich verschwunden zu sein. In Wirklichkeit "parkt" das
      inflationaere Potential in den gigantisch aufgeblaehten Finanzmaerkten,
      wo es nicht als reale Nachfrage erscheint.

      Die Staaten koennen jedoch nicht ewig auf dem gegenwaertigen
      niedrigen Zinsniveau sitzenbleiben. In dem Masse, wie sie selber dringend
      zusaetzliches "Fresh Money" benoetigen, muessen sie die Zinsen anheben.
      Damit treten sie notgedrungen in Konkurrenz zu den Aktienmaerkten, der
      Hebel fuer die Vervielfachung der Spekulation durch billiges Geld
      zerbricht und die riesige Masse fauler Kredite kann nicht laenger
      versteckt werden. Es ist auch schon absehbar, wo das unvermeidliche
      Desaster seinen Ausgangspunkt nehmen wird, naemlich aller
      Wahrscheinlichkeit nach in den entzauberten Oekonomien Ostasiens. Wenn
      von dort aus das allgemeine Zinsniveau nach oben gedrueckt wird, koennte
      das globale Kartenhaus zusammenbrechen.

      -----------
      Literaturhinweis:
      Robert Kurz: Die Himmelfahrt des Geldes - Strukturelle Schranken der
      Kapitalverwertung, Kasinokapitalismus und globale Finanzkrise, in KRISIS
      16/17, Horlemann Verlag
      Avatar
      schrieb am 27.02.01 22:19:55
      Beitrag Nr. 2 ()
      Robert Kurz
      Bärentanz des Weltsystems

      Der Bulle, das Symbol der Hausse an der Boerse, zieht den Schwanz ein;
      jetzt gibt der Baer den Ton an, das Symbol der Baisse. Und ausgerechnet
      der russische Baer ist es, der nun zum weltwirtschaftlichen Veitstanz
      aufspielt.

      Mit Schweissperlen auf der Stirn stammeln die schlotternden
      Schreibtischtaeter des kapitalistischen Staatsoptimismus etwas von "rein
      psychologisch" bedingter Panik; die Russenkrise koenne "uns" doch
      eigentlich wenig anhaben, weil dorthin nur zwei Prozent der deutschen
      Exporte gehen und die westlichen Oekonomien kerngesund seien. Russland
      muesse endlich seine marktwirtschaftlichen Reformen umsetzen, auch um den
      Preis sozialer Haerten.

      Nach solchen - von nackter Angst belegten - Stimmen triumphiert jene
      gewohnheitsmaessige Frechheit, die dazu gehoert, von einem Land
      "schmerzhafte Einschnitte" zu verlangen, in dem sich ein Grossteil der
      Bevoelkerung bereits aus Schrebergaerten und primitivem Tauschhandel
      ernaehrt, waehrend die halbe Armee auf der Strasse bettelt. Dieser
      glorreiche Zustand ist nichts anderes als das Resultat der bisherigen
      marktwirtschaftlichen Oeffnung, und jeder weitere Schritt nach Westen
      wird zur gesellschaftlichen Explosion fuehren.

      Die Tatsachen beweisen nur eines: dass Russland ebensowenig wie die
      meisten anderen Regionen der Erde in das kapitalistische Weltsystem zu
      integrieren ist. Dieser Versuch konnte nur fuer wenige Jahre durch ein
      finanzkapitalistisches Simulationsmodell vorgegaukelt werden. Aehnlich
      wie in Asien und Lateinamerika suggerierte die Anbindung des Rubel an
      einen fixierten Dollarkurs die Stabilitaet des Geldwerts in einer vom
      Weltmarkt bereits zerstoerten Realoekonomie und zog kurzfristiges
      spekulatives Geldkapital an. Die unzurechnungsfaehige Jelzin-Kamarilla
      wurde mit Milliarden gefuettert, um die Illusion eines kapitalistischen
      Junior-Partners im Osten zu naehren.

      Diese Milliarden sind nicht bloss deswegen auf Schweizer Konten gelandet,
      weil die Mafia-Oligarchie der "jungen Marktwirtschaft" so niedertraechtig
      ist, wie sie eben ist, sondern weil es in Russland wie fast ueberall
      keine ausreichend "rentablen" Anlagemoeglichkeiten nach kapitalistischen
      Standards mehr gibt. Der Westen scheitert ueberall an seinen eigenen
      oekonomischen Kriterien, die sich als verrueckt erweisen.

      Es ist klar, dass Russland kurz vor seinem zweiten, diesmal
      marktwirtschaftlichen Zusammenbruch steht. Im Unterschied zu Mexiko 1995
      und Suedostasien 1997 geschieht dies jedoch nicht vor, sondern nach den
      Rettungsversuchen des IWF. Dieses Desaster ist keineswegs bloss das Pech
      der Russen und betrifft auch nicht allein die Peanuts von ein paar
      lumpigen Milliarden realwirtschaftlicher Exporte und Hermes-Kredite.

      Um die Realwirtschaft geht es sowieso schon lange nicht mehr. Der
      russische Offenbarungseid hat nicht nur ueber Nacht mindestens 50
      Millarden Dollar westliches spekulatives Geldkapital in Rauch aufgeloest,
      sondern bringt das gesamte Kartenhaus des globalen Kasinokapitalismus ins
      Wanken. Die unaufhaltsame Abwertung des Rubel potenziert den
      Abwertungsdruck auf Asien ebenso wie auf Lateinamerika und beschleunigt
      die Flucht des Geldkapitals. Jetzt handelt es sich nicht mehr - wie
      bisher - um weltregional begrenzte Faelle, sondern um einen globalen
      Eskalationsprozess mit wechselseitigen Rueckkoppelungen, der auch noch
      die resttlichen Hoffnungstraeger ruiniert.

      Damit wird nur sichtbar, dass die kapitalistische Expansion irreal
      geworden ist. Insgesamt hat die Finanzmarktkrise seit dem letzten Herbst
      schaetzungsweise mehr als eine Billion Dollar Geldkapital vernichtet -
      und wenn die Boersen nicht mehr hochkommen, muessen diese Verluste
      demnaechst realisiert werden. Schien es nach dem Einbruch in Suedostasien
      noch so, als koenne die aus dem "emerging markets" fliehende Liquiditaet
      die westlichen Boersen zu neuen Hoehenfluegen fuehren, so ist nun auch
      diese Illusion geplatzt. Der Crash mitten im Sommerloch hat bereits 20
      Prozent der fiktiv aufgeblaehten Aktienwerte abgeschmolzen, und der
      heisse Herbst steht erst noch bevor.

      Die Russlandkrise bringt es an den Tag, auf welch toenernen Fuessen das
      westliche System selber steht. Das betrifft nicht zuletzt die letzte
      Weltmacht an der Spitze: 1998 wird das jaehliche Handelsdefizit der USA
      die Rekordsumme von 240 Milliarden Dollar erreichen. 30 Prozent des
      US-Konsums speisen sich bereits aus dem breit gestreuten fiktiven Kapital
      der aufgeblaehten Aktienwerte (soviel zur "robusten Konjunktur"). Nun
      geht der Dollar gerade wegen der neuen Krisendimension in die Knie.
      Werden aber die USA in den Strudel hineingezogen, dann gibt es kein
      Halten mehr, und die zwangsweise Reduktion des abgehobenen Finanzkapitals
      auf die dramatisch geschrumpfte realoekonomische Basis treibt eine
      Weltwirtschaftskrise hervor, weitaus schlimmer als 1929.

      Im Unterschied zu Mexiko und Indonesien wird der russische Zusammenbruch
      nicht bloss Folgen auf den Finanzmaerkten haben. Die atomar bewaffnete
      Mafia ist unberechenbar, und das Ruestungspotential des kollabierenden
      Russlands sickert in die sprunghaft sich ausweitenden Konfliktregionen
      ein, die der oekonomische Flaechenbrand zuruecklaesst.

      Die Hybris einer "unipolaren" neuen Weltordnung mit einheitlichen
      wirtschaftsliberalen Spielregeln unter Fuehrung der USA hat sich
      endgueltig blamiert und droht im Inferno zu zu enden. Jetzt waere die
      grosse sozialistische Alternative der Linken gefragt, die den unhaltbaren
      buerokratischen Staatssozialismus radikal kritisch aufgearbeitet hat.
      Aber leider haben sie alle auf Marktwirtschaft und Rentabilitaet, auf
      "freedom and democracy" geschworen. Wie peinlich.

      aus "Neues Deutschland" vom 4.Sept. 98
      Avatar
      schrieb am 27.02.01 22:29:39
      Beitrag Nr. 3 ()
      Lebenskünstler leben von den Zinsen eines nicht vorhandenen Kapitals.
      Avatar
      schrieb am 27.02.01 22:35:43
      Beitrag Nr. 4 ()
      ZITAT :Ein Gemuetsmensch und Entertainer
      der grossen Boersen-Party wie der aus Deutschland stammende New Yorker
      Fonds-Manager Heiko Thieme rechnet die wundersame Geldvermehrung schon
      mal fuer die naechsten 100 Jahre hoch: Im gesegneten Jahr 2097 sieht er
      den Dow Jones bei 750.000 und den Dax bei 400.000 Punkten.

      Die Kokain-Euphoriker des abgehobenen Finanzkapitalismus verlieren
      alle Massstaebe:laugh:
      Avatar
      schrieb am 27.02.01 23:09:51
      Beitrag Nr. 5 ()
      US-Konjunkturschwäche reißt EU-Wachstum mit

      Wie der zuständige EU-Kommissar Pedro Solbes heute in Brüssel verlauten ließ, wird das absinkende US-Wirtschaftswachstum die Wirtschaft in der Eurozone um mindestens 0,2% in diesem Jahr ebenfalls abschwächen.

      Gegenüber den erwarteten 3,2% EU-Wirtschaftswachstum, die im November vorausgesagt worden waren, sollen es jetzt bestenfalls noch 3% werden, was aber immer noch ein ansehnliches Wachstum wäre.

      Die Inflation sei ebenfalls im Griff, sie solle die 2,2%-Hürde in diesem Jahr nicht übersteigen.
      Insgesamt seien die Risiken gering.

      Dennoch scheinen es die Märkte nicht zu schaffen, sich von den US-Leitbörsen abzukoppeln. Insbesondere der deutsche Neue Markt scheint jede Nasdaq-Bewegung über- oder unterproportional nachzubilden, was viele Analysten für ungerechtfertigt sehen, da es hierzulande vergleichsweise wenige Gewinnwarnungen gegeben habe.




