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    Enzensberger: Die Wiederkehr des Menschenopfers - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 18.09.01 12:02:56 von
    neuester Beitrag 11.10.01 12:53:31 von
    Beiträge: 112
    ID: 474.059
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      Avatar
      schrieb am 18.09.01 12:02:56
      Beitrag Nr. 1 ()
      Die Wiederkehr des Menschenopfers

      Je prompter der Kommentar, desto kürzer ist gewöhnlich seine Halbwertzeit.Nichts gegen die Aktualität! Aber gerade dann, wenn niemand weiß, wie es weitergehen soll, spricht einiges für den Versuch, Distanz zu gewinnen. Zum Beispiel, was die Globalisierung angeht: Ein deutscher Wissenschaftler namens Karl Marx hat diesen Prozeß bereits vor hundertfünfzig Jahren ziemlich gründlich analysiert. Er wäre sicher nicht auf die Idee gekommen, "dafür" oder "dagegen" zu sein; in dem Streit, der an Orten wie Seattle, Göteborg oder Genua eskaliertist, hätte er kaum mehr als ein Schattenboxen gesehen. Der Protest gegen eine somassive historische Tatsache mag ehrenwert sein, er kann jedoch bestenfallsweltweite Fernsehinszenierungen hervorbringen. Schon daran zeigt sich, daß dienaiven Gegner selbst ein Teil dessen sind, was sie bekämpfen.

      Der deutsche Gelehrte hat die Globalisierung seinerzeit als ein reinpolitökonomisches Phänomen beschrieben. Das war anno 1848 auch die einzigmögliche Perspektive, da die Ausdehnung des Weltmarkts und die Politik derKolonialmächte damals die entscheidenden Antriebskräfte waren. Inzwischen hatdieser irreversible Prozeß jedoch alle Systeme erfaßt. Wer nur diewirtschaftliche Dynamik ins Auge faßt, der hat ihn nicht verstanden. Es gibt heute nichts mehr, was sich ihm entziehen könnte: weder die Religion noch die Wissenschaft, weder die Kultur noch die Technik, vom Konsum und von den Medienganz zu schweigen. Deshalb fallen auch seine Kosten überall und in jeder Sphäre an.

      Nicht nur die zahllosen ökonomischen Verlierer sind betroffen. Dem Weltmarkt und seinen Finanz- und Wissensströmen folgen auch, überall auf der Erde, plötzliche Zusammenbrüche, Waffen, Computerviren, neuartige Seuchen, ökologische Katastrophen, Bürgerkriege und Verbrechen. Die Vorstellung, irgendeine Gesellschaft könnte sich gegen diese Folgen isolieren, ist abwegig. Eine dieser Folgen ist der Terrorismus. Es wäre ein Wunder, wenn einzig und allein er es unterlassen hätte, global zu operieren.

      Angesichts fanatisierter Massen hat die Moderne lange an der Vorstellungfestgehalten, sie hätte es mit Eigentümlichkeiten rückständiger Gesellschaftenzu tun. Die unaufhaltsame Modernisierung, glaubten viele, würde solchenAtavismen früher oder später ein Ende machen, auch wenn der eine oder andere Rückfall nicht ausbleiben sollte. Spätestens seit dem Aufstieg totalitärerRegimes im zwanzigsten Jahrhundert müßte diese Illusion ihren Reiz eingebüßthaben; dennoch lebt sie, negativ im Stereotyp vom "finsteren Mittelalter",hoffnungsvoll in der Rede von den "Entwicklungsländern", bis heute fort.

      Die Negation der Moderne

      Doch die mörderischen Energien der Gegenwart lassen sich keineswegs aufirgendwelche Traditionen zurückführen. Gleichgültig, ob es sich um dieBürgerkriege auf dem Balkan, in Afrika, Asien oder Lateinamerika handelt, um dieDiktaturen des Nahen Ostens oder um die zahllosen "Bewegungen" unter der Fahnedes Islam - in all diesen Fällen hat man es nicht mit archaischen Überresten,sondern mit absolut zeitgenössischen Erscheinungen zu tun, nämlich mitReaktionsbildungen auf den gegenwärtigen Zustand der Weltgesellschaft. Das giltauch für eine durchaus ehrwürdige Religion wie den Islam, der jedoch - ebensowie das ultraorthodoxe Judentum - schon seit langem keine produktiven Ideen mehrentwickelt hat. Seine Stärke erweist sich bisher ausschließlich in derbestimmten Negation der Moderne, an die er eben dadurch gefesselt bleibt.

      Die Immanenz des Terrors, ganz gleich, woher er kommt, zeigt sich nicht nur am Verhalten der Akteure, sondern auch an der Wahl ihrer Mittel. Insofern handeltes sich um pathologische Kopien des Gegners, denen ähnlich, die ein Retrovirusvon der befallenen Zelle herstellt. Das Gefühl, der Angriff kommt von außen,trügt, da es einen externen Raum menschlicher und unmenschlicher Handlungen, der außerhalb des globalen Zusammenhangs läge, nicht gibt. Die Bedrohung istallgegenwärtig wie die Kamera, das Telefon, das Internet und der Spionagesatellit.

      Die Attentäter von New York waren nicht nur technisch auf der Höhe der Zeit.Inspiriert von der symbolischen Bildlogik des Westens, haben sie das Massakerals Medienspektakel inszeniert. Dabei folgten sie minuziös den Szenarien desHorrorfilms und des Science-fiction-Thrillers. Ein derart inniges Verständnisfür die amerikanische Zivilisation zeugt nicht von einer anachronistischen Mentalität. Vor allem aber wirft es ein Licht auf die angeblichen Überzeugungender Täter.

      Stolz auf den eigenen Untergang

      Es ist kein Zufall, daß im ersten Moment Zweifel an der Urheberschaft desAnschlags laut geworden sind. Im Internet wurde die rechtsradikale Szene derVereinigten Staaten haftbar gemacht, andere sprachen von japanischenTerroristengruppen oder von irgendeinem zionistischen Geheimdienstkomplott. Wieimmer in solchen Fällen schossen sofort alle möglichen Verschwörungstheorien insKraut. An solchen Interpretationen ist zu ermessen, wie ansteckend der Wahn derTäter ist. Sie enthalten jedoch einen wahren Kern, weil sie zeigen, wieaustauschbar die Beweggründe sind. Die phrasenhaften, auswendig gelernten"Bekennerschreiben", die nach den meisten Attentaten eingehen, ähneln sich inihrer Leere. Die wechselseitige Nachahmung ganz verschiedener Tätergruppen, wasden propagandistischen Auftritt, die Technik und das taktische Vorgehenbetrifft, spricht für sich. Natürlich ist die Motivforschung für die Ermittlerund die Geheimdienste von höchstem Interesse, weil sie auf die Spur der Täterführen kann. Auf die Frage, woher die psychische Energie stammt, die den Terrorspeist, kann die ideologische Analyse jedoch keine Antwort geben. Vorgaben wielinks oder rechts, Nation oder Sekte, Religion oder Befreiung führen zu genaudenselben Handlungsmustern. Der gemeinsame Nenner ist die Paranoia. Auch im Falldes New Yorker Massenmordes wird man sich fragen müssen, wie weit dasislamistische Motiv trägt; jede beliebige andere Begründung hätte es auch getan.

      Gewißheiten sind in einem derartigen Dunkelfeld nicht zu haben. Doch eineGemeinsamkeit praktisch aller terroristischen Handlungen, die wir kennen, läßtsich schwerlich übersehen. Das ist das Maß an Selbstzerstörung, auf das es dieAkteure abgesehen haben. Dies gilt nicht nur für konspirative Gruppen und fürdie zahllosen Warlords, Milizen und Paramilitärs, die große Teile Afrikas undLateinamerikas verheeren, sondern auch für sogenannte Schurkenstaaten wieNordkorea oder den Irak. Solche Diktaturen zielen weniger auf die Vernichtungihrer wahren oder imaginären Feinde als auf den Ruin ihres eigenen Landes. Alsbisher unerreichter Pionier bei diesem Bestreben kann Hitler gelten, der dabeieine Mehrheit der Deutschen hinter sich wußte. Im Falle Rußlands waren siebzigJahre nötig, bis der totale Kollaps erreicht war. Auch der Irak ist stolz aufden eigenen Untergang. Natürlich verfolgen zahlreiche "Befreiungsbewegungen"ähnliche Ziele. Algerien, Afghanistan, Angola, das Baskenland, Burundi,Guatemala, Indonesien, Kambodscha, Kaschmir, Kolumbien, Kongo, Liberia,Nicaragua, Nigeria, Nordirland, Peru, die Philippinen, Ruanda, San Salvador,Serbien, Sierra Leone, Sri Lanka, der Sudan, Uganda, der Tschad undTschetschenien - es ist ein Alphabet des Schreckens, das kein Ende nehmen will.

      Diese Logik der Selbstverstümmelung gilt auch für den terroristischen Angriffauf die Vereinigten Staaten. Denn die langfristig verheerendsten Folgen wirdnicht der Westen, sondern ebenjene Weltregion zu tragen haben, in deren Namen ergeführt worden ist. Für Millionen von Muslimen sind die absehbaren Konsequenzenkatastrophal. Die Islamisten bejubeln einen Krieg, den sie nie gewinnen werden.Nicht nur Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten werden unter ihm zu leidenhaben. Ganze Völker, von Afghanistan bis Palästina, werden für die Handlungenihrer angeblichen Stellvertreter, jenseits aller Gerechtigkeit, einen immensenpolitischen und ökonomischen Preis bezahlen müssen. Die absehbare Vergeltungwird Unbeteiligte sowenig verschonen wie der Angriff, auf den sie folgt.

      Nun ist allerdings der kollektive Drang zur Selbstbeschädigung, um nicht zusagen zum Selbstmord, ein Motiv, dessen Stärke der Westen beharrlichunterschätzt. Um das Unverständliche wenigstens ein Stück weit verständlicher zumachen, genügt die Reflexion auf die eigene Vergangenheit anscheinend nicht.Deshalb ist es vielleicht angezeigt, einen heuristischen Vergleich mitErscheinungen, die uns näherliegen, zu riskieren. Ein Blick in die faits diverszeigt, wie unwiderstehlich auch in den sogenannten hochentwickeltenGesellschaften die Lust am eigenen Untergang ist. Obwohl sich Drogensüchtige undSkinheads ganz gezielt jeder Lebenschance berauben; obwohl jeder Tag neue "Familientragödien" und Amokläufe bringt, gilt es nach wie vor als ausgemacht,daß der Selbsterhaltungstrieb das Regulativ menschlichen Handelns ist undbleibt. Dabei liefert jeder Tag neue Gegenbeweise. Der narzißtisch gekränkteSchüler geht mit dem Messer auf Lehrer und Mitschüler los. Der HIV-Positive steckt so viele Partner wie möglich an. Der Mann, der sich von seinem Chefungerecht behandelt fühlt, steigt auf einen Turm und schießt blindlings um sich,nicht obwohl, sondern weil das Massaker sein eigenes Ende beschleunigen wird.Auch in all diesen Fällen sind die Beweggründe sekundär; oft sind sie dem Täterselbst unbekannt.

      Triumph des Selbstmörders

      Der individuelle Todestrip zeigt manche Ähnlichkeiten mit der Triebstruktur derAttentäter. Hier wie dort zieht der individuelle oder kollektive Selbstmörder,unabhängig davon, wie real oder imaginär der Schrecken ohne Ende ist, dem ersich ausgesetzt sieht, ein Ende mit Schrecken jeder Alternative vor. Verschiedenist lediglich die Dimension seiner Aktionen. Während der Skin nur seinenBaseballschläger, der Brandstifter nur seine Benzinflasche hat, verfügt der gutausgebildete Attentäter über Geldgeber, hochentwickelte Logistik, neuesteKommunikationsmittel und Verschlüsselungstechniken, in absehbarer Zukunftwahrscheinlich sogar über ABC-Waffen.

      So verschieden also die Maßstäbe des Schreckens sind, eines scheint all dieseTäter zu verbinden: Ihre flottierende Aggression richtet sich nicht nur gegenbeliebige andere, sondern vor allem gegen sie selbst. Wenn der Terrorist dabeiein höheres Ziel für sich geltend machen kann, um so besser. Es kommt nichtdarauf an, um welches Phantasma es sich handelt. Jede höhere Instanz tut es,irgendein göttlicher Auftrag, irgendein heiliges Vaterland, irgendeineRevolution. Im Notfall kommt der mordende Selbstmörder jedoch auch ohne solcheRechtfertigungen aus zweiter Hand aus. Sein Triumph besteht darin, daß man ihnweder bekämpfen noch bestrafen kann, denn das besorgt er selbst. Auch seinferner Befehlshaber erwartet in seinem Bunker den Moment der eigenenAuslöschung; er genießt, wie Elias Canetti schon vor einem halben Jahrhundertwußte, lediglich die Vorstellung, daß vor ihm möglichst alle anderen,einschließlich seiner Anhänger, zu Tode gebracht werden.

      Wer lieber am Leben bleiben will, wird das schwerlich verstehen. Obwohl derjenige, der keine Lust verspürt, Amok zu laufen, einer überwältigenden Mehrheit angehört, hat er im Augenblick der Konfrontation gegen den Selbstmordliebhaber keine Chance. Da es vermutlich Hunderttausende von lebenden Bomben gibt, wird uns ihre Gewalt weiter ins einundzwanzigste Jahrhundert begleiten. Auch das Menschenopfer, eine uralte Gewohnheit der Spezies, erfährt auf diese Weise seine Globalisierung.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 12:58:20
      Beitrag Nr. 2 ()
      @H

      Ich hab mir die Mühe gemacht und es Wort für Wort gelesen.

      Ich weiß nicht, ob ich alles richtig verstanden habe, komme aber für mich zu folgendem Ergebnis:

      Beraube den Menschen seiner Ideale und er beginnt irrational zu denken und zu handeln.

      Die Frage ist nur, wer steckt hinter dieser Beraubung? Für mich können es nur Menschen sein, die schon viel eher keine Ideale mehr hatten. Es könnten die Reichen und Mächtigen Spieler des Welt-Monopoly sein, die sich in vielen der perversen und menschenverachtenden Geheimlogen dieser Welt
      wiederfinden?

      Aber darauf wird es wohl nie eine Antwort geben.

      F
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 13:13:15
      Beitrag Nr. 3 ()
      Wenn wir hier konkret auf die Selbstmordattentäter eingehen, so könnte man sagen: Der Selbstmord ist eine natürliche Veranlagung, ihre Förderung daher äußerst erfolgversprechend. Hierzu folgender Auszug aus G. Ammon, Gruppendynamik und Agression, Kindler-Verlag 1973:

      (über Freud)
      >Die Lehre von einem primären Trieb zu Tod und Zerstörung versuchte, die Phänomene destruktiver Aggression im Rahmen einer individualpsychologischen Theorie zu erklären. Als es jedoch der psychoanalytischen Ich-Psychologie gelang, jene Interaktionsprozesse zu erforschen, welche das sich entwickelnde Individuum mit der Gruppe, worin es aufwächst, verbinden - Interaktionen, die dem einzelnen die Entwicklung schuldfreier Identität entweder erlauben oder aber diese Entwicklung pathogenetisch arretieren können -, erwies sich die Theorie des eingeborenen Todes- und Zerstörungstriebes als ein Hemmnis eben dieser Arbeit. Sie sucht die Quelle destruktiver Aggression als Trieb im Individuum, der sich etwa in der "ziellosen Grausamkeit" des Kindes äußere. Die analytische Erforschung der Dynamik von Familiengruppen aber hat uns die Kommunikationspathologie kennen gelehrt, welche die Ich-Enwicklung des einzelnen verstümmelt und ihren Ausdruck in der gegen das eigene Selbst oder nach außen gerichteten Destruktion findet. Destruktive Aggression, das lehren diese Untersuchungen - besonders der sogenannten schizophrenogenetischen Familie -, ist das Ergebnis mißlingender Kommunikation der Individuen untereinander, bevor sie sich äußert als individuelle Pathologie. Kommunikation bezeichnet in diesem Zusammenhang sowohl die Art und Weise der Befriedigung derBedürfnisse als auch die Formen, in denen sich die Gruppe darüber verständigt. Die destruktive Dynamik der psychischen Krankheit des einzelnen resultiert aus der destruktiven Dynamik der Gruppe und nicht umgekehrt.>
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 13:20:49
      Beitrag Nr. 4 ()
      Soll das jetzt eine Diskussion für Psychologiestudenten ab dem 5ten Semester werden?