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      Avatar
      schrieb am 27.02.01 23:11:03
      Beitrag Nr. 6 ()
      Bush: USA werden in zehn Jahren noch 800 Mrd USD Schulden haben
      Washington (vwd) - Nach dem aktuellen US-Haushaltsplan sollen nicht wie von vielen gefordert alle Schulden getilgt werden, wahrscheinlicher ist vielmehr, dass in zehn Jahren noch rund 800 Mrd USD an Verbindlichkeiten übrig bleiben. "Es macht keinen Sinn Schulden vorzeitig zu tilgen und für die Ablösung auch noch zusätzlich Geld zu bezahlen", sagte der US-amerikanische Präsident George W. Bush nach einem Treffen mit dem kolumbianischen Präsidenten Andres Pastrana. Er glaube ebensowenig, dass durch den Verbleib von Verbindlichkeiten der Druck zu Zinserhöhungen zunehme. Die Zinsen würden im Gegenteil mehr von der Geldpolitik beeinflusst.


      vwd/DJ/27.2.2001/mkr

      27. Februar 2001, 21:51
      Avatar
      schrieb am 27.02.01 23:13:20
      Beitrag Nr. 7 ()
      Heard in New York am Dienstag

      Am Dienstag Morgen wurde der mit Spannung erwartete Consumer Confidence Index mit 106,8 veröffentlicht. Dies ist der niedrigste Stand des Index, welcher in Umfragen das Konsumentenvertrauen mißt und nun zum fünften Male hintereinander sank, in 4 1/2 Jahren. Erwartet waren 110,0 (Vormonat: 115,7). So erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Zinssenkung vor dem nächsten regulären Meeting der FOMC, da 2/3 der US-Volkswirtschaft vom privaten Konsum abhängen. So wiederholte den auch Wayne Angell, welcher bis 1994 ein Mitglied des FOMC war und nun beim amerikanischen Investmenthaus Bear Sterns beschäftigt ist, seine Schätzung, daß Alan Greenspan mit 80% Sicherheit schon von dem nächsten FOMC-Meeting (20.März) die Zinsen senken wird. Die FED wolle dem Geschehen nicht hinterher hinken. Am Mittwoch wird Alan Greenspan vor dem House Financial Services Committee Aussagen zur Geldpolitik der FED, dem gegenwärtigen volkswirtschaftlichen Zustand und Ausblick machen. Diese sollten den Aussagen Greenspans vom Januar ähneln.
      Wie am Dienstag aber bekannt wurde, ist der FED-Chairman dabei die Rede in Teilen umzuschreiben. Dies ist in über 10 Jahren nicht vorgekommen und könnte unterstreichen, daß der FED-Chairman die Entschlossenheit der Zentralbank unterstreicht, eine Rezession mit allen Mitteln zu verhindern oder abzumildern. So ist eine klare Stellungnahme Alan Greenspans zu erwarten. Unterstützung hierfür erhalt die FED durch die auch am Dienstag veröffentlichten Durable Goods- Zahlen (langlebige Wirtschaftsgüter, minus 6% anstatt minus 2,4%), welche vor allem wegen niedrigerer Orders im Transportbereich fielen. Wie jeder in den letzten Wochen verfolgen konnte, hatte Airbus eine Menge Aufträge von Fluggesellschaften, welche bis jetzt ausschließlich Boeing –Flieger benutzt hatten, „gelandet“.
      New Home Sales (neue Haus-/Wohnungskauf) fielen um 10.9% - der niedrigste Stand seit 7 Jahren. Die Zinssenkungen seit Anfang des Jahres konnten sich hier jedoch noch nicht positiv bemerkbar machen. Auch stiegen die Bauanträge im Januar um 14,4% auf ein Elfjahreshoch. Es irritiert auch weiterhin, daß sich das Ausgabeverhalten der Amerikaner bis jetzt nicht geändert hat, die Ausgaben der US-Haushalte sogar angestiegen sind. Dies bemerkte auch FED Vize Chairman Roger Ferguson. Man müßte fast glauben, was keiner sich traut zu sagen: Mit seiner eingeleiteten, aggressiven Zinssenkungpolitik gelingt es Alan Greenspan, das Softlanding doch herbei zu führen! Oder?

      Die Hoffnung auf eine baldige, starke Zinssenkung könnte den US-Aktienmarkt positiver beeinflussen, als eine Zinssenkung selbst. Während der Dow Jones in einer Handelsspanne von 10.300 - 11.000 Punkten verweilt, ist der NASDAQ innerhalb von 2.150-2,550 Punkten weiter sehr volatil. Während der US-Aktienmarkt am Dienstag mehr Angst als Vaterlandsliebe hatte, stellte sich der US-Rentenmarkt auf eine Zinssenkung ein. Die Renditen fielen in allen Laufzeitbereichen. Der 30jährige Longbond beendete den Handelstag mit einem satten Kursgewinn mit einer Rendite von 5,36% (Vortag 5,43%). So schloß der techlastige NASDAQ mit einem Verlust von 100 Punkten (4,36%) bei einem Zählerstand von 2.207 Punkten, nahe dem Tagestiefststand des Indix. Der Dow Jones schloß mit einem Minus von nur 5 Punkten bei 10.636, hatte er doch im Handelsverlauf schon mit 82 Punkten im Minus notiert.

      Das Warten auf den FED-Chairman wird uns am Dienstag Abend durch eine Rede von Präsident Bush verkürzt, in welcher dieser dem Kongress seine Haushaltsplanung und seinen Einkommenssteuersenkungsvorschlag ($1,6 Billionen über 10 Jahre) vorstellen wird. Eine schnelle Einigung mit den Demokraten ist im Moment nicht in Sicht, da diese befürchten, die Reaganjahre würden sich wiederholen und von hohen Haushaltsdefiziten gefolgt. Deshalb schlagen die Demokraten eine Steuersenkung von „nur“ $900 Mrd. vor, welche niedrige Einkommen mehr begünstigt als dies der Bushplan tut. Da es aber unter den Demokraten auf jeden Fall mindestens einen Umfaller geben wird, ist zu erwarten, daß Bush sein Steuerpaket (nach vielleicht leichten Modifikationen) durchbekommen wird. Von den Senatoren stehen viele in 2 Jahren zur Wiederwahl, und gegen eine Steuersenkung gestimmt zu haben gilt als recht unamerikanisch. In den letzten Umfragen von ABC-TV bekundeten nur 22% der Befragten, daß eine Steuersenkung die Hauptpriorität der Regierung sein sollte. In den „Job Approval“ Umfragen sagten zuletzt 55% der Amerikaner, daß Präsident Bush einen guten Job mache. Dies ist zwar der niedrigste Wert eines US-Präsidenten in den letzten 50 Jahren. Dies sollte sich in den nächsten Monaten jedoch leicht verbessern, während George W. Bush weiter an seinen Medienauftritten arbeitet.

      Interessant war zu beobachten, daß Sun Microsystems Inc. (SUNW), nachdem es am 21.02.01 bei $19 5/8 schloß, in den letzten 3 Handelstagen immer wieder unter die $20 Marke fiel, aber jedes Mal darüber schließen konnte. SUNW hatte letzte Woche bekannt gegeben, sie würden eigene Aktien bis zu einem Gegenwert von $1,5 Mrd. am Markt zurückkaufen. Dieser Rückkauf schien schon begonnen zu haben und die Aktie zu unterstützen. Zum Handelsschluß half dies jedoch wenig und so fiel SUNW mit dem NASDAQ. Sun Microsystems schloß bei $19 13/16.


      Gruß , Jerry


      Bei den hier aufgeführten Ideen und Beobachtungen handelt es sich wie immer einzig und allein um meine eigenen subjektiven Einschätzungen des Marktes und einzelner Werte.


      Gerhard Summerer kann auf über 8 Jahre New York Erfahrung zurückblicken und ist derzeit im Wertpapierhandel tätig; auch der Devisenhandel gehörte schon zu seinem Aufgabenbereich.
      In seiner Kolumne „Heard in New York“ gibt er aus seiner persönlichen Sicht einen Einblick in die New Yorker Börsenwelt und was die Händler und Investoren dort bewegt. Wegen seiner profunden Kenntnisse des Marktes ist Gerhard Summerer auch im deutschen Fernsehen (z.B. ARD Tagesschau, Bloomberg TV) ein immer wieder begehrter Interviewpartner.

      27.02.01 22:50 -hv-
      Avatar
      schrieb am 28.02.01 09:29:17
      Beitrag Nr. 8 ()
      up
      Avatar
      schrieb am 28.02.01 10:55:24
      Beitrag Nr. 9 ()
      Fiktives Kapital

      Norbert Trenkle und Robert Kurz
      Kapital ist einerseits definiert als Vernutzung ("Ausbeutung") von Lohnarbeit, andererseits als Verwandlung von Geld in mehr Geld. Fiktives Kapital entsteht dann, wenn der zweite Teil der Definition den ersten nicht mehr enthaelt, und zwar nicht etwa als bloss subjektive Einbildung, sondern als gesellschaftliche Realitaet. Die MOEGLICHKEIT des fiktiven Kapitals ist gegeben mit dem ZINSTRAGENDEN KAPITAL des Kreditsystems; dieses ist Kapital, aber nicht direkt, sondern indirekt:sozusagen "Realkapital in spe". Es wird nicht direkt als Produktivkapitalbenutzt, sondern an anderes Kapital fuer diesen Zweck verliehen, wofuerin Gestalt des ZINSES ein Anteil vom Mehrwert bzw. Profit des Realkapitalsabfaellt. Auf diese Weise existiert neben den kapitalistischen Waren- undArbeitsmaerkten noch ein Finanz- oder Geldkapital-Markt. Allerdings kanndurch die Differenz von produktivem und zinstragendem Kapital der ganze Prozess auch auseinanderfallen und eben "fiktiv" werden, wenn daszinstragende sich pseudo-unabhaengig vom produktiven Kapital ganz fuersich allein vermehren soll.