      Wenn ja, dann verabschiede ich mich wieder. Dafür habe ich einen zu gesunden Menschenverstand.

      F
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 13:24:25
      Beitrag Nr. 5 ()
      einen zentralen hinweis, der nicht untergehen sollte, erkenne ich in diesen sätzen:
      Inspiriert von der symbolischen Bildlogik des Westens, haben sie das Massaker als Medienspektakel inszeniert. Dabei folgten sie minuziös den Szenarien desHorrorfilms und des Science-fiction-Thrillers. Ein derart inniges Verständnis für die amerikanische Zivilisation zeugt nicht von einer anachronistischen Mentalität. Vor allem aber wirft es ein Licht auf die angeblichen Überzeugungen der Täter.

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      schrieb am 18.09.01 13:28:06
      Beitrag Nr. 6 ()
      dieser satz ist mir auch aufgefallen antigone - aber ich versteh ihn nicht..... hilfe
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 13:34:20
      Beitrag Nr. 7 ()
      Zitat: Die Attentäter von New York waren nicht nur technisch auf der Höhe der Zeit.Inspiriert von der symbolischen Bildlogik des Westens, haben sie das Massakerals
      Medienspektakel inszeniert. Dabei folgten sie minuziös den Szenarien desHorrorfilms und des Science-fiction-Thrillers. Ein derart inniges Verständnisfür die amerikanische
      Zivilisation zeugt nicht von einer anachronistischen Mentalität



      Mitunter denke ich mir, der Herr Enzensberger interpretiert auch gerne die Dinge so, wie sie einer augenblicklichen Argumentation oder einem essayfähigen gedankenstrang gerade zupass kommen.



      -> Wieso technisch auf der Höhe der Zeit? Den vollkommen gleichen Anschlag hätten sie genausogut 1975 durchziehen können. Auch damals gab es Flugzeuge, Kerosin, Teppichmesser und das WTC.

      -> Wieso den Szenarien eines Horrorfilms entsprechend? Natürlich ist der Schock unglaublich, wenn eine Hiobsbotschaft nach der anderen über die Medien kommt. Aber ich denke, wenn die minuziös hätten planen können, wären die Flugzeuge gleichzeitig ins WTC gerauscht und auch das Pentagon unmittelbar getroffen. Zudem: Der vermutete Plan, nach 3 Abstürzen anschliessend die Air Force One abzufangen, war nur möglich mit der entsprechenden Zeitverzögerung.
      Ob also daraus gleich ein inniges Verständnis der amerikanischen Zivilisation geschlussfolgert werden kann? Naja...
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 13:40:34
      Beitrag Nr. 8 ()
      @ boardmail
      die täter, so verstehe ich das, haben für diesen terroranschlag ein drehbuch gewählt, das aus der intimen kenntnis der filmfabrik und dem selbstverständnis des american way of life stammt und nicht aus einem muslimischen selbstverständnis.


      gruss antigone
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 13:44:00
      Beitrag Nr. 9 ()
      @ neemann
      eben nicht gleichzeitig. es mußte gewährleistet sein, dass die welt vor den bildschirmen hockt, in erstarrung begriffen. dazu braucht man im medienzeitalter vielleicht eine viertelstunde. das ist die inszenierung, die ich sehe.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 13:46:54
      Beitrag Nr. 10 ()
      @ neemann
      du scheidest wegen mangelhafter kenntnis der dramaturgie aus :laugh:
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 13:47:42
      Beitrag Nr. 11 ()
      neemann, jetzt übertreibst du aber auch... ich gehe einig, dass enzensberger interpretiert wie du schreibst....

      aber bereits 1975 das durchziehen? ich denke mobilephones und internet waren wichtige werkzeuge bei der planung und ausführung. es ist beinahe haarspalterei, die zeitlichen unterschiede der beiden angriffe als `nicht minuziös` zu betrachten, ziel ist offenbar erreicht worden. irgendwie scheint mir deine argumentation kleinlich, ich denke, "Inspiriert von der symbolischen Bildlogik des Westens" das wissen, dass CNN etc. diese bilder ununterbrochen senden werden, diese berechnung ging auf und zeugt schon von `viel verständnis` für die mediengesellschaft. wobei diese auch global ist.

      ich kann diesen satz nicht verstehen:
      "Vor allem aber wirft es ein Licht auf die angeblichen Überzeugungen der Täter."

      wirft es ein licht auf die überzeugungen? sind die überzeugungen nur angeblich? welches sind jetzt die übrzeugungen? dooofe hochgeschraubte sprache.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 13:51:16
      Beitrag Nr. 12 ()
      Neemann, Bild und Gegenbild,
      ich denke, es geht hier doch um die Symbolik. Selbst ein brennendes White House, wäre medial nicht so aufregend und hypnotisierend gewesen. Die Faszination Hollywoods an explodierenden Häusern, Autos etc. ist in zynischer Weise zurückgekehrt. Allein die Tatsache, daß sich die Terroristen unser alltäglichen Technologie bedienen, und schon Khomeni seine Botschaften auf westlichen Tapes verbreiten ließ, zeigt doch, daß die Ablehnung der wstlichen Lebensweise, nicht logisch durchgehalten wird, und nur für die Schwächeren gilt, niemals aber für die Anführer.

      Gruß
      H.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 13:51:19
      Beitrag Nr. 13 ()
      aha antigone, jetzt hab ich verstanden. es wirft ein licht auf die täter, die religiöse überzeugungen haben, aber gegen diese überzeugungen handeln.

      das ist wohl bei jedem krieg so. ein paar denken immer, sie müssten sich eben opfern, die idee opfern, damit die idee dann leben kann.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 13:53:11
      Beitrag Nr. 14 ()
      Antigone,
      und du glaubst, die haben derart gut recherchiert, dass sie das exakt geplant haben?

      Ich glaub nicht mal, dass die wusste, dass das gebäude einstürzen würde. Dass der Stahl schmilzt, damit hat offensichtlich nicht einmal die Einsatzleitung der rettungskräfte im Traum gedacht.
      Eine hohe Opferzahl kriegt man aber vor allem dann hin, wenn nach dem ersten Einschlag möglichst wenig zeit vergeht - schliesslich waren im zweiten Turm die meisten auf dem Weg nach unten.

      Und dann nochwas: Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die eigentlich über genügend daten verfügen, um einen so genauen Abstand hinzubekommen, sondern glaube vielmehr an den Versuch, die Türme möglichst gleichzeitig zu treffen.

      Man kann aber die notwendigen Daten, um es dann exakt hinzubekommen, unauffällig sicher nicht besorgen:

      -> Welche Geschwindigkeit genau herrscht in der Aufstiegsphase? (Das ist zudem auch noch wetterabhängig)
      -> Welcher exakte Bogen beim Aufstieg wird eigentlich beschrieben, wie sieht km-genau die Fluglinie zunächst aus?
      -> Dann braucht es auch nur geringe Verzögerungen bei den starts gegeben zu haben etc. usw.
      An Einflussfaktoren gibt es eine Menge. Zudem müssen Flüge weitgehend unauffälig gebucht werden, es müssen wegen der Wetterlage bestimmte tage sein, es müssen bestimmte Maschinen sein, es muss genug Platz für die verschiedenen Reservierungen unproblematisch geben - all das engt den Zeitkorridor für jemanden, der wirklich minutiös plant, ein.

      Horror gibts genug durch die kameras, ob der Einschlag gerade gefilmt wird oder nicht. Und der wahre zeitverzögerte Schrecken ergab sich auch erst durch das Kollabieren später.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 13:57:51
      Beitrag Nr. 15 ()
      Ich bestreite überhaupt nicht, dass das Ziel durchaus symbolisch gewählt wurde, ich zweifle nur daran, dass es eine mediale Inszenierung gewesen sein soll.

      Wenn ich das Minuziöse aufgebe, ist es doch völlig unproblematisch, diesen Anschlag auch 1975 durchzuziehen.
      Ich glaube vielmehr, dass jetzt medial viel zu viel in den Anschlag hineininterpretiert wird. Er sollte möglichst viel zerstören, möglichst viele Leute treffen. Fertig. Das ist heute unumgänglich mit pausenloser tagelanger CNN-berichterstattung verbunden. Aber weil es so war, heisst es nicht im Umkehrschluss, das darauf gesondert geachtet werden musste. Aber was bleibt Theoretikern übrig als sich den Kopf qualmen zu lassen ob der symbolik und ihrer Bedeutung?
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 13:58:34
      Beitrag Nr. 16 ()
      Boardmail,
      vor einigen Jahren hat Enzensberger anläßlich des Golfkrieges einen heißdiskutierten Aufsatz geschrieben, in dem er die Motivation Saddams mit der von Hitler verglich, in der Weise, daß beide keine ideologische Grundlage hätten, sondern die Todestrieb hinter der Fassade stecke. Alle angeblichen Überzeugungen oder Weltanschauungen, sind Maskerade. Die jeweiligen Feinde und Feindbilder sind austauschbar, je nach der augenblicklichen Lage. Beiden gemeinsam wäre kleine Überlebenslogik, oder Selbsterhaltung, sondern der Wunsch nach der kompletten Zerstörung.
      Das hat ihm damals viel Kritik eingebracht von der Seite, die Wert darauf legte, daß Hitlers Verbrechen einmalig seien, und so relativiert würden.

      Gruß
      H.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 14:00:22
      Beitrag Nr. 17 ()
      Dann müßten ja nach eurem Dafürhalten Computerhacker und solche, die Viren produzieren, ähnliche Beweggründe haben.

      F
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 14:08:16
      Beitrag Nr. 18 ()
      @ neemann
      nehmen wir an, es ist durchdacht bis ins detail. trauen wir uns das nur nicht zu denken?
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 14:14:32
      Beitrag Nr. 19 ()
      Wenn es bei den Attentätern eine Strategie der Vernichtung gäbe, hätten sie effektivere Mittel finden können, um noch mehr Menschen auszulöschen. Das sollte wohl eine Art Fanal sein, die medial bis in die letzten Winkel der Welt getragen werden, und das auch noch Live. Bilder von massenhaft vergifteten Menschen, die aus den Städten flüchten, hätten niemals diese Wirkungskraft erreicht. Also ging es hier um Symbolik, für die wohl mehrere Jahre Vorbereitung stattgefunden hat.

      H.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 14:16:54
      Beitrag Nr. 20 ()
      @antigone,
      Warum sollte es schwierig sein, dass zu denken?

      Aber wer immer das geplant hat, wird, da bin ich mir sicher, eine Priorität walten lassen: Unauffälligkeit bis zum Schlag! Das bedeutet aber auch, dass man seine Informationsbasis begrenzen muss, weil zu eingehende Recherche über die exakten Flugdaten und -linien auffällig werden könnte.
      es verbietet einfach die Erfolgsaussicht eines solchen Unternehmens, zu viel Rücksicht auf irgendwelche Symbolik nehmen zu wollen. Und warum auch? Zweifelt jemand, dass sich Fernsehbilder vom Einschlag finden werden? Hätt ich nie, selbst wenn nur eine Minute dazwischengelegen hätte oder nur 30 Sekunden. Selbst die Concorde ist gefilmt worden; auf ein solches gebäude ist bei klarem Tageslicht immer etwas gerichtet, da brauchte man sich nun wirklich keine gedanken mehr drüber zu machen.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 14:21:43
      Beitrag Nr. 21 ()
      Heizkessel, nochmal: ich bestreite nicht die Symbolik des Ziels; Du wirst auch nicht bestreiten, dass sie unter der gewählten Nebenbedingung, dieses Symbol zu zerstören, gleichzeitig die Opferzahl möglichst hoch halten wollten - das aber impliziert möglichst wenig Zeit zwischen den Einschlägen.

      Ich halte es lediglich für abgehobene Theoretisiererei, jetzt den tagesablauf zu sehr interpretieren zu wollen, weil etwa einige Minuten zwischen den Einschlägen lagen.
      Ich habe die Nebenbedinungen sicher noch nicht vollständig aufgeführt, die hätten beachtet werden müssen, um wirklich einen minutengenauen Ablauf durchführen zu können. Aber die Infobasis dafür ist zu groß und zu riskant, das bleibt meine meinung.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 14:21:51
      Beitrag Nr. 22 ()
      Ob geplant, oder darauf spekuliert, daß immer irgendwo eine Kamera draufgehalten wird ist doch nicht entscheidend. Enzensberger hat irgendwo mal geschrieben, daß die mediale Verbreitung von Verbrechen, auch immer Werbung für die Tat sei. Und bei diesem Ausmaß weren sich ganz sicher Nachahmer finden, die dann in der Bedeutung des Verbrechens evtl. mit den jetzigen Attentätern konkurrieren wollen.

      Gruß
      H.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 14:33:13
      Beitrag Nr. 23 ()
      @Heizkessel,
      das letzte bestreit ich nicht, die mediale Wirkung sollte erzielt werden und wird ihre Wirkung entfalten. Ich habs in meinem `Krieg`-Thread im Sofa auch geschrieben: Ach die potentiellen Attentäter auf der Welt begreifen jetzt erst, was sie bewirken könnten.

      Aber das führt mich zu einem weiteren Punkt, bei dem ich glaube, Enzenberger überinterpretiert etwas.
      Lust am Untergang, Selbstzerstörung auch der Unschuldigen, des eigenen Volkes etc. - das alles konstatiert er, und das alles wird - korrekt - auch deswegen um so schlimmer eintreffen, je spektakulärer das zerstörte Ziel war, je tiefer es sich ins bewusstsein eingräbt.
      Aber Enzenberger vernachlässigt ganz profane strategische Ziele - nämlich simpel die Hoffnung der Extremisten, dass, je heftiger der gegenschlag sein wird, um so grösser der Zusammenhalt in der islamischen Welt werden wird. Sie nehmen unschuldige Opfer der eigenen Bevölkerung in Kauf, nicht so sehr aus irgendeiner möglichen Lust am untergang, sondern vielmehr in der Hoffnung, damit die eigene Machtbasis durch den engeren Zusammenhalt gegen den dekadenten Westen zu vergrössern.

      Das sind dann aber nicht mehr psychologisch Gründe, sondern schlichte Kriegsstrategien.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 14:35:21
      Beitrag Nr. 24 ()
      Niki Lauda hat behauptet, daß die Flugzeuge per Hand gesteuert und nach Sicht geflogen wurden. Insofern war der Zeitpunkt wohl eher zufällig und vom Wetter abhängig. Wenn es Nebel gegeben hätte, wäre es an einem anderen tag, womöglich zu einem anderen Zeitpunkt passiert.

      Daß der Zeitpunkt für Angriffe sich an der Tageszeit orientieren, zu der möglichst viele Menschen gleichzeitig getötet werden können, kennen wir spätestens seit dem Vietnamkrieg, bei solche Überlegungen eine Rolle spielten.

      Der Geist kann sich wohl alles ausdenken.

      Nochmal zur Symbolik, wenn an der gleichen Stelle ein World Hospital, oder ein World Zoo gestanden hätte, wäre es vielleicht nicht ins Visier gekommen. World Trade steht für den modernen Austausch aller Art. Enzensberger schreibt von der Negation der Moderne, durch die Verlierer. Symbol für den "Imperialismus" des Westens ist die Wirtschaft der USA, die, nach den islamischen Führern, mit den "terms of trade", bestimmen, welche Regionen vermarmen, und welche regionen zu den Gewinnern gehören. Denkt man Enzensberger weiter, wäre der "internationale Klassenkampf" wahrscheinlich auch nur eine weitere Kostümierung für die Selbstzerstörung.