      Denn ein Kredit ist ja nichts weiter als Vorschuss auf zu produzierendenWert. Solange er dazu verwendet wird, Investitionen im Produktionsbereichvorzufinanzieren, die die Vernutzung lebendiger Arbeitskraft, alsoMehrwertproduktion nach sich ziehen, wird er im Sinne der Verwertung"richtig" verausgabt. Wird ein Kredit aber fuer blossen Konsum oder fuerInfrastrukturmassnahmen, also nicht wertmaessig produktiv verausgabt oder erweisen sich die getaetigten Investitionen vom Standpunkt desWeltmarkts aus als unproduktiv, weil sie nicht zu konkurrenzfaehigerProduktion fuehren, dann sind die im Kredit vorgeschossenen Werteverpulvert. Die anfallenden Zinszahlungen und Tilgungen koennen dann nichtaus den Ertraegen der mit diesem Kredit getaetigten Investitionengezahlt, sondern muessen aus einer anderen Quelle gedeckt werden.

      Der vergebene Kredit wird zu "fiktivem Kapital". Er steht in den Buechernder Bank und verzinst sich im guenstigsten Falle auch; es koennte soerscheinen, als wuerde er sich "ganz normal" im Produktionsprozessverwerten. Tatsaechlich aber fehlt diesem Kredit jegliche produktiveGrundlage. Es stehen keine Fabriken, Maschinen oder Arbeitsloehne dahinter,sondern lediglich die pure Verpflichtung des betreffenden Schuldners(Regierung, Unternehmen oder Privatperson), den Kredit zu "bedienen".Der Schuldendienst wird, soweit ueberhaupt moeglich, aus Einnahmequellengeleistet, die mit dem Kredit in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen(und eigentlich "Wert" fuer ganz ANDERE Zahlungszwecke darstellenmuessten, wodurch das Problem nur verschoben wird) oder gar aus neuenKrediten.

      Natuerlich muss die Unhaltbarkeit dieses Zustands frueher oder spaeterauffliegen, aber bis dahin koennen eine ganze Menge weitere Verkettungendes fiktiven Kapitals aufgebaut werden, solange der Kredit noch- scheinbar - "bedient" wird. Wenn beispielsweise als "Guthaben" verbuchteausstehende Zins- und Tilgungszahlungen von in Wirklichkeit schonfiktivem Kapital im Vorgriff auf ihren unterstellten zukuenftig realenEingang wieder beliehen und damit Konsum- oder Investitionsguetereingekauft werden, so sind auch diese doch anscheinend ganz realenProduktionen letztlich "ungueltig", weil die dafuer verausgabten Geldernur scheinbar existieren. Sobald schliesslich das ganze Kartenhaus desfiktiven Kapitals zusammenbricht, werden in einer Kettenreaktion alledarauf aufgebauten Zahlungsverpflichtungen in die Luft gesprengt und dasmittlerweile den gesamten Globus umspannende "Kettenbrief"-Systementpuppt sich als grandiose Publikumsverarschung.

      N.T./R.K.
      Avatar
      schrieb am 28.02.01 10:59:16
      Beitrag Nr. 10 ()
      Robert Kurz
      Euphorie um die New Economy

      Was linke Antikrisentheoretiker, Antideutsche und deutsche Kleinanleger nicht wissen wollen, weiß inzwischen jeder Banklehrling: das Weltkapital sitzt auf der größten Finanzblase aller Zeiten. Natürlich wagt es trotzdem nur eine kleine Minderheit von Bankern und Finanzanalysten, die Seifenblase der von jeder ökonomischen Realität abgehobenen Börsenkapitalisierung auch eine Seifenblase zu nennen. Die große Mehrheit der Akteure im globalen Kasinokapitalismus, der Lobby-Analytiker und der ideologischen Wunderheiler ist wie immer berufsoptimistisch; und je mehr der Kapitalismus seine eigenen Geschäftsgrundlagen zerstört, desto zuversichtlicher werden sie. Aber ganz ohne Verweis auf einen substantiellen ökonomischen Inhalt im Sinne zukünftiger Kapitalverwertung kann selbst die luftigste finanzkapitalistische Phantasie nicht auskommen. Die enorme Börsenkapitalisierung muß als Vorbote eines ebenso enormen realen Wachstumsschubs vorgegaukelt werden. Dabei wäre dann freilich auch genauer zu zeigen, welcher Sektor der Produktion es denn eigentlich sein soll, der mit seinem sachlichen Gehalt den neuen säkularen Aufschwung tragen wird.
      Peinlicherweise sind die geisterhaften finanzkapitalistischen Vorboten inzwischen schon ein wenig arg lange unterwegs, ohne daß eine neue sachliche Gestalt so recht sichtbar geworden wäre, in der sich das Kapital abermals im großen Maßstab realökonomisch inkarnieren könnte. Denn schon seit den 80er Jahren werden die mit ständiger Beschleunigung steigenden Börsenkurse durch den Hinweis auf neue Inhalte der Produktion gerechtfertigt, die angeblich das ersehnte Potential für den Durchbruch zu neuen Ufern der realen Kapitalverwertung in sich bergen. Leider mußten diese Inhalte jedesmal nach ein paar Jahren ausgewechselt werden, weil sich die vollmundigen Voraussagen nicht bewahrheitet hatten. So war die Produktion von Mikrochips und Personalcomputern nicht in der Lage, den Abbau von Beschäftigung und realer Wertschöpfung zu kompensieren, der von eben diesen neuen mikroelektronischen Technologien durch die damit verbundenen Rationalisierungswellen verursacht wurde. Ebensowenig erfüllten sich die Hoffnungen auf eine "postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft": Bei den industriebezogenen Diensten wurde das Wachstum durch die "Verschlankung" der industriellen Kapazitäten begrenzt und bei den sogenannten Humandienstleistungen durch den Abbau von Massenkaufkraft und Staatskonsum. So blieb auch in dieser Hinsicht die Erwartung eines großen Schubs von rentablen Arbeitsplatz- und Erweiterungs-Investitionen unerfüllt.
      Inzwischen sind nicht nur die 80er, sondern auch die 90er Jahre dahingeflossen und es wird allmählich brenzlig. Wenn die ökonomisch körperlose, aufgedunsene Geldseele der Börsenkapitalisierung nicht bald glaubhaft in einen neuen "Körper" schlüpfen kann, droht sie sich ins Nichts aufzulösen. Not macht erfinderisch, und so mußte wenigstens ein neuer vielversprechender Name gefunden werden, um das Platzen der Blase noch einmal zu verzögern. In diesem Sinne machte seit 1999 ein wohlklingender Begriff Blitzkarriere: "New Economy". Von US-Finanzanalysten schon Mitte der 90er Jahre ausgebrütet, hat diese Wortschöpfung innerhalb kürzester Zeit einen Siegeszug rund um die Welt angetreten und wird in allen Medien besinnungslos heruntergebetet. Worin soll diese ominöse "New Economy" ihren Gehalt haben? Die Rede ist von "Hochtechnologien". Hatten wir das nicht schon mal? Der Name ist irreführend, denn schließlich wird High-Tech auch im gesamten Spektrum der alten Industrien und Dienstleistungen eingesetzt. Was jetzt aber endlich eine "New Economy" kreieren soll, ist schlicht das Internet; genauer gesagt: spezifische Techniken und Dienstleistungen für das Internet und im Internet.
      Mit einem Wort: Das Internet soll jetzt den letzten realökonomischen Hoffnungsträger abgeben, um dem fiktiven Geldkapital der aufgeblasenen Börsenkapitalisierung wenigstens eine Art virtuellen Körper zu verleihen. Was natürlich heißen müßte, daß via Internet ein säkularer Schub von Beschäftigung und realer Kapitalverwertung kommt. Die schon gescheiterten Paradigmen von "neuer Technologie" und "Dienstleistungsgesellschaft" werden also in einem zweiten Versuch zusammengemixt und auf das Internet projiziert. Das kommende Wirtschaftswunder soll sich im "World Wide Web" abspielen, die realökonomische Wachstumsdynamik paradoxerweise dem virtuellen elektronischen Raum entspringen. Und dieser neue Wunderglaube wird in noch schrilleren Tönen als alle vorhergehenden propagiert. Schon sehen die Chefeuphoriker aller Länder einen angeblichen Internetkapitalismus mit gewaltigen Potentialen heraufdämmern, in dem sich ein "Total Webbased Management" über den "Mehrwert auf der Webseite" (so die Web-benebelte Wirtschaftswoche) freut.
      "Alle müssen ins Internet", befand daher der deutsche Medienkanzler Schröder anläßlich der Eröffnung der Computermesse Cebit im Februar 2000. Die "linke" grüne Oberrealistin Renate Künast hechelte gleich hinterher und forderte in einem TV-Interview forsch, junge Frauen weniger als Altenpflegerinnen, sondern stattdessen "für den E-Commerce" auszubilden. Internetkapitalismus und Internetfeminismus: was für ein nettes Paar. Und auch der britische Strahlemann Blair hat schon wieder mal eine Vision: Er sieht die neoliberalen Blütenträume von "New Labour" jetzt im Web reifen und "will Großbritannien zu einer zentralen Macht im Internethandel machen" (Handelsblatt v. 13.3.2000). Politik und Medien reagieren auf die neuen Stichworte wie Pawlowsche Hunde, denn für sie gilt erst recht die Devise: Dabeisein ist alles, Mitmachen um jeden Preis - und je besinnungsloser, desto besser.