      H.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 14:36:39
      Beitrag Nr. 25 ()
      Neemann, wir sollten aufhören, gleichzeitig zu schreiben.:laugh:

      H.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 14:38:50
      Beitrag Nr. 26 ()
      @ neemann
      was heizkessel anspricht, ist zentral. es geht wohl auch aber nicht primär um die menschenopfer. es geht um eine dramatische, apokalyptische lektion für die überlebenden. kurz gesagt: um die besetzung der hirne, das ersetzen der individuellen freiheit durch die herstellung der kollektiven bereitschaft zum weiteren opfer, um die unterwerfung unter die logik des terrors.

      nehmen wir an, es sind all diese recherchen möglich gewesen, ohne dass der anschlag vereitelt worden ist.
      es geht beim menschenopfer um die (zumindest imaginierte) anwesenheit, d.h. krude gesagt, das live-erlebnis. und das kannst du nicht mit nachgereichten aufnahmen erreichen. ich höre von dem ersten flugzeug, ich schalte den fernseher an, ich bin live beim aufprall des zweiten dabei. und ich weiss in diesem moment, das ist kein zufall, das ist terror...
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 14:52:25
      Beitrag Nr. 27 ()
      antigone,
      es geht genau um die Besetzung der Hirne. Ich denke, daß die Amerikaner spüren, daß sie in der Defensive sind und seit Tagen versuchen, dem Geschehenen etwas entgesenzusetzen. Mal abgesehen davon, daß Patriotismus anders gelebt wird, als in Europa, ist die Welle, der Einigkeit, die im Fernsehen seit Tagen propagiert wird, (mit so und so vielen verkauften Fahnen im WalMart, den von den Medien produzierten Helden von Ground Zero, die anschließend nichts Besseres zu tun haben, als die Börse zu eröffnen usw.)
      Die Propaganda ist allgegenwärtig, eine Art Überlebensinstinkt, und zugleich Staatsraison.
      Die Wahrheit ist nicht entscheident. Wichtig ist, was man glauben will, oder muß, um zu überleben, oder den Bilderkrieg zu gewinnen.

      Interessant aus dem NM Forum sind ja die Aufnahmen von FOX:

      http://www.foxnews.com/story/0,2933,34238,00.html#video

      (Auf east Angel 2nd plane.. klicken)

      Was ist denn da tatsächlich zu sehen?
      Und wieso erfährt man nirgends was über den Absturz des 4. Flugzeuges. Hier liegt schon wieder der Urschlamm für allerlei Theorien und Mythen.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 15:01:04
      Beitrag Nr. 28 ()
      @ heizkessel
      da muss ich passen. beim aufspielen des realplayers ist mein pc abgestürzt :laugh:
      seitdem lebt ich ohne :D
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 15:06:16
      Beitrag Nr. 29 ()
      Heizkessel - in welchem Thread wird das diskutiert? Was ist das? :confused:
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 15:07:20
      Beitrag Nr. 30 ()
      gefunden
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 15:09:22
      Beitrag Nr. 31 ()
      aus dem gleichen Buch wie oben genannt:

      (S. 50) <Um es psychoanalytisch zu sagen: dem Menschen sind bei der destruktiven Aggression die Motive nicht bewußt. Die konstruktive Aggression steht unter Kontrolle des Ichs, die destruktive Aggression nicht. Aggression ist konfliktfrei, Destruktion ist aus Konflikt geboren. Auch die derzeitige kulturanthropologische Forschung hat keine Anhaltspunkte für einen angeborenen menschlichen Zerstörungstrieb erbringen können ... Ganz im Gegenteil, von der völkerkundlichen Empirie her fragt man sich heute (Anmerkung: erschienen 1973), ob die Aggression nicht ein anerzogenes Verhalten und Kriege ein Kulturprodukt seien. Ich betrachte destruktive Aggression als reaktiv. Ihr einen Zerstörungstrieb zuzuodnen, halte ich für ebenso verfehlt wie die Theorie einer angeborenen Schizophrenie. ...
      Mit der Genese destruktiver Aggression aus der Dynamik unbewußter Konflikte hat besonders Anna Freud (1936) sich beschäftigt. Sie beschreibt das Wüten gegen den sogenannten Schuldigen in der Außenwelt als Vorläufer und Ersatz für das Schuldgefühl, Vorgänge, die wir als Psychoanalytiker bei Depressionen und depressiven Charakterneurosen feststellen können. Die Angst, die beim psychisch gesunden Menschen eine Warn- und Schutzfunktion hat, ... hat bei konfliktbehafteten Menschen irrationalen Charakter. Der Patient spürt sie, ihre Ursachen sind ihm jedoch aufgrund der Verdrängung nicht bewußt. Dieses irrationale Moment überträgt sich auf die destruktive Aggression, die man als Abwehr der Angst vestehen kann, wobei die Stärke der Aggression der Intensität der Angst entspricht. >
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 15:12:36
      Beitrag Nr. 32 ()
      @ heizkessel
      stimmt, die wahrheit ist nicht entscheidend. jetzt, für die traumatisierten, das ist wohl wahr. daher fordert die logik des terrors ein feindbild, das die frage nach der möglicherweise unerträglichen wahrheit erst gar nicht aufkommen läßt.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 15:18:40
      Beitrag Nr. 33 ()
      antigone, das folgende... "daher fordert die logik des terrors ein feindbild, das die frage nach der möglicherweise unerträglichen wahrheit erst gar nicht aufkommen läßt."


      erinnert mich an ein gespräche heute früh mit einer freundin.
      ich: wieso haben forsyth, spielberg die idee, ein flugzeug in ein hochhaus zu steuern nicht als roman- oder filmstoff verwendet. beide sagten, sie hätten die idee als nicht glaubwürdig betrachtet ...

      freundin: vielleicht durfte es einfach nicht wahr sein, dass flugzeuge als bomben missbraucht werden, weil man ja noch grössere flugzeuge bauen will, den flugverkehr noch mehr ausbauen will ...
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 15:24:31
      Beitrag Nr. 34 ()
      Häh?
      Wieso sollten sich Forsyth oder Spielberg mit ihren POrojekten zurückhalten, wenn andere grosse Flugzeuge bauen wollen? Oder wieso sollten sie sich selbst unbewusst manipulieren und nicht daran glauben wollen mit dem Argument, andere wollen grosse Flugzeuge bauen? Und ausgerechnet die beiden?


      PS. Dann war das also konstruktive Aggression, ja?
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 15:25:39
      Beitrag Nr. 35 ()
      Und wie konnte dann The Day After gedreht werden?
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 15:33:08
      Beitrag Nr. 36 ()
      forsyth hat geschrieben (in einem interview die letzten tage) er habe den stoff mal im kopf gehabt, aber gedacht, dass es zu unglaubwürdig sei

      ALLE, auch die geheimdienste haben offenbar nicht mit sowas gerechnet.

      jedenfalls wurde ein solches drehbuch nie geschrieben und nie verfilmt -
      ich schaue mir eh keine solchen filme an, ich weiss nicht, was den zuschauern geboten wird. ich denke um himmels willen nicht, im sinne von konspiration oder so, aber vielleicht hatten ALLE die schere im kopf, weil es einfach nicht wahr werden sollte....

      ich habe mit jemandem besprochen, dass spielberg und forsyth das obige ausgesagt haben - eben weil ich es nicht so recht verstehe.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 15:43:43
      Beitrag Nr. 37 ()
      Ich weiss nicht, ob das mit der Schere im Kopf zutrifft.

      Ich kann es auch umgekehrt deuten - das ganze kann auch als Gesamtkunstwerk der drei Bruce-Willis-Filme (Die hard) gedeutet werden.

      Teil 1: Terroristen im Hochaus
      Teil 2: Terroristen im Flughafen
      Teil 3: Bombenterror in New York

      Vielleicht sind noch keine Filme gedreht worden, in denen Flugzeuge in Hochhäuser fliegen, aber auf der anderen Seite haben die Little Rock-Kids, die wild um sich geschossen haben, angegeben, als nächstes hätten sie ein Flugzeug entführen wollen und ins WTC rasen wollen. Schere im Kopf? Vielleicht verbot sich Spielberg & co. der Stoff, weil Kinder solche Pläne publik machten.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 15:46:51
      Beitrag Nr. 38 ()
      ich sah neulich im board einen bildausschnitt aus einem videoclip, auf dem genau dieses szenario des brennenden wtc kurz vor der katastrophe umgesetzt worden war. das ding wurde natürlich gar nicht erst auf den markt gebracht.

      thema geheimdienst. für mich ist es nach wie vor nicht erklärlich, wie derartig komplizierte und langwierige planungen zu keinem zeitpunkt auffallen erregt haben sollen. für mich ist nicht erklärlich, warum der hinweis eines abschiebehäftling in den tagen vor dem anschlag absolut übergangen wurde. immerhin hat es der mann geschafft, sein anliegen mit solcher vehemenz deutscher polizei vorzutragen, dass ihm u.a. die telefonische verbindung nach washington gestattet wurde.
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 16:43:15
      Beitrag Nr. 39 ()
      Über den Zwang zur Steigerung (seitens der Planer):
      M. Foucault, Psychologie und Geisteskrankheit, Suhrkamp TB 1968

      (S. 64f) >Aber nicht jeder Konflikt ruft eine krankhafte Reaktion hervor, und die Spannung, die aus ihm entsteht, ist nicht zwangsläufig pythologisch; Spannung ist wahrscheinlich sogar das Grundgewebe jedes psychologischen Lebens. Der Konflikt, den der neurotische Kompromiß zu Tage fördert, ist nicht einfach ein äußerer Widerspruch der objektiven Situation; sondern ein immanenter Widerspruch, dessen Glieder sich so vermischen, daß der Kompromiß, statt eine Lösung zu bringen, den Konflikt letzten Endes nur vertieft. Wenn ein Kind stiehlt, um eine verlorene Affektion wiederzugewinnen, und seine Skrupel dadurch beruhigt, daß es sich beim Stehlen erwischen läßt, so ist klar, daß seine Tat ihm im Ergebnis zwar die begehrte Strafe einbringt, ihm aber auch die ersehnte Affektion nur desto mehr entzieht, seinen durch den Diebstahl symbolisierten Wunsch nach Besitzergreifung steigert und die nur augenblicklich befriedigtgen Schuldgefühle erhöht. Frustrationserfahrung und Schuldreakgtion sind also verbunden, nicht als zwei divergierende Verhaltensweisen, die sich in das Vorgehen teilen, sondern als widersprüchliche Einheit, welche die Bipolarität ein und desselben Verhaltens bezeichnet. Der pathologische Widerspruch ist nicht dasselbe wie der normale Konflikt: dieser bricht von außen in das affektive Leben des Subjekts ein; er ruft entgegengesetzte Verhaltensweisen im Subjekt hervor, macht es schwanken, er löst Handlungen aus und läßt danach Gewissensbisse entstehen; er kann den Widerspruch bis zur Inkohärenz steigern. Aber die normale Inkohärenz ist von der pathologischen Absurdität strengstens unterschieden. Diese lebt aus dem Widerspruch im Innern. Die Kohärenz, die der Eifersüchtige aufbietet, um seine Frau der Untreue zu überführen, ist vollkommen, ebenso vollkommen die Kohärenz des Zwangsneurotikers bei seinen Vorbeugungsmaßnahmen. Aber diese Kohärenz ist absurd, weil sie, je besser entwickelt, den Widerspruch, den sie zu überwinden sucht, nur desto mehr vertieft. >
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 16:57:03
      Beitrag Nr. 40 ()
      Weshalb Psychologie?
      H. Schär, Religion und Seele in der Psychologie C. G. Jungs,
      Lizenzausgabe Löwit

      (S. 73ff)
      <Er (Jung) zögert nicht, religioöse Erfahrung als psychologisch zugänglich zu erachten und er macht keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen religiösen Vorgängen und anderen seelischen Geschehnissen. ... Religion ihrerseits bestimmte Funktionen in der Herstellung der Ganzeit der menschlichen Persönlichkeit hat. .. sondern er ist letztenendes der Ansicht, daß im Unbewußten der Ort der religiösen Funktion ist. Das bedeutet eine Umstellung vieler überlieferter Ansichten, denn bisher wurde die Religion wesentlich mit dem Geiste verbunden. .. Aber die Religionen, die nicht geistige Religionen sind, nannte man Naturreligionen und betrachtete sie als eine von der Menschheit zu überwindende Stufe. Wenn Freud Religion und Unbewußtes einander genähert hat, so blieb das ohne Folgen. Denn Freud selber wollte ja eine Destruktion der Religion ... Unbewußt heißt nicht, der eigenen Persönlichkeit entstammend, da es seelische Wiklichkeit jenseits der Persönlichkeit und des Ichs gibt. Es handelt sich also um seelische Bereiche, die jeder menschlichen Willkür und Beeinflussung entzogen sind.>
      (Der Autor nimmt Bezug auf das Werk "Psychologie und Religion" von C. G. Jung.)
      Avatar
      schrieb am 18.09.01 16:57:44
      Beitrag Nr. 41 ()
      @Wilma,
      was heißt denn Kohärenz in dem Zusammenhang, das was es immer heißt, oder ist das ein wissenschaftlicher Begriff?

      Gruß
      H.
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 08:13:25
      Beitrag Nr. 42 ()
      Nich was zur Schere im Kopf - in einem sicher viel gelesenen Bachman-Roman wird ein Flugzeug in ein Hochhaus geflogen.
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 08:43:34
      Beitrag Nr. 43 ()
      heute morgen aus dem germanasti-thread rauskopiert. da bin ich aber mal gespannt.....


      Ein kurzes Wort noch zu dem unverständlichen Anschlag und diversen Leerverkäufen im Vorfeld, die momentan durch die Presse geistern: Es ist korrekt, dass einige Marktteilnehmer im Vorfeld massive shortpositionen bezogen haben. Ob diese im Zusammenhang mit dem Anschlag stattgefunden haben, kann und wird von niemandem bestätigt werden, doch spricht verdammt vieles dafür. Die Kursverläufe in den Tagen zuvor sprechen eine deutliche Sprache. Mehr dazu nach dem Wochenende, wenn etwas Zeit zum analysieren und forschen war.
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 08:56:12
      Beitrag Nr. 44 ()
      @Antigone
      @Heizkessel

      Habt ihr gestern abend Boulevard Bio gesehen. Thema war natürlich das Weltgeschehen. Sehr interessante Gäste. Insbesondere Roger Willemsen (da dürftet ihr einige Parallelen zu euren Postings festgestellt haben).

      Wie Bio sich am Schluß verbogen hat, um die Willemsen-Meinung zu entschärfen; der hat ja fast Blut und Wasser geschwitzt.

      Ehrlicherweise muß man auch zugeben, daß sich Willemsen an seinen eigenen brillianten und geschliffenen Sätzen förmlich selbst befriedigt, ohne zu merken, daß er sich dabei um Kopf und Kragen redet.

      Wenn ihr`s nicht gesehen habt, würde ich es mir an eurer Stelle nicht entgehen lassen. Müßt euch nach Wiederholungen erkundigen.

      Gruß F
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 09:13:08
      Beitrag Nr. 45 ()
      @ fishey
      nö, ich war im kino. hab mir "die fabelhafte welt der amelie" angeschaut und kann den film nur jedem empfehlen, der unsere täglich verabreichte dosis manipulierten wahnsinn gründlich satt hat.
      danke für den tip. werde mich nach einer wiederholung umsehen.

      gruss antigone
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 09:15:44
      Beitrag Nr. 46 ()
      Antigone, zu dem Thema hab ich anderswo bereits gepostet - ich finde ein reiches Maß an Selbstüberschätzung vor, wenn ich so lese, wer sich alles gedanken über Kursverläufe und Optionen macht.
      Dass sich Bin Laden über die Börse am Anschlag bereichert hat, ist unschwer vorstellbar und wahrscheinlich.
      Dass das in irgendeiner Form anhand von Kursverläufen abzulesen wäre, ist albern. Das sind Top-Terroristen, und die werden nicht so blöd sein, ihre Wertpapiergeschäft so auszuführen, dass das irgendein Händler oder Marktbeobachter bemerken könnte. Es hat augenscheinlich jedermann vergessen, dass in den Tagen vor dem Anschlag die Märkte allgemein auf Talfahrt waren. Wenn einer wie Bin laden mit Optionen seinen Finanzen aufbessert, so gibt es derart viele Möglichkeiten auf der Welt, in sehr vielen Ländern von nahezu allen zyklischen Blue Chips Puts zu erwerben, dass dies auch ohne Kursbeeinflussung geht.
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 09:29:42
      Beitrag Nr. 47 ()
      @ neemann
      volle zustimmung, ein bin laden beeinflusst keinen kursverlauf. mich interessieren die gedanken dennoch. selbstüberschätzung ist gelegentlich, um sich nicht blenden zu lassen, dienlicher als unterwerfung. das pendelt sich schon wieder ein ;)

      gruss antigone
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 09:32:32
      Beitrag Nr. 48 ()
      :)
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 10:20:13
      Beitrag Nr. 49 ()
      neemann, ich habe meine überlegungen zur `schere im kopf` ausdrücklich als antwort auf antigones aussage geschrieben:

      "daher fordert die logik des terrors ein feindbild, das die frage nach der möglicherweise unerträglichen wahrheit erst gar nicht aufkommen läßt."

      ich finde nun mal, dass das ein wichtiger satz ist, ich erlebe auch hier an board immer, dass die leute nicht das lesen wollen was man schreibt, wenn es ihnen nicht passt.

      dein vorwurf der `selbstüberschätzung` wundert mich nicht, du bist überheblich und verdrehst gerne was geschrieben wird. dieser satz:

      "Noch was zur Schere im Kopf - in einem sicher viel gelesenen Bachman-Roman wird ein Flugzeug in ein Hochhaus geflogen."

      impliziert, ich hätte geschrieben, es wäre nie ein produkt entstanden, das obiges thema habe. es hat keinen sinn, wenn du behaupten willst, ich schreibe bullshit. ich habe nie angedeutet oder gemeint, ein solcher stoff wäre nicht geschrieben worden, weil irgendein druck ausgeübt wurde.

      ich meinte, dass ausdrücklich in interviews von forsyth bekanntgegeben wurde, dass der stoff obwohl gedacht nicht verwendet wurde von ihm, weil er es (für die masse) für unglaubwürdig hielt. (dann las ich, dass auch spielberg sagte, er habe diesen stoff aus irgendwelchen gründen nicht verfilmt) Da ich im weiteren überall gelesen hatte, dass die geheimdienste etc. sich gegen alles mögliche gewappnet hatten, NICHT aber gegen dieses szenario stellte ich das direkt in zusammenhang mit dem satz:

      "daher fordert die logik des terrors ein feindbild, das die frage nach der möglicherweise unerträglichen wahrheit erst gar nicht aufkommen läßt."

      ----

      wenn nun meine freundin antwortete, dass der grund vielleicht sein könnte, dass man immer grössere flugzeuge bauen wolle... - ist das erlaubtes weiterspinnen ...

      vielleicht kommt man so auf gewisse `WAHRHEITEN` - zum beispiel, dass autoren etwas nicht schreiben, das sie daran hindern könnte, morgen ein flugzeug zu besteigen, weil sie sich der realen gefahr unmittelbar bewusst wären und dies verdrängen möchten...

      dies ist nur ein beispiel, du kannst meinetwegen antworten, ich sei eine dumme hausfrau oder ich sei durchgeknallt - vielleicht wären aber ein paar durchgeknallte denker in den geheimdiensten vonnöten um das verkalkte denken etwas aufzufrischen.

      autoren wissen längst, dass wahr werden könnte oder sogar wahr wird, was sie schreiben. hier von stanislaw lem (interview):

      Doch nun, zu seinem 80. Geburtstag, will Lem nichts mehr von Unsterblichkeit wissen und auch nichts von der Intellektronik. "Ich betrachtete damals meine Visionen als ein unschuldiges Spiel, denn der Grund fehlte, auf dem sie Wirklichkeit werden könnten. Schon bald stellte es sich leider heraus, dass sie eine reale Gestalt annehmen. Dies ist einer der wichtigsten Gründe, warum irgendwo tief in mir der Entschluss reifte, mit Sciencefiction nicht mehr zu spielen", schrieb er kürzlich in der polnischen Wochenzeitung "Tygodnik Powszechny". Seine Sorgen - und seine essayistischen Schriften - gelten nun vor allem der Gegenwart.

      also entweder ist es wahr, dass sich die geheimdienste dieses szenario nicht ausdenken konnten ... dann fehlen ihnen ein paar hausfrauen im team...
      oder es ist wie so vieles gelogen und sie wussten ganz genau um diese gefahr. da sie aber kläglich versagt haben, wir die tat als absolute spinnertat `abgetan`.
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 10:34:17
      Beitrag Nr. 50 ()
      Durs Grünbeins Notizen aus einer Welt, die keine Feuerpause kennt

      11. September

      Am Nachmittag schalte ich ahnungslos gegen Viertel nach drei das Fernsehgerät an und kann meinen Augen nicht trauen. Auf CNN zeigen sie live, wie im Süden Manhattans im vormittäglichen Sonnenschein die beiden Türme des berühmten World Trade Center wie zwei gewaltige Schlote rauchen. Minuten später sackt nach mehreren Explosionen zuerst der eine, dann der andere Turm in sich zusammen. So hat man sich die Vernichtung europäischer Städte im Zweiten Weltkrieg vorzustellen. Es sind Bilder, wie man sie von Coventry und Dresden her kennt. Erschreckend daran ist der unglaubliche Anachronismus. Wohlgemerkt, wir befinden uns in der sogenannten Gegenwart, im Jahre 2001. Über Tausende Kilometer überträgt sich augenblicklich ein Gefühl von Panik. Die Knie werden weich, ich muß mich setzen und merke, wie der Körper in einen seltsamen Erregungszustand gerät. Irgendein giftiger Zwerg hat den Riesen Amerika bei der Gurgel gepackt. Den scheinbar Unverwundbaren hat eine Tarantel gestochen. Dann überstürzen die Nachrichten sich. Die Zwillingstürme, heißt es, sind im Abstand von nur 18 Minuten von zwei Flugzeugen gerammt worden, die auf Linienflügen von Boston und Washington nach New York entführt worden waren. Ein Selbstmordkommando hat das Symbol der Weltwirtschaft vernichtet, den ranghöchsten Tempel des Gottes Mammon. Ein weiteres Flugzeug hat sich, man traut seinen Ohren nicht, in einen Flügel des Pentagon gebohrt. Und es kommt immer noch schlimmer. Zur gleichen Zeit, hört man, werden das Weiße Haus, das Capitol, das State Department und andere wichtige Bundesbehörden evakuiert. Nun bin ich hellwach und greife zum Telefon, um mir von Freunden bestätigen zu lassen, daß ich nicht träume. In Pennsylvania, unweit von Pittsburgh, stürzt ein viertes entführtes Flugzeug in einem Waldstück ab und hinterläßt einen dreieckförmigen Krater. Man nimmt an, daß auch diese Maschine auf Kamikaze-Mission gewesen war, wahrscheinlich mit Kurs auf das Weiße Haus. Binnen einer Stunde befindet Amerika sich im Ausnahmezustand.

      Der größte ernst zu nehmende Ernstfall ist eingetreten. The horror, the horror . . . Schlagartig fröstelt mich, der Herbst zieht mit Macht in die Knochen ein. Gebannt starre ich auf den Bildschirm, wo das Unverstellbare geschieht. Wenig später sind die beiden Türme verschwunden, und ich schwöre, ich habe den Phantomschmerz bis in die Zähne gespürt in meiner kleinen Bude im ruhigen verregneten Berlin. Durch die Straßen Manhattans ziehen mittlerweile gigantische Rauchwolken. Der Finanzdistrikt ist vollständig in Rauch und Staub eingehüllt. Augenzeugen berichten, eine gespenstige Ruhe habe sich ausgebreitet, kaum war der zweite Büroturm gefallen. Am hellichten Tag tappt ein Teil von New Yorks Bevölkerung plötzlich im Dunkeln. Tausende Fußgänger eilen verängstigt in Richtung Norden. Sie sind auf der Flucht vor einem namenlosen Entsetzen, nicht wie Menschen, die einen Katastrophenherd hinter sich lassen, sondern wie Zivilisten, die sich vor der anrollenden Front zurückziehen. Sogleich wird als Headline eingeblendet: "America under attack". Dieser Moment, soviel steht fest, wird weltweite Folgen haben. Er markiert das Ende einer Politik der Besonnenheit, der nationalen Selbstgenügsamkeit der Vereinigten Staaten. Von nun an wird die Doktrin sich anpassen an die mörderische Logik der Selbstvernichter, die ihrem Gott, einem sehr späten Gott, im Namen des Propheten Mohammed in Himmelfahrtskommandos entgegenziehen. Eben noch habe ich, nach einer Jemen-Reise, blasphemische Witze gerissen ("Dschihad, der Heilige Krieg, Dschihad. Doch es klingt wie Hatschi"), jetzt bleibt mir das Lachen im Halse stecken. Ich bin verwirrt wie damals als Schulkind, nachdem man mir Lenins Imperialismustheorie zu beweisen versucht hat. Zweimal habe ich in den neunziger Jahren als Adorant der Skyline Manhattans auf der Besucherplattform des World Trade Center gestanden. Jetzt ist alles Vergangenheit, unwiederholbar, und kein Gebet bringt den erhabenen Anblick zurück. Von diesem Augenblick, denke ich, werden die Enkel sich noch erzählen. Die beiden gefallenen Türme, über vierhundert Meter hoch in den Himmel gebaut, werden einen historischen Schatten werfen, der in vierhundert Jahren noch sichtbar sein wird.

      Und welche Erschütterung bringt dieser Tag. Die Hälfte der Weltbevölkerung hat sich, im Vertrauen auf die eherne Pax Americana, in traumhafter Sicherheit gewiegt. Wer immer unter dem Kontinente umspannenden Schutzschirm lebte, dem mußte, so behütet fühlte man sich, jeder Sprengstoffanschlag, jedes Guerrillaattentat der letzten Jahre als nichtige Stichelei erscheinen. Mir selbst stand Amerika, das Kindlich-Erhabene, zeit meines Lebens wie dem armen Karl Roßmann aus Kafkas Amerika als ein unverwüstliches Reich in der Ferne vor Augen. Nun mußte ich mit ansehen, wie das Zentrum bis in die Grundfesten erschüttert wird. Ein Erdbeben, ein Hurrikan sind nichts im Vergleich zu dieser von Menschen geplanten Katastrophe. Im Minutentakt werden die infernalistischen Szenen wiederholt, bis auch dem letzten die Lust an Actionfilmen ähnlichen Inhalts vergangen ist. Man schämt sich ein wenig, daß man die naive Begeisterung beim Betrachten von Filmen wie Independence Day geteilt hat, diesen pubertären thrill beim Anblick der Explosion des Weißen Hauses etwa. Es ist klar, daß im Moment der echten Aktion das Kino seine Unschuld verlor. Den Fernsehidioten wird hiermit die kindliche Zuschauerfreude an der Zerstörung der Großstädte ein für allemal ausgetrieben. Nunmehr dürfen sie sich selbst als Davongekommene betrachten, glückliche Zeitgenossen, die ein Zufall weit weg vom Unglücksort plazierte. Von nun an und für lange Zeit werden die Menschen wieder wie in Kriegszeiten mit gemischten Gefühlen zum Himmel blicken, wenn da ein Flugzeug im Tiefflug auftaucht. Die Angst der Großelterngeneration kehrt zurück und ist plötzlich schrecklich real. Einer der absurdesten Sätze, die am Ende des Tages fielen, war dieser: "Es kann keiner tiefer fallen als in die Hände Gottes." Wie geschmacklos, bedenkt man das Bild dieser Unglücklichen, die aus Verzweiflung vor den Flammen aus den oberen Stockwerken des Word Trade Center sprangen und mit wehenden Schlipsen vor der gläsernen Fensterfront des Gebäudes herabtrudelten wie schwarze Papiertüten. Wenige Minuten später waren auch sie begraben unter dem riesigen Trümmerhaufen.

      12. September

      Total arbeitsunfähig. Die Nachricht hat mich im Kern getroffen. Die Druckwelle, die von der blast zone in Downtown Manhattan ausging, war so stark, daß sie jeden einzelnen Körper in Europa getroffen hat. Das Gefühl, dabeigewesen zu sein, wie ein gezielter Terrorakt mit der Dynamik eines Dominoeffekts sich binnen Stunden zum Weltereignis erweitert, erzeugt einen Wirbel, der alle Bindungen lockert. Zum ersten Mal hat ein Drehbuch die wichtigsten Schauplätze der Weltpolitik kurzgeschlossen. Es ist der Moment der Sichtbarwerdung einer globalen Regie. Als hätten die Fernsehstationen der westlichen Hemisphäre seit Jahren nur auf dieses eine Szenario gewartet. Zur selben Zeit löst eine Reaktionskette auf mehreren Kontinenten die stärksten denkbaren Reaktionen aus. Orte wie New York und Kabul, Hamburg und Islamabad, Washington und Tel Aviv flammen wie Punkte auf der Richterskala nach einem Erdbeben auf. Aus bloßen Fluglinien sind augenblicklich politische Vektoren geworden in einem globalen Koordinatenfeld. Weit entfernte Hauptstädte werden zu Schauplätzen eines einzigen katastrophenhaften Geschehens. Amerika, das erste Land, das auf Geschichte verzichten wollte, nun ist es grausam eingeholt worden von der Geschichte.

      "Don`t look back!" riefen auf der Straße die Polizisten den Fliehenden entgegen. Ninive versank, und wie im biblischen Gleichnis Lots Weib zur Salzsäule erstarrte, wäre es jenen ergangen, die sich im Augenblick der Gefahr umgedreht hätten. So lähmend wäre der Anblick gewesen, daß sie versteinert von der Aschenflut überrollt worden wären. So half nur weiterzustolpern, mit gebrochenem Herzen, von der Druckwelle geschüttelt, fort vom Unglücksort, nichts als fort. Von den anderen, die in der Falle saßen, nur noch Minuten vom eigenen Ende entfernt, heißt es später, in der Sprache Darwins: "They didn`t make it." Wie fortgeblasen ist alle Ironie. Es ist, als hätte die Sprache im Moment des Deliriums nur noch die Wahl zwischen zwei Übeln, dem der Metaphorik des Alten Testaments und der faktischen Prosa der Evolutionstheorie.

      14. September

      Morgens CNN. Die Parole des Tages lautet: "America`s New War". Die Militärs sind nun dabei, das Schlachtfeld einzukreisen. Der Feldzug gegen Afghanistan nimmt Konturen an. Noch wissen sie nicht genau, was sie tun sollen, aber schon steht fest, daß sie das Mittelalter der Taliban-Herrschaft in die Steinzeit zurückbomben werden, wie ein martialistischer Zivilist aus dem Weißen Haus das Kriegsziel umschreibt. Eine ganze Bevölkerung, ohnehin auf den niedrigsten Lebensstandard herabgedrückt, soll nach dem Prinzip staatlicher Haftung büßen für einen Akt des diffusen, international operierenden Terrorismus. Der Vorgang scheint so normal, daß er an den Stammtischen keinerlei Unbehagen hervorruft. Die Ausgepowerten dieser Erde stehen fest an der Seite derer, die ab morgen die militanten Anwälte der Armut mit Lenkraketen bekämpfen. Ein grausiges Bild: In das Nest voller Vogeljungen mit ihren aufgesperrten Schnäbeln fallen statt der Hilfsgüter die Bomben. Ihr Nährwert bleibt zweifelhaft, einzig der Appetit auf Vergeltung wird nun bedient. Woher rührt dieser archaische Zirkelschluß? Wieso schlägt Trauer so leicht in Rachedurst um? Wir wissen es nicht. Inmitten der Trümmer unserer jüngsten Anthropologie, auf dem höchsten Standard von Theorie, stehen wir abermals nackt, um eine Antwort verlegen. Dies ist das Ende einer schönen Epoche, wie es der Dichter Joseph Brodsky in einem seiner Poeme besungen hat. Sein Gedichtzyklus erweist sich nun, wie so oft in der Dichtung, als Dokument einer vorauseilenden Rückschau.