      Die Frage ist nur: Liegt der Option des kommenden Internetbooms überhaupt irgendein sachlicher ökonomischer Gehalt im Sinne der Kapitalverwertung zugrunde? Zusätzliche Ausrüstungen für das Internet werden auf der Ebene der materiellen Industrieproduktion kaum ein gesamtwirtschaftlich auch nur bemerkbares zusätzliches Realwachstum generieren. Denn die Hardware für eine Breitband-Telekommunikation ist bereits vorhanden (sie wurde ganz ohne Beschäftigungsboom geschaffen); und die Innovationen für einen direkten Internet-Anschluß oder überhaupt eine gesamtmediale Integration können weder technologisch noch ökonomisch ein neues Zeitalter elektronischer Massenproduktion mit dazugehöriger Massenbeschäftigung tragen. Letzter Schrei: Handys, mit denen man im Kaufhaus per Online-Banking bezahlen kann. Das Produktions- und Beschäftigungsvolumen derartiger Erweiterungen von längst schon eingeführten Technologien ist viel zu gering, um den Erwartungen eines neuen säkularen Internetkapitalismus gerecht zu werden.
      Die spezifischen Hilfsmittel für die Nutzung des Internet bestehen sowieso weniger aus zusätzlicher Hardware, sondern hauptsächlich aus neuer Software: Die "User" benötigen diverse Suchmaschinen, um im globalen Netz surfen und Informationen herausfiltern zu können; für alle möglichen Interessen werden spezielle Zugänge (sogenannte Portale) angeboten. Der Begriff der Maschine ist dabei allerdings nur metaphorisch zu verstehen, denn es handelt sich nicht um materiell bearbeitete Produktionsmittel, sondern um spezifische Computerprogrammierungen. Das gilt auch für die geschäftliche Präsentation, für Werbung usw. im Internet durch Home-page-Gestaltung (Web-Design). Das Angebot von Software in dieser Hinsicht mag rapide zunehmen. Aber auf diese Weise werden keine entscheidenden neuen Beschäftigungs- und damit Wertschöpfungspotentiale herbeigezaubert. Denn die Kreation von Software ist extrem beschäftigungsarm und kann von einer Handvoll Spezialisten betrieben werden. Vor allem aber kann die massenhafte Reproduktion dieser Software nicht den Boom der früheren Industrien wiederholen. Folgte der Konstruktion von Autos oder Waschmaschinen noch eine ungeheuer beschäftigungsintensive materielle Produktion nach, so wird die selber schon ohne nennenswerte zusätzliche Wertschöpfung produzierte Software schlicht durch Mausklicks kopiert. Da werden nicht Millionen von zusätzlichen "Händen" benötigt.
      Weder die Hardware- noch die Software-Hilfsmittel rechtfertigen die Euphorie einer kapitalistischen "New Economy". Wenn überhaupt, dann müßte das neue reale Wachstumspotential im Internet selber zu finden sein. Aber die Möglichkeiten einer virtuellen Produktion von kapitalistisch verwertbaren Gütern sind eng begrenzt. Immaterielle Waren ohne nennenswerte materielle Investitionen können keine reale Wachstumsdynamik auslösen. Was als Option übrig bleibt, ist also hauptsächlich die Kommerzialisierung des Internet: Das vielbeschworene E-Business oder Net-Business kann allenfalls als jener E-Commerce in Erscheinung treten, auf den die gar nicht mehr besonders grünen Regierungs-Realos so begierig schielen. Aber genau das ist eine nur allzu durchsichtige Milchmädchenrechnung. Denn der bloße Handel bleibt immer eine nachgeordnete Erscheinung der realen Produktion. Wenn nicht ausreichend kapitalistisch produktive Einkommen erzeugt werden, muß auch der Kommerz erlahmen, der niemals aus sich selbst heraus ökonomisch reproduktionsfähig ist. Für die Ausweitung des E-Commerce gilt insofern dasselbe wie für die Verlängerung oder völlige Freigabe der Öffnungszeiten im Einzelhandel: Die Leute haben auf diese Weise natürlich nicht mehr Geld in der Tasche, sodaß nur Umschichtungen der Umsätze stattfinden. Gesamtwirtschaftlich handelt es sich bestenfalls um ein Nullsummenspiel.
      Ohnehin sind dem Einzelhandel im Internet enge Grenzen gesetzt, denn man kann zwar virtuell einkaufen, aber natürlich nicht virtuell konsumieren (jedenfalls nicht die Masse der durchaus handfesten Produkte). Internet-Shopping und virtuelle Auktionshäuser, quasi elektronische Flohmärkte, mögen als Modeerscheinung einen gewissen Zulauf haben; ihre Sinnfälligkeit bleibt jedoch auf wenige Spezialprodukte (z.B. antiquarische Bücher, seltene Sämereien etc.) beschränkt. Für die überwältigende Mehrzahl der Konsumgüter, die man nicht suchen muß, sondern an jeder Ecke erwerben kann, ist E-Commerce schlichter Blödsinn. Was man per Mausklick gekauft hat, ohne mehr als den Finger krumm zu machen, muß schließlich "real" und kostenträchtig abgeholt oder angeliefert werden - und worin soll dann eigentlich der große Vorteil von Shopping per Bildschirm bestehen? Im Grunde genommen haben wir es bloß mit einer hochgestochenen Umbenennung des guten alten Versandhandels zu tun. So startete der Otto-Versand Anfang 2000 den ersten bundesweiten Lieferdienst für Lebensmittel im Internet: bei einem Mindestbestellwert von 30 Mark fallen 8,95 DM Liefergebühr an. Angesichts solcher Kostenrelationen wird es die Masse der Normalverbraucher wohl notgedrungen vorziehen, sich doch lieber in die Schlange an der Supermarktkasse einzureihen. Und manche, die in einer Sekunde Echtzeit im Web eingekauft haben, durften sich dann schon mal vier Wochen Echtzeit auf das Eintreffen ihres jeweiligen Glücksgutes freuen.
      Die lästige "erste Realität" steht auch im Hintergrund der Überlegungen, wenn nur ein kleiner Prozentsatz der zahlungsfähigen Konsumenten zur Aktion "unbesehen kaufen" (Handelsblatt) bereit ist. Daß zum Beispiel der E-Heiratsmarkt unliebsame Überraschungen bergen kann, mußte jüngst der britische Tankwart Trevor Tasker leidvoll erfahren: Die pralle 30-jährige Schönheit seiner E-Romanze im Cyberspace entpuppte sich in der schnöden Realität als verwelkte 65jährige, die den Leichnam ihres vorherigen Lebensgefährten in der Tiefkühltruhe verwahrte (AP, 11.3.2000). Sicherlich wird die Diskrepanz zwischen virtuellem Versprechen und realer Erfüllung nicht immer so groß sein; und nicht alle handelbaren Güter haben einen so heiklen Charakter wie Bräute. Trotzdem wird auch die profane Ware in der Regel weiterhin nicht ohne sinnliche Prüfung Gefallen finden. Die wenigsten wollen die sprichwörtliche Katze im nunmehr elektronischen Sack erwerben.
      Soweit aber der Internet-Einzelhandel überhaupt funktioniert, nimmt er dem realen Einzelhandel, der kostenträchtige Ladenflächen und Filialen betreiben muß, Umsätze und Marktanteile weg. Das zwingt logischerweise zu Schließungen und zu neuen Rationalisierungsschüben; bald werden sich die Kunden selber abkassieren müssen - natürlich ebenfalls mittels elektronischer High-Tech. Letzten Endes wird die schöne neue Welt des E-Commerce die Krise der 3. industriellen Revolution verschärfen statt überwinden.
      Das gilt in noch höherem Maße für den kommerziellen Sektor des sogenannten "Business-to-Business" im Internet, auch unter dem Kürzel B2B bekannt. Gemeint ist damit der elektronische Handel von Unternehmen untereinander, der allerdings eine weitaus größere Bedeutung besitzt als das E-Shopping von Privatleuten. In Form von Beratungsfirmen und Software-Häusern schießen seit Ende der 90er Jahre B2B-Unternehmen wie Pilze aus dem Boden. "Hat Ihre Firma eCommerce schon in ihren Erbanlagen verankert?", wirbt etwa die Andersen Consulting mit ganzseitigen Anzeigen in der Wirtschaftspresse. Zweifellos, B2B revolutioniert tatsächlich große Teile des Handels. Aber mit welchen Konsequenzen? Das Internet, bislang eine globale Spielwiese, mausert sich bei der kommerziellen Anwendung zum neuartigen "Kostenkiller":