      15. September

      Vision und Irrsinn. In den Zeitungen zerren sie jetzt die ollen Kamellen der Prophetie hervor. So wird etwa William Blakes "America. A prophesy" zum ominösen Dokument hochstilisiert, nur weil dort, zum Erstaunen des Sonntagslesers, die vier Orte der kommenden Katastrophe sich aufgeführt finden: New York, Boston, Pennsylvania und Virginia. Wunderbarerweise liegt das Pentagon auf dem Territorium des heutigen Bundesstaates Virginia. Der Rest bedarf keiner näheren Erklärung. Auch wenn das Gedicht aus dem Jahre 1793 stammt und, vor dem Hintergrund der Französischen Revolution geschrieben, auf den Unabhängigkeitskrieg der Vereinigten Staaten gegen das Königreich England anspielt: Im Feuilleton wird es mir nichts, dir nichts zum Menetekel umgedeutet, in dem das jüngste Geschehen tatsächlich vorweggenommen scheint. Eva wirft ein, daß es sich schließlich um Bastionen der damaligen Ostküstenkultur handelt. Mit anderen Worten, Blake hat einfach eins und eins zusammengezählt und daraus eine magische Abrechnung gemacht. Doch Zufall oder Intuition eines Dichters, die Zeilen eignen sich einfach zu gut für Spekulationen über die schreckliche Gegenwart. Daß die Gegenwart mittlerweile so leinwandbreit und großflächig geworden ist, daß im Grunde jede Vorhersage auf sie zutrifft, wird dabei geflissentlich übersehen. Immerhin, man bekommt eine Vorstellung, wie die Schriften solcher Zeit- und Raum-Jongleure und allegorischen Taschenspieler wie Nostradamus immer schon funktionierten. Im Bedarfsfall sind sie alle abrufbar, und das nur, weil ihre Textur grobmaschig genug ist, daß darin so gut wie jedes Großereignis der letzten fünfhundert Jahre sich eines Tages verfangen muß. Auf einmal paßt alles wieder zusammen, die Komplexität einer Zivilisation, die zuletzt von einem Soziologen wie Niklas Luhmann zureichend analysiert wurde, und die großen Erzählungen nach dem Muster des Gilgamesch-Epos, der Bibel und des Koran. In dieser nachtschwarzen Melange sind die Märchen der Brüder Grimm und das Tibetische Totenbuch eins. Natürlich liegt hier die tiefste Sehnsucht der Poesie, das Verlangen nach einem Reiseführer durch die Episoden der Menschheitsgeschichte. Es ist derselbe Geist, der einen T. S. Eliot beim Schreiben von Waste Land mit den geheimen Intentionen des Verfassers der Offenbarungen des Johannes verbindet. In der Zeitschrift Newsweek ist von einem "Ash-Tuesday" zu lesen, ganz so, als ließe auch dieses Eliot-Poem aus dem Jahre 1930 ("Ash-Wednesday") sich als Orakel entziffern. Und wirklich, heißt es dort nicht: "At the first turning of the second stair/I turned and saw below/The same shape twistend on the banister/Under the vapour in the fetid air/Struggling with the devil stairs who wears/The deceitful face of hope and of despair"? Und trifft nicht die Schlußzeile nunmehr uns alle? "And after this our exile." Tatsächlich, in der Nacht des Entsetzens sind alle Texte grau.

      Inzwischen gibt es präzise Opferzahlen. Unter den Trümmern des World Trade Center liegen annähernd 5000 Menschen begraben. Nach der numerischen Logik von Großmächten werden daraus demnächst mindestens 50 000 Kriegstote auf der anderen Seite. Noch leben sie, noch winken sie mit den weißen Fahnen der ohnmächtigen Zivilisten, genau wie die Büroangestellten im lodernden Käfig der Twin Towers, die Investmentbanker, Agenten, Computerspezialisten und ihre Briefträger und Sekretärinnen. Doch schon sind sie alle dem Tode geweiht.

      Endlich haben sich auch die ersten Intellektuellen zu Wort gemeldet. Susan Sontag warnt, zu Recht, vor dem mächtigen Drang zur Verdummung innerhalb der Demokratie. Gerade jetzt, wo ein Überfluß an Reflexion vonnöten wäre, dringt Patriotismus in das allgemeine gedankliche Vakuum ein. Der Teufel feiert wieder einmal Auferstehung. Die Regierenden reichen ihm galant die Hand wie einer ehrwürdigen Dame, die uns aus dem Schlamassel herausführen soll. Unter den Unpolitischen wird nun die gröbste Form der Politik zum rettenden Einfall, der Vergeltungsdrang zum beliebten Gesellschaftsspiel. Als könnte die Welt sich immer nur von der einen faulen Seite auf die andere wälzen. In solchen Wechselfiebern tritt die Geschichte auf der Stelle, als dürfe sie niemals zu Bewußtsein kommen. Der Racheimpuls ist so alt wie die Menschheit. Ein Erwachen daraus ist noch nicht absehbar. Allah, der jüngste der Allmächtigen, der zu spät gekommene Gott, hat erreicht, was einige seiner Gläubigen wollten: Er zwingt den anderen Weltreligionen seinen Rhythmus auf. Jahwe und Buddha und der Herr der Christenheit werden zu hilflosen Instanzen einer antiökumenischen Raserei. Das einzig Tröstliche neben den Girlies, kniend inmitten von Kerzenteppichen, sind dieser Tage die Rettungsmannschaften am Ort des Verbrechens. Ihr Teamgeist läßt einen Funken Hoffnung übrig. In ihm überlebt, wie selbstverständlich, eines der nobelsten Prinzipien der Menschheit.

      16. September

      Wer gibt dir das Recht, von alldem zu sprechen? Man muß sich vor Gleichnissen hüten, vor jeder Art von Erklärung und Einordnung ins historische Einerlei. Die Metapher schießt aus der Hüfte, doch was sie trifft, hat sich längst schon verändert. Die Worte selbst machen sich aus dem Staub. Nichts zeigt das Dilemma von Geschehen und Kommentar so deutlich wie dieser triumphierende Journalismus. Dabei wird alles weitergehen, wenn auch nicht für die Toten. Am Montag endlich kehrt die Börse zu den gewohnten Geschäften zurück. Es gibt keine Feuerpause in der zivilisierten Welt, weder im Nachrichtengeschäft noch im Sinngebungsbetrieb von Literatur und Universität und erst recht nicht im Aktienhandel. Aufstehen und weiterrennen, heißt die Devise.

      Einer der Nachrichtensprecher vergleicht das Trümmerfeld rings um das World Trade Center, von den Einsatzkräften ground zero genannt, mit dem Anblick bombardierter deutscher Städte am Ende des Zweiten Weltkriegs. "It looks like a kind of modern Germany." Während man in den Vereinigten Staaten von Kriegsveteranen hört, die sich freiwillig zum Kampf melden, erinnern in Deutschland die Alten nach mehr als fünfzig Jahren sich ihrer traumatischsten Lebensmomente. Evas Großmutter beschreibt zum ersten Mal ungefragt den Gang durch das zerbombte Dortmund, wo sie 1945 mit dem Kinderwagen unterwegs war zu einem der unzerstörten Krankenhäuser. Nie zuvor hat sie ihrer Enkelin von den Geschehnissen jener Tage berichtet. Wer hätte gedacht, daß dieser Erinnerungsschatz noch einmal gehoben werden würde? Solche spontanen Ausbrüche aus dem versiegelten Gedächtnis waren lang nicht mehr üblich in deutschen Familien. Jetzt steht alles wieder vor Augen, als sei es erst gestern passiert
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 10:36:58
      Beitrag Nr. 51 ()
      "Das ist Wahnsinn"

      Nachdenklich und schwer betroffen hat sich der Regisseur und Schauspieler Woody Allen, 65, über die Terrorangriffe in den USA geäußert. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE sagte er, er hoffe, dass der Vergeltungsschlag der USA nur in minimalem Umfang stattfinde.


      DPA

      Woody Allen


      SPIEGEL ONLINE: Mr. Allen, Sie waren vergangene Woche selbst in New York, als die beiden gekaperten Flugzeuge das World Trade Center attackierten. Wie haben Sie die Ereignisse wahrgenommen?
      Woody Allen: Es war ein Alptraum. Es war eine furchtbare und völlig sinnlose Tat. Die Täter haben 5000 Menschen, Amerikaner, Engländer, Chinesen, Mexikaner, Christen, Juden, Moslems umgebracht - ohne Unterscheidung auf grausamste Weise umgebracht, und mit welchem Nutzen? Ich möchte wirklich wissen, welches Ziel die Menschen, die dies geplant und ausgeführt haben, verfolgten. Niemand hat etwas dabei gewonnen - kein unterdrücktes Volk hat Befreiung erlangt, keine Religion ist hierbei zu Ehren gekommen.

      SPIEGEL ONLINE: Aber der internationale Terrorismus hat ein erschreckendes Gesicht gezeigt.

      Allen: Warum... was hat diese Leute so stumpf, so gefühllos gemacht? Was ist passiert, dass sie das Leben so wahrnehmen, dass sie zu solch furchtbaren, extremen Maßnahmen bereit sind? Wenn es ihnen nur um unbändigen Hass geht, würde ich sie als albernes Volk bezeichnen - dann lassen sie einem keine Wahl, als zu sagen: Töte, oder werde selbst getötet. Wenn es ihnen um nichts geht, als andere umzubringen, dann steht man dem Ganzen einfach hilflos gegenüber. Aber ich glaube nicht, dass das alles ist. Ich vermute, es ist weitaus komplizierter, und entsprechend muss man auch damit umgehen. Amerika und die ganze Welt muss sich bereithalten, mit allem Nachdruck zu reagieren. Aber wir müssen auch wirklich verstehen, was da passiert ist - und in der Lage bleiben, dies mit aller Gründlichkeit zu untersuchen. Wir müssen uns einem hochkomplexen Problem stellen, und dürfen nicht als verletzte, wütende Vereinigte Staaten auftreten.

      SPIEGEL ONLINE: Die intellektuelle Debatte steht momentan hinter den überschwänglichen Patriotismus-Demonstrationen und Kraftbeteuerungen hintan. Halten Sie das für gefährlich?

      Allen: Ja, sehr sogar. Ich halte es für notwendig, dass Amerika auf diese Anschläge reagiert, denn diese Taten fordern ohne Frage eine Reaktion heraus. Aber diese Reaktion muss sehr, sehr genau überlegt sein. Es wäre ein Fehler, sich auf eine emotionale, von Rachegelüsten geleitete Antwort zu verlegen. Es ist sehr wichtig, dass wir alles daran setzen, die Verantwortlichen zu finden, weil dies ein so furchtbares Verbrechen ist. Aber ich glaube keineswegs, dass das Problem des Terrorismus ein einfaches ist. Hier geht es um internationale Kooperationen, den Schutz der Zivilrechte, aber auch militärische Belange - wobei ich zutiefst hoffe, dass das Militär in minimalem Umfang und nur, wenn es definitiv keine anderen Möglichkeiten gibt, zum Einsatz kommt.

      SPIEGEL ONLINE: Welche Konsequenzen werden sich aus diesen Ereignissen für Hollywood und auch für Sie als Filmemacher ergeben?

      Allen: Ich sehe da überhaupt keine Konsequenzen. Auch wenn es ein horrendes Ereignis ist und 5000 Menschen ihr Leben ließen, aus der großen Perspektive gesehen ist dies ein Nadelstich. Amerika ist ein gigantisches Land mit Hunderten Millionen von Einwohnern, eine Supermacht, doch wie furchtbar auch immer dies sein mag - es wird die Flughafensicherheit betreffen, aber die Art, wie wir Musik, Theaterstücke oder Filme schreiben, wird es nicht verändern können. Wir sind ein viel zu großes und mächtiges Land, und die Welt fasst dies nicht nur als Bedrohung für New York oder die Vereinigten Staaten auf, sondern für menschliche Werte allgemein. Niemand will den sinnlosen Tod tausender Menschen ohne jedwedes Ziel. Das ist Wahnsinn.


      SPIEGEL ONLINE: Macht Ihnen die Figur des amerikanischen Präsidenten Bush zu schaffen, wenn Sie sich die Konsequenzen ausmalen?

      Allen: Die amerikanische Regierung besteht aus sehr viel mehr Leuten als nur aus Bush. Ich glaube nicht, dass eine Einzelperson das Schicksal dieser Sache entscheiden kann.

      SPIEGEL ONLINE: Sie vertrauen Ihrem Präsidenten also?

      Allen: Ich bin zumindest hoffnungsvoll gestimmt.

      SPIEGEL ONLINE: Wie ist die Stimmung jetzt in der Stadt?

      Allen: Ich bin bis Montagabend in New York gewesen, und inzwischen versucht man allenthalben, die Dinge wieder ins Rollen zu bringen und nach vorn zu gucken.

      SPIEGEL ONLINE: Wird also New York in absehbarer Zeit wieder New York sein?

      Allen: New York ist jetzt schon wieder New York, und sogar als es passierte, war es das: Die Stadt ist großartig, die Leute haben sofort und direkt gehandelt.
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 12:16:19
      Beitrag Nr. 52 ()
      @Boardmail,

      vorweg: Sollte ich mit meinen bemerkungen Dir irgendwie zu nahe getreten sein, dann tut mir das leid, das mein ich ernst.

      Ich habe nicht impliziert andeuten wollen, dass du bullshit schreibst, sondern meine gegenteilige Meinung in dieser Frage zum Ausdruck bringen wollen; es ist wohl besser, wenn ich das etwas dezidierter mache.

      - Zitat: ... vielleicht durfte es nicht wahr sein,.... weil man noch grössere Flugzeuge bauen wollte`.
      Diesem Satz kann doch nur entgegengehalten werden, dass weder Spielberg noch sonst jemand etwas aufoktrohiert werden kann. Als Schere im Kopf taugt das nur für Flugzeugbauer, nicht für Künstler - die betrifft es, wenn sie selbst ein Flugzeug betreten. Für die greift natürlich der allgemeine Verdrängungsmechanismus, das räume ich ein:
      Zwar wundert es mich, dass ausgerechnet bei Forsyth, der sich schon ganz andere Szenarien ausgedacht hat, eine solche Schere im Kopf in dieser Frage sein sollte, aber ich muss freilich einräumen, dass es unterschiedliche Dinge sind, sich irgendwelche weltpolitischen Szenarien zu durchdenken oder simpel ein Flugzeugattentan, welchem man selbst nicht begegnen könnte, wäre man plötzlich betroffen.
      [k]Dein Zitat: zum beispiel, dass autoren etwas nicht schreiben, das sie daran hindern könnte, morgen ein flugzeug zu besteigen, weil
      sie sich der realen gefahr unmittelbar bewusst wären und dies verdrängen möchten..[/k] Ich kann es 1:1 unterschreiben, nur fehlt mir der Zusammenhang zum Flugzeugbau oder Fluglinienerweiterungen. Dann hab ich Dich schlichtweg falsch interpretiert, was hier aber leicht möglich war.

      - Du HAST behauptet, ein solches Drehbuch sei nie verfilmt worden bzw. geschrieben worden (Posting #36). Freilich nicht 1:1, aber meine Antworten soltlen nur Hinweise sein, dass dies in etwa durchaus schon geschehen ist. Wieso also Deine Aggresivität nach der widerlegten Behauptung? Es gibt Bücher und filme, die ähnliches zur handlung haben, es gibt sogar Schulkinder, die eine Schule zusammenschiessen und dann bei der Vernehmung angeben, sie hätten als nächstes vorgehabt, ein Flugzeug zu kapern und es ins WTC stürzen zu lassen.

      - Ich hab nie gesagt, ob Geheimdienste damit rechneten oder nicht, vermutlich taten sie es, war auch hinreichend nachzulesen, wobei sie wohl eher davon ausgingen,d ass versucht würde, ein Privatjet irgendwo reinzujagen und nicht eine Passagiermaschine zu entführen.

      - Meine Aussage zur Selbstüberschätzung bezog sich auf andere Threads im NM-Board, in denen munter über Putverkäufe schwadroniert wird. es gab in den ersten handelstagen nach dem 11.9. Berichte über Händler auf dem Parkett, die verdächtige Transaktionen bemerkt haben wollten. Das meinte ich mit Selbstüberschätzung, wegen mir ist es auch `nur` Naivität, denn wer glaubt denn, das die gefolgschaft um die Terroristen einerseits es schaffen, so präzise ein Attentat durchzuziehen, um dann für jeden hansundFranz sichtbare Spuren auf den Finanzmärkten zu hinterlassen. Wer glaubt, die am PC im Internet zu finden oder als Händler auf dem Parkett, leidet m.E. an Selbstüberschätzung. Einen Bezug zu deinem Posting gab es nicht.




      Ich will es nochmals sagen - mir liegt nichts ferner als Dir nahetreten zu wollen - in diesem Thread konnte man bislang wohltuend offen und emotiosnfrei diskutieren, und sollte ich - unbeabsichtigt - irgendwie unter die Gürtellinie getreten haben, tut es mir leid.

      OK?
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 14:12:35
      Beitrag Nr. 53 ()
      ja neemann, ist ok!

      weiteres per bm
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 14:20:53
      Beitrag Nr. 54 ()
      von day_sleeper übernommen:

      Hektischer Handel mit Verkaufsoptionen auf Airlines

      Chicago - Einen Tag bevor zwei Flugzeuge der American Airlines entführt und als fliegende Bomben zum Absturz gebracht wurden, ist das Handelsvolumen der Verkaufsoptionen auf die Muttergesellschaft AMR um den Faktor 60 gestiegen. Dies berichtet die Nachrichtenagentur Bloomberg. Auch die Zahl der Put-Optionen auf die Titel der United Airlines, die ebenfalls von den Anschlägen betroffen war, stieg um ein Vielfaches.

      das ist nicht unauffällig, hm?
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 14:25:44
      Beitrag Nr. 55 ()
      ;)
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 14:28:31
      Beitrag Nr. 56 ()
      @antigone,

      auffällig ist das schon, wobei wir nicht vergessen sollten, dass der Dow am Montag kräftig nach uten gerauscht ist, die Ölpreise stiegen und es auch ergo auch andere Begründungen geben könnte.