      "Die Automatisierungswelle, die in den achtziger Jahren Produktionsprozesse grundlegend neu gestaltet hat, läßt sich im Internet-Zeitalter in wenigen Jahren auf das gesamte Wirtschaftsgeschehen übertragen. Das Internet liefert die technische Plattform für diese neue Ökonomie, die das traditionelle Wirtschaftsgeschehen in seiner ganzen Flexibilität elektronisch darstellt und abwickelt. Am Beispiel der Finanzmärkte wird schon heute im Ansatz sichtbar, was auf den Gütermärkten bald geschehen wird. Aktienkäufe und Aktienverkäufe laufen heute weitgehend elektronisch ab. Sind bestimmte Schwellenwerte erreicht, werden in den Handelscomputern Kettenreaktionen ausgelöst, die von Menschen vorher definiert wurden. Käufer und Verkäufer schließen automatisch Verträge ab, ohne lange Suche oder aufwendige Verhandlungen. Der neue Marktpreis bildet sich binnen weniger Sekunden. Intermediäre wie die Handelsmakler werden in diesem System keine Funktion mehr haben. An den Gütermärkten werden diese technischen Änderungen jedoch deutlich tiefere Spuren hinterlassen als an den Finanzmärkten. Die Hälfte der Kosten eines Industrieunternehmens sind heute im Durchschnitt immer noch Transaktionskosten, die nicht zur eigentlichen Wertschöpfung beitragen. Dazu gehören vor allem die Kosten arbeitsintensiver Prozesse wie die Suche nach Vertragspartnern und die anschließenden Vertragsverhandlungen, aber auch Maklerprovisionen und der Aufwand für viele innere Verwaltungstätigkeiten..." (FAZ v. 23.2.2000).

      Mit anderen Worten: Was da über die Welt rollt, ist nicht der Anfang eines neuen Wirtschaftswunders, sondern eine riesige Freisetzungswelle von Arbeitskraft. Der gesamte Zwischenhandel, große Teile der Zulieferer, Lagerhaltung, Einkaufs- und Beschaffungsabteilungen - alles wird überflüssig, ganze Ebenen des "Wirtschaftsgeschehens" einschließlich erheblicher Teile des Managements selber müssen mittelfristig von der Bildfläche verschwinden. Schon setzen die großen Automobilkonzerne und Handelsketten mittels B2B ein "gigantisches Einsparkarussell" in Gang:

      "Beschaffungswege werden dramatisch verkürzt, beschleunigt und verbilligt...Die...Internet-Einkaufskooperation der Autogiganten Daimler-Crysler, Ford und General Motors - die immerhin eine Einkaufsmacht von rund 480 Milliarden DM repräsentieren - ist erst der Anfang. Sie beleuchtet jedoch schon sehr gut, welch ungeheures Potenzial im Internet steckt...Wie so etwas dann aussehen könnte, wird sich deutlich an der zweiten Mammut-Kooperation zeigen, die jetzt verkündet wurde. Die Handelsgiganten Sears aus den USA und Carrefour, der größte Einzelhändler Europas, bauen einen offenen Internetmarktplatz auf, auf dem sie ihre Lieferantenbeziehungen konzentrieren wollen..." (Handelsblatt v. 1.3.2000).