      Ich kann ja auch nur hoffen, dass Mitwisser dahinterstehen, denn dann gäbe es konkrete Spuren mitten hinein in deren Kriegskasse; aber für so dumm halte ich die einfach nicht.
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 14:36:37
      Beitrag Nr. 57 ()
      Weil heute morgen hier schon mal "Bios Boulevard" erwähnt worden ist:
      Darin kam auch ein Michael Lüders vor, aus dessen Äußerungen über seine Treffen mit dem Taliban-Außenminister Mutawakil und mit einem Stellvertreter von Bin Laden in Pakistan man folgenden, einfacheren Schluß ziehen könnte (vielleicht habt Ihr Michael Lüders auch so verstanden?):
      Den Taliban und den Terroristen geht es zumindest manchmal einfach darum, soviele Menschen wie möglich zu ihrer religiös-pervertierten Sicht der weltlichen Dinge zu bekehren. Diese wäre in Kurzfassung, daß das Elend der moslemischen Massen in den ärmsten Staaten dieses Glaubens durch den Imperialismus der reichen Amerikaner hervorgerufen wird und man dieses Elend dadurch beseitigen kann, daß man die USA zu vernichten versucht. Dabei spielt für die islamistischen Terroristen das eigene Leben überhaupt gar keine Rolle - im Gegenteil; je jünger man zum Schahid wird und als Märtyrer ins Paradies kommt, um so besser! Dabei wird das Leben hier auf dieser Erde nur als kümmerliches Vorstadium für das Leben im Jenseits betrachtet.

      Als Lüders nach eigenen Worten in der o.g. Sendung mal Mutawakil gefragt hat, warum es keine Entwicklung - nur neue Moscheen, aber keine Straßen, keine Schulen, keine neuen Häuser für die Bevölkerung in Afghanistan gibt, obwohl die Taliban zu jenem Zeitpunkt doch schon 4 Jahre regiert haben, antwortete ihm Mutawakil mit folgendem "hübschen Gleichnis":
      "Wenn Sie jetzt nach Deutschland zurückfliegen und ihr Flugzeug in den Bergen des Iran abstürzt, dann rechnen Sie doch auch mit ihrer Rettung und daß sie nach einiger Zeit gefunden werden und ihre Reise bald fortsetzen können. Sie werden doch kein Haus im Iran zu bauen beginnen. So ist es mit unserem irdischen Leben ..."

      Religiöser Wahnsinn "at its best"!
      - Wenn auch ein bißchen ähnlich dem Denken der christlichen Kreuzfahrer vor 800 Jahren! Oder nicht? Aber wie überzeugt man so jemandem vom Gegenteil?
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 16:12:22
      Beitrag Nr. 58 ()
      lest mal bitte vor allem posting nr. 7 in dem thread
      George W. Bush ist Mitglied beim Geheimbund "Skull & Bones" von hope_and_wait
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 16:15:49
      Beitrag Nr. 59 ()
      @Auryn

      Hab`s auch gesehen. Fand den Lüders sehr kompetent. Am interessantesten fand ich aber seine Aussage bezüglich der Clans und dem Verwandschaftsverhältnis des Talibanführers mit bin Laden. Nach seiner Überzeugung wird es aus diesem Grund auf keinen Fall zu einer Auslieferung kommen. Aber auch wie du richtig sagst: Sie haben keine Angst vor dem Tod; sie sehnen ihn sogar herbei.

      Sag mal, ist dir zwischen Biolek und Willemsen auch das eigenartige Verhältnis aufgefallen. Ich würde es als Vater/Sohn-Verhältnis interpretieren; oder ist der Willemsen wie Bio schwul?

      Gulak
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 16:23:20
      Beitrag Nr. 60 ()
      @antigone,
      :confused:

      @Gulak,
      dann guck dir mal ein paar Aufzeichungen von Willemsens Woche an - er turtelte gerne und viel mit all den hübschen jungen Sängerinnen und schauspielerinnen - nene, nix schwul.
      Was die Frage der Auslieferung angeht - würde die katholische Kirche irgendjemanden, ganz gleich wen, ausliefern? Soll kein wertender Vergleich sein, sondern nur darauf hindeuten, dass es völlig ausgeschlossen ist, dass eine religiöse Gemeinschaft mit einer derart Identifikation jemanden ausliefern würde. Die taliban-führer spielen auf zeit, aber denken wohl im Traum nicht daran.
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 16:41:31
      Beitrag Nr. 61 ()
      @Heizkessel
      Ein kurzer Rückgriff: Zu deiner Frage über den Absturz des 4. Flugzeuges (#27).
      Ein befreundeter Nachrichtenredakteur meinte dazu, man gehe davon aus, dass es die Passagiere waren, die etwas unternommen hätten, um den Flieger vorzeitig zum Absturz zu bringen. Angeblich soll vorher ein dementsprechender Handyanruf stattgefunden haben.

      Ob das wirklich so war, ist damit sicherlich nicht beantwortet.
      Aber Handyanrufe nach draußen gab es ja nachweislich. Steht auch in dem Artikel von Louis Begley "....hinderte einige von ihnen jedoch nicht daran, den Versuch zu machen, mit ihren Mobiltelefonen die Außenwelt zu erreichen... So telefonierte ein Sohn mit seinem Vater. Und eine Stewardeß rief das Hauptquartier von American Airlines an....."

      Ich jedenfalls halte das für plausibler als Spekulationen über Raketen oder Flugzeugabschüsse.

      Grüße
      Linea
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 16:47:34
      Beitrag Nr. 62 ()
      Linea,
      der Vize hat doch längst zugegeben, dass bereits der Auftrag bestand, den jet abzuschiessen. Die geben das frank und frei zu - selbst das dritte Flugzeug ist nur um 2 Minuten verpasst worden (soviel auch zur Choreographie - vermeidbare und überflüssige Risiken, wenn man alles hätte gleichzeitig organisieren können!), Bush hatte den Befehl gegeben zum Abschuss, wenn die Jets nicht beigedreht hätten. Insofern mag jetzt der Wunsch nach heldenepen dazu beitragen, auf jeden fall lieber an ein handgemenge zu glauben (es soll ja auch ein fähiger Judoka dabeigewesen sein) - aber ein Motiv zur verschleierung gibt es eigentlich nicht.
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 16:49:01
      Beitrag Nr. 63 ()
      @Neemann

      Das Verhältnis zwischen den beiden schien mir sehr auffällig. Oder bewundert Bio nur einen Schöngeist?

      Aber egal ob Christen, Moslems oder andere. Je ärmer und einfacher um so gläubiger. Und dieser Massen bedienen sich die Glaubensführer. Was glaubst du denn, wie die vom Papst erlassenen Regeln hier in Mitteleuropa eingehalten werden, werden sie befolgt? Oder sind sie Lasten, die in einem modernen Leben als hinderlich empfunden werden?

      G
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 17:10:01
      Beitrag Nr. 64 ()
      @ neemann
      :eek::eek::eek:
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 18:19:48
      Beitrag Nr. 65 ()
      George W. Bush ist Mitglied beim Geheimbund "Skull & Bones" von hope_and_wait

      der thread ist nirgends mehr auffindbar
      oder träum ich?
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 19:16:28
      Beitrag Nr. 66 ()
      Big brother is watching you.

      So langsam kommen die Trüffelschweine aus dem Stall.

      G
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 22:08:43
      Beitrag Nr. 67 ()
      Interview in der taz mit Klaus Theweleit:

      "Innere Panzerung wäre die Idiotenlösung"
      Statt Horrorszenarien weiterzuspinnen, sollte man das Gesprächsvakuum füllen: Klaus Theweleit, Autor von "Männerphantasien" und "Buch der Könige", über mediale Ruhigstellungen, das Loch in der amerikanischen Psyche und zu den Gründen, warum die Flugzeuge in die Tower flogen
      Interview JÜRGEN REUSS
      und DIETER RÖSCHMANN

      taz: Herr Theweleit, was wurde eigentlich genau getroffen, als die beiden Flugzeuge ins World Trade Center stürzten? Viele Zeitungen sprachen von einem Stich ins Herz Amerikas, einige davon, dass den USA der Kopf abgeschlagen worden sei.

      Klaus Theweleit: Es war nicht nur der Kopf, es waren die Twins. "Twin Peaks" von David Lynch, eine der erfolgreichsten Fernsehserien des letzten Jahrzehnts, bezog sich auf zwei Berge, um die die amerikanische Phantasie kreist. Die Twin Peaks, das waren die Brüste der vergewaltigten Tochter, die negative Phantasie von der Bedrohung und des Missbrauchs. Das positive Gegenstück dazu sind die Twin Towers, der doppelte Schwanz, der sich als mächtiges Symbol erhebt über die ganzen Widerlichkeiten und Gewalttätigkeiten der anderen, der negativ besetzten Twin-Peaks-Ebene. Die Twin Towers spiegeln die Rede von Amerikas Erfolg und Überlegenheit und Kühnheit, und jeder Mensch, der irgendwann einmal in New York war, hat sie gesehen, hat die Spitze erklommen mit einem dieser Tempofahrstühle und sich von oben aus das Panorama des Gebauten, der Stadt, der American Nature angesehen.

      Der Anschlag auf diesen Doppelphallus war, banal gesagt, ein Tritt in die Eier, der auch auf den Kopf zielte. Insofern war dieser Anschlag bestens durchdacht: Es ging nicht nur darum, die symbolischen Zentren zu treffen, sondern auch die der ganz realen Macht.

      Ist der reale Terrorakt nicht viel wichtiger als der symbolische?

      Natürlich ist der Angriff auf das reale Machtzentrum wichtiger, denn den symbolischen haben die USA ja längst vorbereitet, im Kino der letzten zehn Jahre, mit seinem ungeheuren Aufwand an Katastrophenfilmen, wo ja all diese Gebäude bereits zum Einsturz gebracht wurden. Der Militärhaushalt der USA hat sich seit Reagan vor allem um die Phantasie einer Raketenabwehr nach außen gedreht. Von Bush wurde das wieder aufgenommen, und jetzt kommt darauf eine reale Antwort. Und zwar aus dem Inneren Amerikas.

      Da ist man wahrscheinlich beim Kern dieser Geschichte, beim wirklich Realen: dass es Leute gibt, die kapiert haben, dass man diese Übermacht nur mit ihren eigenen Waffen von innen heraus angreifen kann, nämlich mit dem, was ihre zivilen Stärken sind, die man umfunktioniert in kriegerische, also aus Flugzeugen Raketen und Bomben macht. Das ist ein wirklicher Schock, hinter dem alles Symbolische zurücktritt.

      Wie wird dieser Schock im Bild verarbeitet? In welcher Weise prägen die Bilder, die man auf dem Bildschirm sieht, den Psychohaushalt der Zuschauer?

      Sie wirken so, als würden die Leute von den Emotionen, die sie im ersten Moment hatten, ganz schnell abgeschnitten und anfangen, das in eine Art Rede zu übersetzen. Diese Rede ist auf eine seltsame Weise vernünftig. Das wird zum Beispiel deutlich, wenn man die Leserbriefe in den Zeitungen liest. Die Leute sagen: Der Feind ist der Hass selber, der Hass muss weg. Oder: Der wahre Horror ist das Spiel mit dem Grauen. Oder: Gewalt hinterlässt nur zwei Arten von Menschen - Opfer und zukünftige Opfer. Oder: Das nächste Ziel ist ein AKW. Das alles sind Reaktionen aus den ersten Stunden nach den Attentaten, die in meinem Kopf und in den Köpfen derer, mit denen ich geredet habe, aufgetaucht sind. Und das ist wirklich verrückt. Es denken sozusagen alle dasselbe in diesem Moment.

      Das denkt sich wie zwanghaft, wie von alleine stellt sich das im eigenen Kopf her, und ich habe mich gefragt: Wer denkt das eigentlich? Denke ich das? Hat das irgendwas mit meinem Kopf zu tun, oder denkt das durch mich durch? Ist das etwas, das aus dem weltweiten Nachrichten- und Mediennetz kommt, von dem wir offenbar Teile sind, ohne es zu realisieren. Denken wir die Gedanken des Netzes? Hinterlässt der wirkliche Schrecken in den Körpern vielleicht überhaupt keine Spuren mehr? Selbst die Feuerwehrleute scheinen bereits Teil dieses Systems geworden zu sein, wenn sie in die Trümmer rennen und als Erstes eine amerikanische Flagge in den Schutt pflanzen. Damit sind sie der direkten Geschichte enthoben, der, dass der eine seinen Bruder sucht, der im 81. Stock war und vielleicht in den Trümmern liegt. Ähnlich die Jugendlichen, die zum Ort des Schreckens strömen und die medialen und die realen Bilder übersetzen in "We shall overcome" und "Give peace a chance" und Kerzen. Das genau sind Teile eines Spektrums von Reaktionen, die in kulturell vorcodierte Äußerungen übersetzt sind.

      Beschleunigt die Erzählung von der Katastrophe, die die Medien zurzeit in ihren Bildern zusammenschneiden, einen Prozess der Abstumpfung?

      Wenn man genug Katastrophenfilme gesehen und in seinen Bilderhaushalt eingespeichert hat, sie in Videogames selbst bedient oder durchgespielt hat, wirkt das natürlich abstumpfend, und zwar in der Weise, dass man sich mit der Möglichkeit von Katastrophen einrichtet. Man hat sie alle schon einmal gesehen, geträumt, gelesen, vorgeführt bekommen. Das Erschrecken vor den realen Bildern hält deswegen bestenfalls ein paar Tage an.

      Verstärkt wird das nun dadurch, dass der Bildschirm einem seit einigen Tagen die immergleichen Sequenzen gewissermaßen auf die Netzhaut brennt. Jeder, der fernsieht, hat sie schon hundertfach gesehen. Sie sind geronnen zu einem Bild, das die Kinobilder jetzt schon weit übertrifft an Suggestion - und man ist süchtig danach, dass es wieder auftaucht. Der Horror im Kopf ist dabei fast beseitigt. Man muss sich fast zwingen, an die Opfer zu denken, das Bild hat sich von ihnen losgelöst und ist wie eine Pille für die Befriedigung eines Blicks, der sich einerseits solche Bilder der Zerstörung herbeisehnt, um sich an ihnen zu weiden, andererseits aber erschrickt, weil in ihnen der nackte Horror steckt. Beide Gefühle sind echt, sie schließen sich nicht aus. Diese Ambivalenz entsteht vor dem Fernseher, und man kann sich nicht gegen sie wehren: Der Genuss ist nicht abtrennbar vom Bild. Das konnte man schon bei den Bildern vom Golfkrieg feststellen. Wer vorm Fernseher sitzt, kann nicht anders, als die Bilder in dieser gemischten Affektivität zu erleben. Sie erklären allem, was man selbst vielleicht denken wollte, genau in der Weise den Krieg, als sie einem vorschreiben, was abzulaufen hat in einem. Das könnte man auch beschreiben als die Abschaffung des Subjekts.

      Was denkt dieses abgeschaffte Subjekt vor den Bildern? Wird es hier für den Krieg mobilisiert?

      Nicht direkt. Der Mediengebrauch führt eher in die Richtung einer allgemeinen Pazifizierung. Man ist es inzwischen gewohnt, viele Dinge nicht mehr selbst auszuagieren, sondern sie erledigen zu lassen. Man nimmt sie visuell auf und ist dadurch Teil der Aktion. Die Mehrheit der Bevölkerungen des Westens sind heute friedlicher als früher, es gibt weniger Leute, die denken, dass man in bestimmten Situationen mal draufhauen müsste.

      Dass die Menschen lieber keinen Krieg wollen und scheinbar vernünftig reden, hat mit dieser medialen Bearbeitung zu tun. Was natürlich überhaupt nicht heißt, dass man von diesen pazifizierten Zuschauern wirklich eine Widerstandkraft erwarten kann, wenn es plötzlich heißt: Jetzt wird Krieg gemacht. Ich glaube, das würde in einer ähnlichen Weise pazifiziert hingenommen werden. Schon in Jugoslawien hat das ja funktioniert: Die meisten haben ihn hingenommen, aber nicht gejubelt: Ja, wir wollen Krieg! Das ist eine Form von Ruhigstellung.

      Wird sich das in der momentanen Situation wiederholen? Oder besteht die Chance, dass sich die moderaten Stimmen, die zurzeit ja auch zu hören sind, gegen diese Ruhigstellung durchsetzen werden?

      Im Anblick des Horrors mehren sich die Stimmen, die keine Vergeltung wollen, sondern andere Lösungen. Sie sagen: Wir müssen die Nahostpolitik überdenken. Der Anschlag war kein blindwütiger Akt, sondern ein geplanter. Und geplante Akte haben Vorläufer im Denken. Das passiert nicht ohne Grund. Der Anschlag hätte nicht stattgefunden, wenn die USA im Nahen Osten nicht dieses Vakuum hätten entstehen lassen. Wenn Bush versucht hätte, den Friedensprozess fortzusetzen. Aber Bush hat nichts nachgeschoben, er hat sich aus der Region völlig zurückgezogen. Doch wo man ein Vakuum lässt, strömt Gewalt ein, überlässt man Terroristen und Fanatikern die Szene.

      An solchen Äußerungen sieht man, dass dieser Anschlag also durchaus vor dem Hintergrund eines Versagens der amerikanischen Politik diskutiert werden kann. Der Gewaltseite der Israelis wurde freie Hand gelassen. Auch dann noch, als sie ankündigten, mit der Liquidierung einzelner namentlich bekannter Terroristen zu beginnen. Jeder vernünftige Mensch hätte da sofort sagen müssen, dass den bekannten Zielpersonen im nächsten Moment zwanzig Unbekannte folgen werden. Und genau das ist eingetreten. Mit Selbstmordanschlägen auf Busse oder Pizzerien. Die Frage, die sich jetzt stellt, muss lauten: Wird der Anschlag auf die Twin Towers und das Pentagon den Westen dazu bewegen, seine Politik zu ändern? Werden die USA Israel jetzt dazu zwingen, die besiedelten Gebiete freizugeben, um dort einen palästinensischen Staat einzurichten? Wenn die Amerikaner nicht verrückt sind und glauben, sie könnten mit erhöhtem Bombenabwurf, irgendwo drauf, alles wieder ins Lot bringen, dann wird dieser Anschlag langfristig den Erfolg haben, dass das Israel-Palästina-Problem in dieser Weise entschärft wird.

      Das aber setzt voraus, dass der Westen selbst erkennen würde, dass dieser Terroranschlag gar keine Kriegserklärung war und deswegen auch nicht mit kriegerischen Mitteln beantwortet werden kann. Ist das überhaupt denkbar?

      Strike back ist von frühesten Besiedlungszeiten an ein amerikanisches Muss: Es muss zurückgeschlagen werden. Wenn das nicht passiert, dann bleibt ein ungeheures Loch in der Psyche dieses Landes. Entscheidend ist aber, was danach passiert. Wie wird Amerika die Situation langfristig verarbeiten? Werden in jedem Flugzeug Panzertüren vor die Cockpits geschraubt?

      Ich denke, das wäre die Idiotenlösung: das ganze Land von innen zu panzern und zu glauben, damit ließe sich etwas in den Griff bekommen. Man wird jeden Araber, der in die Staaten einreisen will, zigfach filzen, abchecken, rastern, aber was soll der Blödsinn? Es werden sich Nichtaraber finden, Leute aus anderen Teilen der Welt, die Terroranschläge dieser Art ausführen. Das Personal, um solche Attentate zu verüben, ist unbegrenzt. Statt Horrorszenarien weiterzudenken, sollte man zu der Einsicht kommen, dass es Kräfte hinter diesem Anschlag gibt, die nicht völlig wahnsinnig sind, sondern dass es Gründe für ihr Handeln gibt. Deshalb muss man die Krisenherde entschärfen. Man muss weiter reden. Solange geredet wird, fallen keine Bomben. Wenn ein Gespräch scheitert, muss man das nächste anfangen. Und wenn man das nicht in Gang hält, dann entsteht genau das Vakuum, in das Gewalt strömt. Das ist ein Energiegesetz der Politik.

      Vergrößert sich dieses Vakuum momentan nicht? Immerhin sprach Bundeskanzler Schröder von einem "Angriff auf die Zivilisation".

      Mit solchen Worten ist im Grunde genau der Kern des Konfliktes benannt, aus dem heraus solche Attentate verübt werden. Araber in Europa und Amerika berufen sich immer wieder auf die arabische Kultur, die immerhin ein paar tausend Jahre älter ist als die europäische und amerikanische. Doch was im arabischen Raum an Kultur und Zivilisation entstanden ist, will bei uns niemand mehr wirklich wissen. Weil das alles von der Rede vom islamischen Fundamentalismus verdrängt wird, mit dem der Islam mittlerweile identifiziert wird. Auch wenn reihenweise Muslime sagen: Wir haben damit nichts zu tun, wir sind friedfertige Leute und wollen keinen heiligen Krieg, wir sind zivilisiert. Das aber leugnet Schröders Rede vom Angriff auf die zivilisierte Welt. Das ist fundamentalistische westliche Kriegshetze. Und genau gegen diese Rede fliegen die Flugzeuge in die Towers.

      Was als Antwort aus diesem Anschlag hätte folgen müssen, wäre das Gegenteil gewesen: Wir verbünden uns mit den zivilisierten Kräften der Welt, auch der arabischen, und wollen gemeinsam etwas gegen die Menschenverachtung der Leute tun, die Anschläge wie den auf das World Trade Center verüben. Nichts hätte Schröder daran gehindert, trotzdem, wie er sagt, fest an der Seite unserer amerikanischen Freunde zu stehen.

      In diesem Punkt entlarvt sich die westliche Zivilisation: Heute beklagt sie den Angriff auf die zivilisierte Welt, und was tut diese am nächsten Tag? Sie liefert wieder eine Fuhre Waffen in eine Ecke der Welt, die sie für unzivilisiert erklärt. An der eigenen Zivilisiertheit ändert das nichts. Und wenn die Waffen alle verschossen sind - auf dem Balkan oder in Afghanistan -, kommt die zivilisierte Welt und gibt ihnen die nächste Ladung. Zivilisation bedeutet offenbar, andere sich untereinander bombardieren zu lassen und selbst an den Waffen zu verdienen.

      Vom Westen wird Zivilisation gerne in Zusammenhang mit Vernunft gedacht, was seine Gegner zwangsläufig zu Protagonisten der Unvernunft, des Irren macht. Zeigt sich der Westen nicht selbst gerade von seiner irren Seite?

      Sicher. Es ist nicht nur der Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei, der hier phantasiert wird, sondern auch gegen angeblich heillos krankhafte Teile der Dritten Welt, wie sie im Westen immer noch heißt, wobei es für jeden Araber selbstverständlich ist, dass er in der Ersten lebt. Vollkommen zu Recht. Was dabei gerne übersehen wird, ist, dass ausgerechnet jemand wie Bush die Wahlen nur mit den Stimmen aus dem Bible Belt gewinnen konnte: den Stimmen von fundamentalistischen Amerikanern, von religiösen Fanatikern, die all das wieder abschaffen wollen, was sich in Bill Clintons Amtszeit gelockert hat.

      Ihre Gleichsetzung des Islam mit einem Fundamentalismus, der zum Selbstmordattentat führt, verweist direkt zurück ins Herz von Amerika. Dort gibt es genau denselben religiösen Wahn, aus dem heraus sie alles angreifen, was ihre Kultur lockern oder weltweit zu Entspannung führen könnte. Bush zeigt sich als Ausführender solcher Phantasien und wundert sich dann, wenn aus anderen Teilen der Welt diese religiös-bewaffneten Antworten zurückkommen.

      taz Nr. 6553 vom 19.9.2001, Seite 13-14, 471 Interview, JÜRGEN REUSS / DIETER RÖSCHMANN
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 23:14:45
      Beitrag Nr. 68 ()
      yep. theweleit kann ich einfach nicht widersprechen
      die idiotenlösung scheint die favorisierte lösung zu werden.
      hätte keiner angenommen von einer gesellschaft, die längers schon von den bäumen runter ist :D
      Avatar
      schrieb am 19.09.01 23:35:08
      Beitrag Nr. 69 ()
      Aber hier auch der Verweis auf den religiösen Fundamentalismus in Amerika. So eine Art Gegenüber.
      Avatar
      schrieb am 20.09.01 00:09:07
      Beitrag Nr. 70 ()
      da ist das verlorengegangene posting aus dem verlorengegangenen thread:

      Offene Fragen zu den Anschlägen in den USA.
      Nach Konsultationen mit zahlreichen Berufspiloten und Sicherheitsexperten über die Anschläge vom 11.9. ergeben sich folgende Fragen:
      1. Wie konnte eine Operation dieser Größenordnung und Komplexität, an der bis zu 100 Personen beteiligt gewesen sein müssen, unentdeckt vorbereitet werden? War es ein kolossales "Versagen der Geheimdienste" - oder war dieses Versagen selbst organisiert?

      2. Wie konnten die Entführer alle Flugzeugbesatzungen überwältigen, ohne daß auch nur ein einziger Pilot vier Ziffern in den Transponder tippen oder über Funk mitteilen konnte, um die Bundesluftfahrtbehörde (FAA) zu informieren? Auch wenn dies den Entführern in ein oder zwei Fällen gelingen konnte, ist es unmöglich, daß dies in allen vier Fällen gelang. Saßen die Entführer schon beim Start am Steuer? Wenn ja, müssen sie die komplizierten, genau festgelegten Prozeduren, die bei allen Fluggesellschaften unterschiedlich sind, gekannt haben.

      Viele Piloten sagen, daß auch ein Terrorist mit nur geringer Ausbildung diese Flugmanöver durchführen konnte. Aber welche Erfolgsaussichten hätten Amateure gehabt? Der ehem. Kommandeur der Israelischen Luftwaffe Ben Eliahu sagte im israelischen Radio, er glaube, die Piloten seien "Amerikaner und keine Ausländer" gewesen. Die Tatsache, daß der Anschlag bei guter Sicht durchgeführt werden mußte, bedeute, daß es für die Operation mehrere Ausweichtermine gegeben haben müsse - was die Operation noch komplizierter macht.

      3. Warum versagten alle Prozeduren für solche Notfälle? Mehrere Berufspiloten wiesen darauf hin; so der Militärkommentator der israelischen Tageszeitung Ha`aretz. Alle vier Flugzeuge wichen stark von ihrem vorgeschriebenen Kurs ab. Nach ihren Vorschriften versucht die FAA, sobald bei einem Flugzeug eine Kursabweichung bemerkt wird, den Piloten zu kontaktieren. Gelingt dies nicht, wird ein Notstand erklärt und der gesamte Luftraum der betroffenen Region gesichert. Mit genauen Prozeduren wird festgestellt, ob das Flugzeug entführt wurde oder außer Kontrolle geraten ist. Weil der Zeitfaktor entscheidend ist, sind diese Prozeduren klar definiert und eingeübt, damit sie schnellstmöglich ausgeführt werden. In bestimmten Notfällen - vor allem bei Entführungen - wird routinemäßig das US-Militär angefordert.

      Wie berichtet, wurden die Transponder der Flugzeuge abgeschaltet. Schon dies würde Notprozeduren auslösen; aber auch wenn der Transponder abgeschaltet wird, verschwindet das Flugzeug nicht vom Radarschirm, so daß die Flugbahn weiter verfolgt werden kann.

      Die beiden Flugzeuge, die das World Trade Center (WTC) rammten - American Airlines (AA) 11 und United Airlines (UA) 175 - starteten um 7:58 Uhr bzw. 7:59 Uhr von Boston-Logan. Ersteres rammte das WTC 45 Minuten, letzteres 66 Minuten später. Beide - vor allem UA 175 - wichen stark vom vorgeschriebenen Kurs ab. Unter Notfallbedingungen ist das ein sehr langer Zeitraum.

      Beim Anschlag auf das Pentagon sind die Fakten noch unbegreiflicher. AA 77 startete von Washington-Dulles in Richtung Los Angeles, drehte nach 40 Minuten um und flog zurück nach Washington, wo es 40 Minuten später, um 9:40 Uhr, im Pentagon zerschellte. UA 93 startete von Newark (New Jersey) in Richtung San Francisco, drehte über Cleveland (Ohio) um und stürzte über Pennsylvania ab.

      Sicherheitsexperten fragten auch nach der Rolle des Nordamerikanischen Luftabwehr-Kommandos (NORAD), das für die Verteidigung des Luftraums der USA und Kanadas gegen Angriffe mit Raketen, Flugzeugen etc. zuständig ist. Dieses amerikanisch-kanadische Kommando verfügt über eigene militärische Radaranlagen, Boden-Luft-Raketen und amerikanische und kanadische Abfangjäger. NORAD sagt zwar, es habe keine Zeit mehr gehabt zu reagieren - aber das kann nicht sein: In der Region gab es einige Luftwaffenstützpunkte, deren Abfangjäger in nur wenigen Minuten das fragliche Flugzeug erreicht hätten. Dies gilt besonders für die Hauptstadt Washington mit dem Luftwaffenstützpunkt Langley direkt neben dem Hauptquartier der CIA. Dort sind F-15, die kampfstärksten Abfangjäger der Welt, stationiert. Im einem Notfall, wie ihn jeder einzelne der vier Fälle darstellte, wird die Entscheidung getroffen, ob Militärflugzeuge eingesetzt werden - und dies wird routinemäßig schon zur Sicherung des Luftraums getan.

      Im Fall des AA-Flugs 77, der erst nach dem Angriff auf das WTC mindestens 40 Minuten lang vom Kurs abwich und auf Washington zuflog, war genügend Zeit, nicht nur Militärflugzeuge einzusetzen, sondern auch die nationalen Sicherheitspläne zu aktivieren, um die Sicherheit des Präsidenten und der Bundeshauptstadt zu garantieren. Es gab viel Zeit, zu entscheiden, ob man das Flugzeug abschießen solle oder nicht. Die Frage der verspäteten Reaktion ist so schwerwiegend, daß sie am 13.9. bei der Senatsanhörung auch Generalstabschef Myers gestellt wurde. Myers antwortete jedoch nur ausweichend.

      Offensichtlich wurden die Vorschriften der FAA, des NORAD und die besonderen Vorschriften zur Sicherung des Präsidenten in solchen Notfällen nicht befolgt. Sicherheitsexperten betonen, ein solches Versagen sei unmöglich auf die Verwirrung durch einen unerwarteten Angriff zurückzuführen. Es deutet auf eine gezielte Sabotage des Systems als Teil eines koordinierten Angriffs auf die USA hin.
      Avatar
      schrieb am 20.09.01 00:20:58
      Beitrag Nr. 71 ()
      Terroranschlag: Insider-Verdacht erhärtet

      Die Aufsichtsbehörden schlagen Alarm, in Großbritannien wurde ein verdächtiges Konto geschlossen. Nun auch Transaktionen um KLM im Visier

      Gespannt verfolgen Händler in Frankfurt die Aktienkurse - kurz vor den Anschlägen wurde massiv spekuliert.

      Von Helmut Hetzel und Holger Zschäpitz

      Amsterdam/Berlin – Politiker und Börsenaufseher schlagen Alarm. Verdichten sich doch die Hinweise, dass Insider vor dem Anschlag auf das World Trade Center ihr Wissen genutzt haben, um Riesenprofite an den Börsen einzustreichen. Es scheint, als ob der Gebrauch moderner Finanzinstrumente zur Strategie der Terroristen gehörte. Die britische Regierung spricht sogar schon offen von Terrorfinanzierung, andere sehen gar ein neues Kapitel in der Kriminalitätsgeschichte geöffnet.
      Eine neue Spur führt in die Niederlande. Hier prüft nun die Aufsichtsbehörde STE einen ungewöhnlichen Kursrückgang bei der Aktie des Luftfahrtunternehmens KLM So seien auffällige Transaktionen mit diesen Titeln am 7. und am 10. September – kurz vor den Anschlägen – an der Amsterdamer Terminbörse getätigt worden. Wie verschiedene Börsenhändler übereinstimmend berichten, sei an diesen beiden Tagen mit großen Mengen von Verkaufsoptionen (Puts) auf fallende KLM-Notierungen spekuliert worden. „Der Umsatz war zehn Mal höher als normal“, sagt einer der Händler, der nicht namentlich genannt werden will. „Es wurden an diesen Tagen nur und ausschließlich Put-Optionen in KLM-Aktien geordert. Jemand muss gewusst haben, dass der Kurs der KLM-Aktien sinken wird.“ Mit Put-Optionen können Anleger auf sinkende Kurse spekulieren. Je stärker der Kurs der Aktien dann fällt, desto höher ist der Gewinn.