      Diese qualitativ neuartige "Ausgliederung ganzer Prozeßketten" als "Revolution in der Logistik" (Handelsblatt v. 15.3.2000) mittels Internet entpuppt sich als die lange erwartete (und befürchtete) zweite große Welle der mikroelektronischen Revolution. Waren es in den 80er und 90er Jahren vor allem die Prozesse der industriellen Fertigung, die dabei von Automatisierung und Rationalisierung erfaßt wurden, so handelt es sich jetzt um das gesamte Spektrum der kommerziellen Bereiche, der Verwaltung und der Logistik: Wie zuvor die Produktionstätigkeiten mittels Industrierobotern, so werden nun endlich auch die Bürotätigkeiten und Dienstleistungen durch das Internet ausgedünnt oder ganz abrasiert.
      Schon die erste Welle oder Stufe der mikroelektronischen Revolution hatte weitaus mehr Arbeitskräfte überflüssig gemacht, als durch die Verbilligung der Produkte und die damit mögliche Markterweiterung vom kapitalistischen Verwertungsprozeß wieder absorbiert werden konnten. Hatte also der Kompensationsmechanismus der früheren Revolutionen in der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung schon auf der ersten Stufe der mikroelektronischen Umwälzung nicht mehr gegriffen, so greift er auf der zweiten, durch das Internet definierten Stufe erst recht nicht mehr. Das Resultat kann nur ein weiterer großer Schub der strukturellen Massenarbeitslosigkeit sein: In der BRD wird es dann eben nicht mehr bloß vier, sondern acht oder zehn Millionen Arbeitslose geben.
      Auch die Folgen auf dem Weltmarkt werden dieselben sein wie bei der Anwendung der Mikroelektronik im industriellen Produktionsprozeß: Ganze Länder und Weltregionen, denen das Geldkapital für die Investitionskosten der neuen Technologien fehlt, werden zusätzlich in den Ruin getrieben, wie die publizistischen Trommler für die wunderbare kommerzielle Internet-Revolution sehr gut wissen: "Der Wettbewerb wird sich verschärfen. Dramatisch wird es für Marktteilnehmer werden, die sich nicht auf die neue Situation einstellen können" (Handelsblatt v. 1.3.2000). Was betriebswirtschaftlich gilt, ist aber auch volkswirtschaftlich hochzurechnen. Da wird die Nato wieder viel Friedensarbeit zu leisten haben in den neuen Zusammenbruchsregionen.
      Natürlich will das herrschende Bewußtsein einer allgemeinen kommerziellen Web-Euphorie von solchen Konsequenzen nichts wissen. Gegen alle Erfahrung mit der Anwendung mikroelektronischer Rationalisierung in den letzten zwanzig Jahren soll nun ausgerechnet das Internet zur "Jobmaschine Nummer eins" (Wirtschaftswoche) werden. Aber schon jetzt, noch im Vorfeld der großen Wegrationalisierung von Arbeitskraft durch B2B, zeigt sich das krasse Mißverhältnis von Freisetzungspotential einerseits und zusätzlich für das E-Business benötigten Arbeitskräften andererseits. Angeblich wird die E-Jobmaschine gegenwärtig nur durch den Mangel an Fachkräften gebremst. Aber das Räsonnement über die künftige wundersame Jobvermehrung dementiert sich selbst bis zur Lächerlichkeit:

      "Frappierend ist das Tempo, mit dem die Stars am Jobhimmel ihr Personal aufstockten, allen voran die frisch gegründeten, vielfach am Neuen Markt notierten Firmen. Die 1&1 AG, Spitzenreiter der Neuen Wirtschaft..., verdoppelte in den zurückliegenden zwei Jahren ihre Belegschaft - ohne Firmenübernahmen - auf 1700 Beschäftigte...Bei der Jenaer E-Commerce-Schmiede Intershop heuerten die vergangenen beiden Jahre mehr zusätzliche Computerfreaks an, als bis dahin für das Vorzeige-Startup arbeiteten. Geht es nach den Planzahlen der IT-Gemeinde, ist der Schwenk der Jobmaschine in Richtung New Economy unumkehrbar...Die Deutsche-Telekom-Tochter T-Mobil etwa, erfolgreichster Arbeitsbeschaffer unter den Telefonie-Anbietern hier zu Lande, will dieses Jahr zu den vorhandenen rund 7500 Mitarbeitern weitere 2200 Kräfte einstellen, die Konkurrenten E-Plus und Mannesmann Mobilfunk peilen 800 zusätzliche Leute an...Selbst Siemens Fujitsu will in Deutschland ausbauen und die PC-Montage im thüringischen Sömmerda dieses Jahr von derzeit 700 auf mindestens 900 Leute hochfahren. Je kleiner die IT-Firma, desto größer der Bedarf an neuen Kräften. Ob Basler, Haitec, Poet oder Softmatic - für viele IT-Aufsteiger am Neuen Markt gehört die Verdoppelung der Belegschaft von Anfang 1999 bis Ende 2000 zum Kursfeuerwerk wie die Suchmaschine zum Internet...Der Hamburger Multimediaspezialist Management Data will bis Ende dieses Jahres mit 145 Angestellten fast dreimal soviele Leute unter Vertrag haben wie 24 Monate zuvor. Die Münchner Softwareberatung Bmp plant für Anfang 2001 rund 100 Gehaltsempfänger, fast eine Verfünffachung" (Wirtschaftswoche 11/2000).

      Kunststück, wenn die Ausgangsbasis derart absurd klein ist. Offenbar will der Autor dieser Lobes- und Hoffnungshymne seine Leser auf den Arm nehmen. Während das zusätzliche Freisetzungspotential nach Millionen zu zählen ist, geht die absehbare Reabsorbtion von Arbeitskraft gerade mal in die Hunderte, bestenfalls in die Tausende. Allein um die bereits vor der Kommerzialisierung des Internet entstandene Millionenmasse von Arbeitslosen aufnehmen zu können, müßten die E-Commerce-Unternehmen und Software-Klitschen bei den angegebenen Dimensionen ungefähr ein halbes Jahrtausend lang boomen. Als Jobmaschine kann man die "New Economy" vergessen - damit aber auch als realen Wachstumsträger von "Wert", das heißt von "geronnenen" gesellschaftlichen Arbeitsquanta. Im Internet kann sich das Kapital genausowenig reinkarnieren wie in der mikroelektronischen Industrie oder in den Humandienstleistungen. Das globale Web-Business setzt nur jenen Geisterkapitalismus fort, dessen ruhelose Seele die für sich allein auf Dauer nicht lebensfähige aufgeblasene Börsenkapitalisierung ist.
      In der Tat besteht das Neue an der "New Economy" vor allem darin, daß sie das ausschließlich spekulativ genährte Scheinwachstum verlängert, und zwar auf eine noch viel windigere Weise als bisher schon. Ein erheblicher Teil der E-Business-Phantasie war sowieso von vornherein auf die Börse gerichtet; und eine ganze Reihe der "neuen" Unternehmen stellen nicht einmal virtuelle Waren her, sondern offerieren schlicht als sogenannte Discountbroker (Online- und Telefonbroker) die sekundenschnelle Abwicklung von Aufträgen und "Realtime"-Informationen über die Kursentwicklung für die rapide wachsende Masse der Amateur-Börsenzocker, bestehend aus Minderjährigen, Hausfrauenclubs und Möchtegern-Cleverles jeden Alters und aus allen Bevölkerungsschichten. Für lumpige 99 Mark gibt es die Börsensoftware "Money Maker classic"; und sogar die technischen Innovationen sind zunehmend auf die Börse zugeschnitten: Mit dem "intelligenten Handy" kann man jetzt nicht nur Einkäufe bezahlen, sondern direkt Börsen-Transaktionen abwickeln - am Strand, im Auto oder im Bett.
      Wie der Internetkapitalismus die zweite Stufe der Wegrationalisierung von Arbeitskraft bildet, so bildet er auch die zweite Stufe der fiktiven Börsenkapitalisierung. Nachdem absehbar geworden war, daß sich das spekulative Potential der als "Blue Chips" bezeichneten klassischen Industrie- und Dienstleistungskonzerne Ende der 90er Jahre erschöpfen würde, mußte dem Voodoo-Finanzkapitalismus ein neues Feld eröffnet werden. In Wahrheit besteht die "New Economy" vor allem aus einem zusätzlichen Segment der Aktienmärkte, das sich (ausgehend von den USA) als sogenannter "Neuer Markt" mit eigenen Indizes etabliert hat. Das ist kein neuer Markt für reale Warenproduktion, sondern eben für neue Aktienpakete ohne jeden nennenswerten Verwertungsprozeß. So trat in New York seit Mitte der 90er Jahre der Nasdaq Composite neben den altbekannten Dow-Jones-Index; und in der BRD macht der Nemax-Index des "Neuen Marktes" (Nemax Allshare und Nemax 50) dem Dax Konkurrenz. Auch die Börse Tokio hat im Januar 2000 mit dem Segment "Mothers" den ersten Ansatz eines "Neuen Marktes" lanciert, dem bald mit Nasdaq Japan der "Quantensprung" folgen soll. Sogar die aufstrebende junge Börse in Polen liebäugelt schon damit, diesen Beispielen zu folgen. Zu erwarten ist, daß solche neuen Aktienmärkte in kürzester Zeit an allen Börsen aus dem Boden gestampft und mit eigenen elektronischen Handelssystemen versehen werden.
      Es ist eine Flut von Neuemissionen, die da an die Börse drängen (inzwischen zwanzig bis dreißig in einem Monat!) - mit dem einzigen Zweck, durch wilde Kurssprünge nach oben Geld aus dem Nichts zu scheffeln. Angehängt an den Internet-Boom haben sich alle möglichen Unternehmungen, die bis dahin niemals als Aktiengesellschaften in Frage gekommen wären. In Frankfurt und London geht sogar die Börse selbst an die Börse (mit B-Aktien der jeweiligen Börsenvereine). Börsennotiert und webaktiv ist inzwischen auch der altbekannte deutsche Sexversand Beate Uhse. Das Geschäftsergebnis ist zwar offenbar mager: "Nur verhältnismäßig wenige allerdings bestellen dann online Artikel wie das Strapshemd >Lustkracher< oder die Gleitcreme >Glitschi<..." (Der Spiegel 10/2000). Aber darauf (nämlich auf reale Gewinne) kommt es ja auch schon längst nicht mehr an, sondern eben auf eine möglichst schnelle und exorbitante Börsenkapitalisierung am "Neuen Markt".
      Das gilt für die gehätschelten jungen Internet-Gründer doppelt und dreifach. Während es bei den "Blue Chips" noch eine haltlose Gewinnphantasie für das vermeintlich vor der Tür stehende Wirtschaftswunder war, von der die Kurse nach oben getrieben wurden, ist der "Neue Markt" jetzt schon so weit, daß es fast als schädlich für die Kursphantasie gilt, wenn ein soeben an die Börse gegangenes junges E-Unternehmen nicht happige Verluste macht. In den USA wurde dafür der Begriff der "Cash Burn Rate" geprägt:

      "Dahinter steckt letztlich nur eine Frage: Wie viel Geld verbrennen Gründer beim Gründen? Gemeint ist die Höhe aller monatlichen Ausgaben - für Personal, Investitionen und Marketing -, die bei Web-Startups inzwischen üppige Dimensionen erreicht. So verpulvern High-Tech-Schmieden in der Regel schon im ersten Jahr 2,5 bis 5 Millionen Euro; Marketingausgaben können dabei bis zu 50 Prozent ausmachen. Das Interessante daran: Je höher die Cash Burn Rate (CBR), so die gängige Faustformel, desto erfolgreicher das Startup. So ist eine monatliche Rate von 500.000 Euro für Internetgründer normal...Spätestens durch Startups wie Amazon.com oder Yahoo wurde klar: Wer im Web was werden will, muß mit ordentlich PS auf den Datenhighway, um eine starke Marke aufzubauen. Gewinne waren plötzlich egal, Anlaufverluste geradezu ein Wachstumsindex...Den Rekord in Sachen CBR hält noch immer Amazon.com. Der erst fünf Jahre alte Onlinebuchhändler fuhr allein im vierten Quartal 1999 bei einem Umsatz von 676 Millionen Dollar einen Verlust von 185 Millionen Dollar ein. Das entspricht einer Verbrennungsquote von rund 60 Millionen Dollar im Monat. Auch nicht schlecht: der Dienstleistungsmarktplatz Smarterwork.com. Erst kürzlich schlossen die Briten eine Finanzierungsrunde über 12 Millionen Dollar ab, die vermutlich nur für die nächsten sechs Monate reichen wird. Dasselbe Bild hier zu Lande: Die Meinungsportale Ciao.com und Dooyoo.de beispielsweise rechnen derzeit mit jeweils rund zehn Millionen Euro Anlaufverlusten bis zum Jahr 2002..." (Wirtschaftswoche 11/2000).

      Kein Wunder, daß unter den "Zehn Geboten für Revolutionäre" in der E-conomy das neunte lautet: "Trachte nach Potential - Gewinne sind egal" (Wirtschaftswoche 33/1999). Während der große Konsumgüterproduzent Procter & Gamble Anfang März 2000 an der New Yorker Börse für eine bloße Gewinnwarnung (die Ankündigung nicht etwa von Verlusten, sondern von etwas weniger Gewinn) mit einem drastischen Kurssturz von mehr als 30 Prozent bestraft wurde und damit seinen zwölfjährigen Höhenflug als "Blue-Chip" beenden mußte, rasten gleichzeitig die Kurswerte am "Neuen Markt" ohne jede Rücksicht auf solche Nebensächlichkeiten nach oben. So wurde etwa als Erfolgsmeldung berichtet, daß die Tomorrow Internet AG (Hamburg) im Geschäftsjahr 1999 "nur" 15,46 Millionen Mark Miese gemacht hat und das Ergebnis damit "um 18 % besser ausfiel als der ursprünglich geplante Verlust..." (Handelsblatt v. 6.3.2000). Natürlich wissen alle längst, daß das Gerede von bloßen "Anlaufverlusten" für das Gros der neuen Aktiengesellschaften nichts als Augenwischerei ist. Die Broker selber machen sich schon lustig über das Wortgeklingel der hoffnungsvollen Internetkapitalisten:

      "Fondsmanager und Analysten in Frankfurt spielen Bullshit-Bingo: Bei Präsentationen haken sie Schlagworte ab, sobald der Vorstandschef sie in den Mund genommen hat. Der Manager, der die meisten Worthülsen genannt hat, gewinnt. >Internetphantasie< allein genügt nicht mehr, um Kurssprünge zu provozieren. Seit auch der letzte Investor mitbekommen hat, daß Unternehmen sich die Größe ihres Marktes nach Belieben herunterdefinieren, imponiert auch der >Marktführer< kaum mehr...Niemals fehlen die Hinweise auf das erwartete tausendprozentige Wachstum im E-Commerce. Etwas wird schon am Unternehmen hängen bleiben, so das Kalkül der Sprachstrategen. Eine Internetseite hat heute jeder - folgerichtig verklärt sich jedes Angebot zum Internetportal...Wunderbar auch >Migration-Play<: So tauften Banker die Wette auf ein Unternehmen, das sein klassisches Geschäft aufs Internet überführt (migriert). Profane Aktien werden so im Handstreich auf Technologie getrimmt..." (Wirtschaftswoche 10/2000).

      Aber Banken, Groß- und Kleinanleger machen mit, weil es in Wahrheit nicht um mehr als zweifelhafte zukünftige Geschäftserfolge geht, sondern vielmehr der "Gier-Faktor" alle auf phantastische Kurszuwächse von 100, 200 oder noch mehr Prozent in kürzester Zeit hoffen läßt. An der "Traumfabrik Neuer Markt" (Handelsblatt) verdoppeln sich die Ausgabekurse der Neuemissionen oft schon innerhalb eines einzigen Tages. Inzwischen hat sich sogar das Lottospiel direkt mit der neuen Börsenzockerei verschränkt: Beim "Spiel 77" waren im März 2000 Aktienpakete im Wert von je 10.000 Mark zu gewinnen. Wie die Pilze schießen sonderbare Mini-Unternehmen mit einer Handvoll Beschäftigten aus dem Boden, die sich am "Neuen Markt" zu sagenhaftem Reichtum hochkapitalisieren. So ging das virtuelle Auktionshaus Ricardo.de 1999 mit 20 Beschäftigten, 5,7 Millionen Mark Umsatz und 2,5 Millionen Mark Verlust an die Börse, um über Nacht plötzlich 500 Millionen Mark "wert" zu sein (gemessen am Emissionsjahr wäre das der Gegenwert von fast 100 Jahren des realen Umsatzes). Nachdem die Kurse etwas zurückgegangen waren, gründete das Miniaturunternehmen eine "Tochter" namens RicardoBIZ, die zum Beispiel die Vermietung von Arbeitsräumen der Uni Frankfurt an Meistbietende vermittelt.
      Dabei ist neuerdings auch wieder jener Lars Windhorst, der Mitte der 90er Jahre zum Lieblingsjugendlichen von Mafia-Altkanzler Kohl aufgestiegen war, weil er schon im zarten Alter von 17 Jahren genügend soziale Stupidität aufbrachte, um als Unternehmensgründer von sich reden zu machen. Nachdem der smarte Geldjüngling das spekulative Projekt eines Büroturms für das vietnamesisch-deutsche Geschäftsleben in den Sand gesetzt hatte, verschwand er in der Versenkung - um pünktlich zur Jahrhundertwende als inzwischen 23-jähriger alter Hase wieder aufzutauchen, selbstverständlich mit einer Firma für verheißungsvolle Internet-Ideen, die ebenso selbstverständlich den "Börsengang" ansteuert. Vorgemacht haben es in der BRD Jungunternehmer mit ökonomischen Luftnummern wie der 39jährige Paulus Neef mit der Multimedia-Agentur Pixelpark (42,4 Millionen Mark Umsatz, 4,2 Millionen Mark Verlust, 6,1 Milliarden Mark Börsenwert), der 29jährige Stephan Schambach mit dem E-Commerce-Unternehmen Intershop (Umsatz 90 Millionen Mark, Verlust 37 Millionen Mark, Börsenwert 16 Milliarden Mark) oder der 31jährige Karl Matthäus Schmidt mit dem Discountbroker Consors (Umsatz 117,8 Millionen Mark, Gewinn 24,5 Millionen Mark, Börsenwert 8,2 Milliarden Mark). Zusammen übertreffen die drei Kleinfirmen mit rund 30 Milliarden Mark den selber schon überhöhten Börsenwert von Volkswagen, einem realen Großunternehmen mit 147 Milliarden Mark Umsatz (Angaben nach: Der Spiegel 9/2000).
      Unter solchen Bedingungen mußte sich die zweite Finanzblase des "Neuen Marktes" noch schneller und noch größer aufblähen als die erste der traditionellen Aktienmärkte. Übertraf schon das spekulative Niveau der "Blue Chips" alle historischen Rekorde, so setzte die Internet-Spekulation noch eins drauf: Schon wenige Jahre nach seiner Gründung überflügelte der Nasdaq-Index den Dow Jones ebenso wie der Nemax den Dax. So ist inzwischen von einer Scherenbewegung der Aktienkurse die Rede: Während die Werte der "Blue Chips" und andere traditionelle Aktienwerte nach zehn bis fünfzehn Jahren exorbitanter Steigerung stagnieren oder zurückgehen, setzt sich das Kursfeuerwerk nun mit einer qualitativ neuen Intensität an den frisch etablierten "Neuen Märkten" fort.
      Hatten die traditionellen Unternehmen, die wenigstens überhaupt noch etwas herstellen, ein selber schon historisch beispiellos überzogenes Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von rund 30:1 erreicht, so liegt das KGV beim Nasdaq Composite (und ähnlich auch in der Spitze der deutschen Nemax-Werte) bei mehr als 200:1. Kein Wunder, daß diese klassische Messlatte für den Marktwert von Aktien bei den E-Euphorikern nichts mehr gilt: "KGV interessiert nicht" (Financial Times Deutschland v. 15.3.2000), heißt es inzwischen in diesen Kreisen. Da wird es selbst der US-Notenbank Fed unheimlich, die in ihrem halbjährlichen Rechenschaftsbericht Ende 1999 warnte, die Nasdaq-Kurse reflektierten "im Vergleich mit historischen Normen ungeheuerlich hohe Gewinnerwartungen" (zit. nach: Neue Zürcher Zeitung v. 29.2.2000). Es ist in der Tat unvorstellbar: Die Börsenkapitalisierung der Nasdaq beträgt im ersten Quartal 2000 mit der Summe von fünf Billionen Dollar bereits 60 Prozent des gesamten Sozialprodukts der USA, der Anteil der betriebswirtschaftlichen Wertschöpfung aus dem Netz dagegen liegt bei gerade mal drei Prozent; ganz zu schweigen vom realen Anteil an Produktion, Umsatz und Beschäftigung.
      Jedes Kind kann sich ausrechnen, daß dieser virtuelle Scheinkapitalismus noch viel unhaltbarer ist als die spekulative Vorwegnahme eines traditionellen Wirtschaftswunders bei den "Blue Chips", das ebenfalls nie mehr nachfolgen wird. Das Internet revolutioniert in der Tat die Kommunikationsmöglichkeiten, aber in Wahrheit über den Kapitalismus hinaus. Eine tragfähige kapitalistische "Webwirtschaft" wird es mangels Produktion und Beschäftigung nicht geben. Außerdem ist der E-Commerce äußerst anfällig, denn es erweist sich als ziemlich aufwendig, die weitgehend (von den Telefongebühren abgesehen) kostenlose Nutzung des globalen Netzwerks in einem wirklich großen Maßstab als kapitalistisches Angebot zu organisieren und dabei die kommerzielle Abwicklung störungsfrei sicherzustellen. Dieselbe Kostenlosigkeit, die betriebswirtschaftlich als Kostenkiller erscheint und dadurch zum Beschäftigungskiller wird, führt den Kapitalismus endgültig ad absurdum. Und nicht nur in negativer Hinsicht, nämlich als Abschied von einer Welt der abstrakten Arbeit, sondern auch als positiver Vorschein: Das Internet verweist auf eine Welt jenseits des Kaufens und Verkaufens, auf ein wechselseitiges Gratis-Verhältnis bewußt vergesellschafteter Individuen, während ein Gratis-Kapitalismus ein Widerspruch in sich wäre. Mehr oder weniger deutlich spüren diesen Impuls auch die Websurfer und Hacker, die sich gegen die Kommerzialisierung des Internet wehren und durchaus das Know-how für eine effiziente elektronische Sabotage besitzen. Das zeigte sich Anfang 2000, als anonyme Angreifer in den USA und der BRD die Portale namhafter Web-Kapitalisten stundenlang blockierten und damit eine aufgeregte Debatte unter Bankern, Politikern und Geheimdiensten über den Schutz des heiligen Privateigentums an virtuellen Produktionsmitteln im Cyberspace auslösten.
      Die eigentliche revolutionäre Bedeutung des Internet könnte in seinem Gehalt als postkapitalistisches Universalmedium liegen, das innerhalb der kapitalistisch verfaßten Gesellschaft vor allem der oppositionellen Kommunikation dient. An kapitalistisch denkende und handelnde Menschen ist ein solches Universalmedium sowieso verschwendet, denn was hätten diese einander mitzuteilen, das der Rede wert wäre? Außer kindischem Geplapper und wechselseitigem Verkäufergrinsen nichts gewesen. Als Medium einer sozialen Gegen- und Massenbewegung dagegen hat das Internet Zukunft. Es könnte die Konkurrenz durch globale Direktkommunikation aufheben und würde perspektivisch zum Kinderspiel machen, was der Räte-Idee immer als angebliche praktische Unmöglichkeit vorgehalten wurde: die unmittelbare Interaktion einer globalen Selbstverwaltungsgesellschaft ohne Geld und ohne Staat. Der verborgene Sinn des "World Wide Web" ist ein global vernetztes elektronisches Rätesystem. Die falschen Blütenträume vom Internetkapitalismus dagegen können nur noch eines: nämlich platzen.
      Avatar
      schrieb am 28.02.01 19:26:26
      Beitrag Nr. 11 ()
      Robert Kurz
      Die Virtualisierung der Ökonomie
      Transnationale Finanzmärkte und die Krise der Regulation

      Der Sieg der Virtualität über die Realität wird unter dem Eindruck von Computerisierung und neuen Medien schon seit 20 Jahren in den Kulturwissenschaften diskutiert. Wenn der virtuelle Raum die materielle Realität beherrscht und so eine Realität zweiter Ordnung hervorbringt, dann ist das allerdings weniger ein Problem der technischen Kommunikationsmittel als vielmehr ein Problem der Ökonomie. Nichts ist heute so virtuell wie das weltumspannende Netz der Finanzmärkte. Das bedeutet schlicht, daß zwischen der Produktion realer Güter und der Bewegung der Finanzmärkte kein innerer Zusammenhang mehr besteht. Wie die kapitalistische Industrie des 20. Jahrhunderts eine materielle Welt nach ihrem Bilde geschaffen hat, so schafft am Ende dieses Jahrhunderts das virtuelle Kapital der Finanzmärkte ein industrielles System nach seinem Bilde und damit eine Ökonomie zweiter Ordnung.
      Hinter dieser Entwicklung stand ursprünglich die ökonomische Transformation der Industrie selbst. Natürlich wird der materielle Lebensprozeß nach wie vor von den industriellen Waren bestimmt, aber deren Produktion erfordert immer weniger Verausgabung von menschlicher Energie. Die ökonomischen Formen des modernen warenproduzierenden Systems beruhen aber darauf, daß die Waren verausgabte gesellschaftliche Energie repräsentieren. Um diesen Widerspruch zu vermeiden, hat die offizielle ökonomische Wissenschaft schon längst die falsche Schlußfolgerung gezogen, jede objektive ökonomische Substanz der Warenproduktion abzuleugnen und den Wert der Waren in subjektiven Schätzungen des Nutzens für die Individuen aufgehen zu lassen. Dennoch werden die sozialen Beziehungen weiterhin durch die wechselseitige Verausgabung menschlicher Energie ("Leistung") definiert. Auf diese Weise entsteht ein absurdes Verhältnis: auf der einen Seite wird die Verausgabung der Energie von immer mehr in der Gegenwart lebenden Menschen kapitalistisch unbrauchbar, auf der anderen Seite muß das Kapital eben deswegen auf die virtuelle Vernutzung virtueller menschlicher Energie in einer virtuellen Zukunft zurückgreifen.
      Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat diese Tendenz zu einer schleichenden, aber unerbittlichen Verschiebung im Verhältnis von Industriekapital und Finanzkapital geführt. War das Finanzkapital zwischen 1850 und ungefähr 1910 eher ein sekundärer Sektor, auch wenn es kleinere spekulative Krisen gab, während das industrielle Kapital die Entwicklung bestimmte, so kehrte sich das Verhältnis in den folgenden Jahrzehnten um. Sowohl die infolge der technischen Entwicklung ständig mit größeren Kosten verbundene Vorfinanzierung der industriellen Produktion als auch die ständig erweiterten Aufgaben des Staates für den kapitalistisch notwendigen gesamtgesellschaftlichen Konsum (Infrastruktur, soziale Sicherung, Rüstung usw.) konnten nicht mehr aus dem Rückfluß der industriellen Gewinne bezahlt werden. Deshalb wurden sowohl die Unternehmen als auch die Staaten zunehmend vom virtuellen Vorgriff auf zukünftige Einnahmen abhängig (Kredit in verschiedenen Formen).
      Diese Entwicklung führte zu zwei einschneidenden Konsequenzen. Erstens mußten die Währungen vom Goldstandard und damit von jeder objektiven (substantiellen) Deckung entkoppelt werden. Zweitens verschob sich das Zentrum des Kapitalismus von den industriellen Konzernen auf das Bankensystem. Trotzdem war diese Form der Virtualisierung noch rückgekoppelt auf die alte industrielle Gesellschaft. Das Finanzkapital mußte sich wirklich in industriellen und staatlichen Investitionen inkarnieren, also auch langfristig festlegen, um Rendite erzielen zu können. Es handelte sich noch um die Anbindung der virtuellen kapitalistischen Zukunft an die Gegenwart, also um einen Mechanismus, der die erste (industrielle) Realität bloß verlängerte. Deshalb war die Entwicklung der Börsenkurse auch tatsächlich noch an den virtuell vorweggenommenen industriellen Geschäftserfolg gebunden. Und aus demselben Grund blieb das Finanzkapital, das die Industrie dominierte, auch auf die nationalen Systeme der Geschäftsbanken zentriert. Der internationale Kapitalverkehr wurde über diese Banken vollzogen und unterlag den Regulations- und Kontroll-Mechanismen der jeweiligen Nationalstaaten.
      Ungefähr seit Anfang der 80er Jahre ist aber die Virtualisierung des Finanzkapitals in eine qualitativ neue Entwicklungsstufe eingetreten. Den Hintergrund bildet wiederum eine neue Transformation der Industrie selbst. Denn die mikroelektronische Technologie führt zu einem qualitativen Sprung in der ökonomischen Virtualisierung industrieller Waren. Als technische Produkte und Gebrauchsgüter sind sie nach wie vor handfest materiell, aber als Waren (das heißt als Gegenstände einer gesellschaftlichen Form) repräsentieren sie unter den neuen technischen Bedingungen so wenig verausgabte menschliche Energie, daß sie gewissermaßen nur noch virtuelle Waren darstellen. Die logische Konsequenz kann nur sein, daß sich das Finanzkapital von jeder Rückkoppelung auf das industrielle System losreißt und nicht mehr dessen virtuelle Zukunft repräsentiert, sondern nur noch seine eigene.
      Diese neue Stufe der Virtualisierung in zweiter Potenz führte abermals zu einschneidenden Konsequenzen. Hatte sich das Zentrum des Kapitalismus zwischen 1910 und 1980 von den industriellen Konzernen auf das Bankensystem verschoben, so verschiebt es sich seitdem von den Geschäftsbanken auf die großen Investmentfonds. Dabei handelt es sich aber nicht mehr darum, die erste Realität der industriellen Wertschöpfung zu verlängern. Nur dem äußeren Schein nach haben wir es noch mit einer virtuellen Vorwegnahme zukünftiger industrieller Erfolge zu tun. Als Seismograph für die zukünftige Tendenz der industriellen Wertschöpfung ist die Bewegung des neuen Finanzkapitals inzwischen ungefähr so sinnvoll wie ein Höhenmesser in einer Rakete auf dem Weg zum Mars. Gleichzeitig ist dieses Fondskapital, das nun die traditionellen Formen des Finanzkapitals dominiert, nicht mehr an den nationalstaatlichen Bezugsrahmen gebunden. Mit Hilfe der weltumspannenden, über Satellit vernetzten elektronischen Medien kann es in Echtzeit von jedem beliebigen Ort der Erde zu jedem beliebiegen anderen Ort transferiert werden. Die Bewegung des Fondskapitals stellt keinen internationalen Kapitalverkehr durch die Vermittlung national zentrierter Geschäftsbanken mehr dar, sondern es ist von Haus aus transnationales Finanzkapital, das auf einer Ebene zweiter Ordnung gewissermaßen "über" oder jenseits des traditionell investierten und an den nationalen Bezugsrahmen gebundenen Finanzkapitals agiert. Deshalb hüpft das transnationale Fondskapital auch leicht über alle nationalstaatlichen Regulationsformen und Kontrollmechanismen hinweg.
      Das bedeutet auch, daß sich dieses neue Finanzkapital nicht mehr selber in industriellen Anlagen inkarniert. Natürlich wurde auch das traditionelle Finanzkapital in Form von Wertpapieren gehandelt und war insofern beweglich, aber diese Bewegung blieb eben direkt auf die industrielle Rendite bezogen. Als Virtualität zweiter Ordnung ist das transnationale Fondskapital aber nicht mehr auf die industrielle Rendite bezogen, sondern auf die Virtualität erster Ordnung. Mit anderen Worten: es handelt sich also um die Kapitalisierung der "Erwartungen von Erwartungen" ohne jeden eigenen Bezug zur industriellen Realität. Dieses potenzierte Derivat des traditionellen Finanzkapitals ist allerdings eben nur die Kehrseite davon, daß sich die industriellen Produkte selber ökonomisch virtualisieren.
      Daraus folgt, daß auch die realen industriellen Investitionen und alle übrigen Formen der gesellschaftlichen Reproduktion Bestandteil der Virtualisierung werden. Das transnationale Fondskapital vermehrt sich nicht durch industrielle Gewinne, sondern durch Kurssteigerungen der Wertpapiere. Dieser Bezug geht weit über die traditionelle Spekulation hinaus. Denn auch die realen Investitionen werden nicht mehr aus dem Rückfluß industrieller Gewinne bezahlt, sondern indirekt aus den Kurssteigerungen. Das industrielle Management muß dafür sorgen, daß um jeden Preis die Kurse steigen, auf diese Weise transnationales Fondskapital angelockt wird, dadurch die Kurse weiter steigen usw. Ist dieser Mechanismus einmal in Gang gekommen, kann das industrielle Management Kredite aufnehmen, um damit reale Investitionen zu bezahlen. Aber die "Sicherheit" für diese Kredite, also das, was eigentlich beliehen wird, ist weder ein substantieller industrieller Wert noch die zu erwartende Erzeugung dieses Werts, sondern allein der vorhandene und der zu erwartende Zufluß von transnationalem Fondskapital.
      Das gilt nicht nur für die realen Investitionen, sondern auch für einen wachsenden Teil des Konsums. Je mehr die private Geldanlage, auch die kleine, von traditionellen Formen der Ersparnisse (einschließlich der Altersversicherung) auf das Fondskapital übergeht, desto mehr vergrößert sich auch der Anteil der Konsumentenkredite, bei denen nicht mehr das reale Einkommen der Leute aus industriellen oder sonstigen Löhnen verpfändet wird, sondern der virtuelle Gewinnanteil aus den Fonds. Dasselbe gilt zunehmend auch für die Einnahmen des Staates. Wenn der Staat Kredite aufnimmt und dafür zukünftige Steuereinnahmen verpfändet, dann waren diese Steuern in der Vergangenheit aus realen industriellen Löhnen und Gewinnen abgeschöpft. Die Steuern bildeten somit das reale Moment gegenüber dem virtuellen des Kredits. Je mehr aber die realen industriellen Investitionen und der reale Konsum selber schon aus einem Kredit auf bloß virtuelle Einkünfte bezahlt werden, desto mehr sind natürlich auch die darauf erhobenen Steuereinnahmen des Staates nur noch virtuell fundiert. Das Kreditsystem ist kein Scharnier mehr zwischen realer Wertschöpfung und deren virtueller Vorwegnahme, sondern nur noch zwischen verschiedenen Ebenen der virtuellen Ökonomie selbst.
      Die gesamte scheinbar reale Ökonomie mit ihrem materiellen Sachkapital und ihren Produkten, die industriellen und staatlichen Investitionen ebenso wie der Konsum stellen also in wachsendem Maße nur noch eine Fassade dar, die allein durch den Zufluß von transnationalem Fondskapital aufrecht erhalten wird. Das ist der wahre Kern der sogenannten Globalisierung. Da das Fondskapital aber nicht auf reale industrielle Gewinne bezogen und an keinerlei nationale Regulations- und Kontrollmechanismen gebunden ist, kann es in jedem Moment plötzlich abgezogen werden. In diesem Fall bricht die Fassade der scheinbar realen Ökonomie innerhalb kürzester Zeit zusammen. Den soeben noch "gesund" aussehenden Unternehmen, Privatleuten und Staaten droht der schlagartige Ruin, weil der nicht mehr real fundierte Kredit ebenso schnell entwertet wird. Umgekehrt kann die zusammengebrochene Fassade wie im Zeichentrickfilm in ebenso kurzer Zeit wieder auferstehen, sobald das abgezogene transnationale Fondskapital zurückfließt.
      Es hat natürlich nichts mehr mit irgendeinem Bezug auf reale industrielle Wertschöpfung zu tun, wenn zum Beispiel die brasilianische Börse in wenigen Wochen 70 Prozent ihres Wertes einbüßt, um dann von dem auf Tiefstände zurückgeworfenen Niveau aus innerhalb weniger Monate wieder 100 Prozent zuzulegen. Ähnliches gilt für die wilde Schaukelbewegung der asiatischen Börsen. Was beschönigend als "Volatilität" bezeichnet wird, ist die Folge der Virtualisierung: im virtuellen Raum findet jede Bewegung sozusagen mit Lichtgeschwindigkeit statt und ist von zufälligen Ereignissen bestimmt. Weil das transnationale Fondskapital als ökonomische Virtualität zweiter Ordnung nicht mehr an die Schwerkraft realer industrieller Wertschöpfung gebunden ist, bestimmen subjektive Interpretationen, mediale Inszenierungen, Gerüchte und beliebige Äußerungen von Politikern, Notenbankern oder Fondsmanagern den Fluß des Fondskapitals nicht bloß im Bereich von Tagesschwankungen, sondern grundsätzlich. Für die gesamte gesellschaftliche Reproduktion erwächst daraus eine extreme Unsicherheit. Ein einziges unbedachtes Wort von Mr. Greenspan kann ganze Länder ruinieren.
      Diese Unsicherheit und Willkür in der Bewegung des transnationalen Fondskapitals ist natürlich ein Skandal. Nachdem alle Versuche gescheitert sind, diese neue Form des Finanzkapitals durch traditionelle nationalstaatliche Regularien zu einem stabilen Verhalten zu veranlassen, mehren sich nun die Stimmen, die neue internationale Regulationsformen einfordern. Dabei wird die bisherige massive Deregulierung der Finanzmärkte, wie sie unter dem Druck des neoliberalen Konsens in den 80er und 90er Jahren betrieben wurde, mehr oder weniger als politischer Fehler betrachtet. Inzwischen spricht sich sogar der IMF grundsätzlich dafür aus, die weltweite Bewegung des transnationalen Fondskapitals neuen Formen der Regulation und Kontrolle zu unterwerfen.
      Aber nicht zufällig bleiben alle derartigen Überlegungen unbestimmt und unkonkret. Vordergründig ist dieser mangelnde Nachdruck institutionellen Gründen geschuldet: der Sachlage entsprechend könnte sich eine solche Kontrolle nicht auf internationale Absprachen beschränken, sondern müßte, um wirksam zu sein, selber transnationalen Charakter annehmen; aber im Unterschied zum transnationalen Fondskapital gibt es keine transnationale politische Instanz. Gleichzeitig verweigern sich die USA als letzte Weltmacht im Gegensatz zu vielen Regierungen in Europa, Asien und Lateinamerika jeder Diskussion über neue Kontrollmechanismen. Das hat keineswegs nur ideologische Gründe. Denn das US-"Wunder" einer permanenten Hochkonjunktur und die Verwandlung von 255 Milliarden Dollar Staatsdefizit jährlich in einen Überschuß von 70 Milliarden Dollar sind allein das Resultat hoher zusätzlicher Einnahmen von Unternehmen, Staat und Privaten, die in einer Größenordnung wie in keinem anderen Land aus der virtualisierten Ökonomie ständiger Kurssteigerungen der Börse stammen und nicht aus realer industrieller Wertschöpfung.
      Deshalb haben die USA als letzte Instanz und Auffangbecken der globalen Virtualisierung kein Interesse an Kontrollmechanismen, die das transnationale Fondskapital in anderen Ländern festhalten würden. Jede Krise der Finanzmärkte anderswo ist Wasser auf die Mühlen ihres Glücks, weil die Fonds immer hauptsächlich in die USA als "rettenden Hafen" flüchten. Aber der Versuch globaler Finanzmarkt-Kontrollen würde auch dem Charakter der Virtualisierung widersprechen, die man eben nicht per Dekret in reale Wertschöpfung umdefinieren kann. Das Ende der virtuellen Ökonomie kommt erst, wenn die zentrale Börse in New York platzt, denn von dort können die Fonds nirgendwohin mehr fliehen (wenn New York platzt, muß auch alles andere platzen). In diesem Fall stehen freilich andere Probleme auf der Tagesordnung als die politische Kontrolle eines virtualisierten Geldkapitals, das es dann nicht mehr gibt.
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      schrieb am 28.02.01 23:04:50
      Beitrag Nr. 12 ()
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      schrieb am 12.03.01 22:50:49
      Beitrag Nr. 13 ()
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      schrieb am 14.03.01 19:20:10
      Beitrag Nr. 14 ()
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