      Als Indiz dient auch der Kurs der KLM-Aktie, der vor den Anschlägen bereits kräftig ins Trudeln geriet. Auffällig waren die Umsätze am Freitag vor dem Terrorakt. Mit 847 Millionen gehandelten Aktien wurde ein Rekord aufgestellt. „Wenn am Terminmarkt Puts gekauft werden, wirkt sich das auch an der Börse aus“, so ein Experte. Für einen arabischen Analysten ist klar: „Das traue ich Bin Laden zu.“

      Die niederländische Aufsichtsbehörde folgt mit ihren Ermittlungen den Börsenaufsehern Deutschlands, Englands, Japans und der USA. Obwohl die deutschen Aufpasser noch keine stichhaltigen Anhaltspunkte gefunden haben, muten Bewegungen bei einigen Lufthansa-Verkaufsoptionen merkwürdig an. Nach WELT-Informationen wurden am 7. September bei zwei Put-Scheinen so viele Umsätze getätigt, wie ansonsten nur in mehreren Wochen. Noch heftiger fielen die Ausschläge am 10. September aus. Hier wurden von einem Put-Schein 895 Stück gehandelt. Bis dato waren in diesem Monat gerade einmal 103 Verkaufsoptionen an den Anleger gebracht worden. Auch bei der Münchener Rück und Preussag sind an beiden Tagen ungewöhnlich hohe Umsätze auszumachen.

      Die US-Behörden scheinen mit ihren Ermittlungen schon weiter. Die Börse von Chicago will konkreten Studien nachgehen, denen zufolge kurz vor den Anschlägen unbekannte Investoren eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Verkaufsoptionen für Aktien der Fluggesellschaften United Airlines und American Airlines erworben hatten. Flugzeuge dieser Gesellschaften wurden von den Terroristen am vergangenen Dienstag entführt. In Chicago wurden zuvor am 6. und 7. September insgesamt 4744 Verkaufsoptionen der Mutterkonzerne AMR und UAL geordert, im Vergleich zu 396 Kaufoptionen (Calls). Am 10. September – einen Tag vor den Anschlägen – belief sich die Nachfrage auf 4516 Puts und 748 Calls. Am ersten Tag des Aktienhandels nach den Anschlägen fielen AMR-Aktien um 39 Prozent, UAL-Papiere sogar um 42 Prozent.

      Die neuen Erkenntnisse haben nicht nur zu einer weltweiten Allianz der Börsenaufsichten geführt, auch Politiker wollen einschreiten. Einen ersten Vorstoß startete gestern die britische Regierung. Finanzminister Gordon Brown teilte mit, am Vortag sei ein „verdächtiges Konto“ bei der Barclays Bank geschlossen worden. Britische Banken und andere Finanzinstitutionen hätten eine Liste mit Namen von Personen erhalten, die von der Regierung im Zusammenhang mit den Terrorangriffen überprüft würden. „Es gibt andere Länder in der Welt, die diese Art von Maßnahmen nicht ergreifen. Und wir müssen sicherstellen, dass auch die schwächsten Glieder der Kette geschlossen werden“, forderte Brown auch mit Blick auf das Schweizer Bankgeheimnis.

      Quelle: DIE WELT
      19.09.01
      Avatar
      schrieb am 20.09.01 10:06:39
      Beitrag Nr. 72 ()
      interessantes interview mit galtung
      in dem thread von dem unaussprechlichen user gölqjksfhöla
      Avatar
      schrieb am 20.09.01 10:15:39
      Beitrag Nr. 73 ()
      Antigone, Aber lass dich bloss nicht auf eine Diskussion dort ein - da zerreibst Du Dich nur.

      Das Interview ist schon sehr interessant, aber ich halte die Position für überzogen. Zu Kissinger kann man stehen, wie man will, aber als Bin Laden der Chilenen hinzustellen, naja...
      Solche sicherlich bewusst provokanten Interviews liefern leider den Schwachköpfen im Board wie auf der Strasse hinreichend Sätze, die sie sich herauspicken können, um auf die angebliche Dämlichkeit intellektueller Gutmenschen verweisen zu können. Insofern hätte Herr Galtung besser weniger provokant geredet, denn was er sagt, ist ja großteils durchaus wichtig und richtig.
      Avatar
      schrieb am 20.09.01 10:20:52
      Beitrag Nr. 74 ()
      @ neemann
      :laugh: um jottes willen :laugh:
      nö, ich denke nicht im traum daran. alles muss ich mir auch nicht antun :) danke für deine fürsorglichkeit.
      Avatar
      schrieb am 20.09.01 11:44:30
      Beitrag Nr. 75 ()
      hi all,

      koennen wir nun zufrieden sein?

      Die alten Fuechse raten bin Laden zu gehen,,,,taktisch ausgezeichnet!

      Der Irak soll bin Laden unterstuetzt haben...der Irak eignet sich vorzueglich als Schauplatz der Grossinvasion!

      Alle anderen islamistischen Staaten sind dann wohl mit einem blauen Auge davongekommen,,,,der Irak..nach einem Angriff wird ein ewig abschreckendes Beispiel sein!

      Jetzt setzt die "freie Welt" ihr Fanal.

      Ach noch was...CNN wird wieder berichten....wie man die Bilder zu beurteilen hat...denkt an den Golfkrieg.


      Die Amis werden die Welt beschuetzen! Das ist nicht ironisch gemeint...
      cu
      DARC
      Avatar
      schrieb am 20.09.01 18:17:21
      Beitrag Nr. 76 ()
      "Die Kanonen haben sich gedreht"
      Der Gesellschaftskritiker Noam Chomsky über Ursachen und Folgen des Terrors und wie die USA angemessen auf die Anschläge reagieren könnten
      Interview DANIEL BAX

      Herr Chomsky, welche Auswirkungen hat der Terroranschlag vom 11. September auf die Antiglobalisierungsbewegung und auf die Linke in den USA?

      Das Attentat war ein niederschmetternder Schlag für jeden, der sich gegen konzentrierte Machtstrukturen wendet. Es war ein niederschmetternder Schlag für die Palästinenser, für die Armen und Unterdrückten und alle anderen - weil es ihre legitimen Ängste und Klagen in den Hintergrund gedrängt hat. Die Leute richten ihre Aufmerksamkeit auf das unmittelbare Geschehen, was nur natürlich ist.

      Wie hat sich die öffentliche Meinung in den USA nach dem Anschlag verändert?

      Man muss unterscheiden zwischen den Medien und der öffentlichen Meinung. Die öffentliche Meinung ist beherrscht vom Schock, von Wut und Angst, aber bei weitem nicht so uniform und hysterisch, wie die Berichterstattung glauben macht. Die öffentliche Meinung drückt sich auch anders aus: Im Moment finden gerade Hunderte von Teach-ins statt, im ganzen Land. Wenn man den oberflächlichen Meinungsumfragen glaubt, dann sieht es so aus, als ob eine Mehrheit will, dass gebombt wird - egal, wer dabei draufgeht. Aber ich bezweifle, dass eine wirkliche Mehrheit für einen Militärschlag ist.

      Wenn das so ist: Haben Sie Hoffnung, dass sich das auf die Politik auswirkt?

      Kurz nach so einem Terrorangriff ist kein schneller Kurswechsel zu erwarten. Die Frage ist, ob die Sorgen der Bevölkerung in einen Druck münden, sich dem Hintergrund dessen hinzuwenden, was da passiert ist. Das kann man nicht vorhersagen. Auch 1965 hätte niemand vorhersehen können, dass eine ernsthafte Opposition gegen den Vietnamkrieg zustande kommt. Noch 1966 konnten wir in Boston, einer liberalen Stadt, keine öffentlichen Meetings veranstalten, weil diese durch Studenten und andere gesprengt wurden.

      Was sollten die USA tun?

      Es gibt einen klaren Weg, wie man in solchen Fällen zu reagieren hat. Es gibt ein internationales Recht, und das wird auch von anderen Ländern befolgt. Wir sind schon Zeugen von schlimmeren terroristischen Grausamkeiten gewesen. Nicaragua beispielsweise musste Mitte der 80er-Jahre schwere Angriffe durch die USA erleiden. Das Land ist daraufhin vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gezogen. Der Gerichtshof hat die USA wegen unrechtmäßiger Gewaltanwendung verurteilt - ein anderes Wort für Terrorismus - und sie aufgefordert, Reparationen zu zahlen. Die USA haben dieses Urteil schlichtweg in den Wind geschlagen, daraufhin hat sich Nicaragua an den Sicherheitsrat gewandt. Der Sicherheitsrat hat eine Resolution erlassen, die allen Staaten auferlegt, sich an internationales Recht zu halten. Die UN-Vollversammlung hat dies mit überwältigender Mehrheit unterstützt - mit Ausnahme der USA und Israel. Die USA könnten den gleichen Kurs einschlagen - Beweise finden und sie dem Internationalen Gerichtshof vorlegen.

      Der Internationale Gerichtshof in Den Haag urteilt nur über Staaten. Dass der Gegner diesmal kein Staat ist . . .

      . . . macht im Prinzip keinen Unterschied. Es gibt in diesem Fall, in dem es sehr schwierig ist, Indizien zu finden für das, was passiert ist, umso mehr Gründe, nicht einfach blindlings loszuschlagen. Nehmen wir an, jemand bringt Ihren Bruder um, und Sie wissen nicht, wer es getan hat. Wenn Sie dann einfach jeden umbringen, der auf der anderen Straßenseite wohnt - wäre das die richtige Reaktion?

      Nein, sicher nicht. Aber in diesem Fall sieht es nicht so aus, als ob Afghanistan willens sei, den Verdächtigen auszuliefern.

      Das ist nicht das, was sie gesagt haben. Sie haben gesagt: Liefert Beweise, dann werden wir uns beraten. Sie werden ihn ausweisen, da habe ich keinen Zweifel.

      Ist das Attentat ein historischer Wendepunkt?

      Ich stimme Leuten zu, die meinen, dass es ein neues Kapitel in der Geschichte ist. Man muss nur in die Geschichte der USA zurückblicken: Das ist das erste Mal seit dem Krieg von 1812, dass das Territorium der USA angegriffen, ja auch nur bedroht worden ist. Seit dieser Zeit haben die USA einen großen Teil der indigenen Bevölkerung ausgerottet, ein Drittel von Mexiko erobert und sich ausgedehnt, Hawaii und die Philippinen erobert und haben seit einem halben Jahrhundert weltweit interveniert. So sind wir das gewohnt: Wir greifen andere an. Jetzt haben sich die Kanonen in die andere Richtung gedreht.

      Das heißt, Sie sehen den Anschlag als Reaktion auf die amerikanische Nahost-Politik?

      Die Attentäter sind eine Kategorie für sich. Aber es gibt keinen Zweifel, dass sie aus einem großen Reservoir aus Wut und Angst schöpfen. Das Wall Street Journal beispielsweise hat, ein paar Tage nach dem Anschlag, eine Untersuchung durchgeführt, um die Einstellung von reichen Menschen in der Region zu erfragen: Akademiker, Banker, Geschäftsleute mit Verbindungen zu den USA. Diese Leute sind im Grunde sehr proamerikanisch. Aber auch sie haben große Vorbehalte gegenüber dem Vorgehen der USA in der Region.

      Was befürchten Sie?

      Alles hängt jetzt davon ab, wie die US-Regierung reagieren wird. Wenn sie Bin Ladens Gebete erhört und einen massiven Angriff gegen Afghanistan oder irgendeine andere muslimische Gesellschaft ausführt, dann wird genau das passieren, was Bin Laden und seine Verbündeten wollen - eine Mobilisierung gegen den Westen. Das ist die gleiche Dynamik, die man aus Nordirland kennt, vom Balkan und aus Palästina. Sie stärkt die repressiven Kräfte auf beiden Seiten. Wenn die Antwort auf Terror und Gewalt ein schlichtes Hinwegsehen über die Gründe dafür ist, dann wird das in den bekannten Kreislauf der Gewalt führen. Und jeder, der mit Bin Laden vertraut ist, weiß, dass er genau darauf hofft.

      Werden die USA solchen Warnungen Gehör schenken?

      Sie meinen, mit den Worten dieser proamerikanischen Geschäftsleute: Werden die USA aufhören, repressive Regimes zu unterstützen, die freie Entwicklung der Ökonomien zu blockieren, antidemokratische Bewegungen zu unterstützen und die Zivilgesellschaft im Irak zu zerstören, indem sie Saddam Hussein durch das Embargo stärken, und zur gleichen Zeit Israels Besatzungspolitik decken, die inzwischen in ihr 35. Jahr geht? Nun, wenn nicht, kann man ziemlich sicher sein, dass sich die Gewalt weiter hochschaukelt.

      Alternative Strategien setzen Geduld voraus.

      Nein, gar nicht. Was das Embargo gegen den Irak angeht oder die Politik Israels, so wäre es möglich, ziemlich schnell an einen Punkt zu kommen, der im Grunde ein breiter internationaler Konsens in dieser Frage ist. Das ist nichts Radikales.

      Aber auch nicht unbedingt das, um was es den Attentätern bei ihrem Anschlag ging?

      Wir wissen noch nicht mit Sicherheit, ob das Netzwerk von Bin Laden dahinter steht, aber es scheint plausibel. Die Attentäter sind eine Kategorie für sich: Das sind Leute, die in den 80er-Jahren durch die US-Regierung und den Geheimdienst Pakistans rekrutiert und trainiert, ausgerüstet und unterstützt wurden, um den Russen größtmöglichen Schaden zuzufügen. Natürlich wurden dafür die besten Killer unter Vertrag genommen, die man finden konnte - und das waren nun mal radikale islamische Fundamentalisten. Diese so genannten Afghanis haben auch auf dem Territorium Russlands eine Handvoll terroristischer Attacken ausgeführt. Aber ihr eigentliches Ziel war, die Russen aus Afghanistan zu vertreiben. Nachdem die Russen Afghanistan verlassen hatten, haben sie das Land in Schutt und Asche gelegt. Das Ende vom Lied waren die Taliban. Dieselben "Afghanis" kämpften später auch in Tschetschenien und anderswo. Sie haben auf dem Balkan gekämpft, mit US-Unterstützung, nachdem die USA sich der bosnischen Muslime annahmen, zu deren langfristigem Schaden. Ihre Hauptgegner sind heute aber Saudi-Arabien und die Regimes der Region, die sie als unislamisch betrachten. Als die USA 1990 ihre Truppen auf Dauer in Saudi-Arabien stationiert haben, haben Bin Laden und andere das verurteilt - für sie war das schlimmer als die russische Invasion Afghanistans, wegen der Bedeutung Saudi-Arabiens aufgrund der heiligen Stätten des Islam. Bin Laden spricht sehr deutlich, und seine Worte decken sich mit seinen Taten.

      Seinen Wünschen Folge zu leisten würde aber doch darauf hinauslaufen, die autoritären Regimes der Region - etwa in Saudi-Arabien - durch andere, noch repressivere zu ersetzen?

      Wenn man versucht zu verstehen, was er sagt, heißt das nicht, seinen Anweisungen zu folgen. Die Frage ist: Was wollen sie?

      Sie wollen den Nahen Osten in eine Art islamisch befreite Zone verwandeln - ähnlich, wie es rechtsradikale Milizen gerne, von ihrer Seite aus, mit den USA machen würden.

      In ihrer Ideologie gibt es sicher gewisse Ähnlichkeiten. Aber wenn man einen Umgang mit diesen Milizen finden will, muss man auch wissen, was sie wollen und was ihr Hintergrund ist.

      Was heißt das konkret für den Umgang mit ihnen?

      Was hat man gemacht, nachdem Timothy McVeigh das Gebäude in Oklahoma in die Luft gejagt hat? Man fand heraus, was ihn angetrieben hat - was diese Wut und Angst genährt hat, aus der sich diese terroristischen Anschläge speisen.

      Und wie beugt man solchen Attentaten in Zukunft vor?

      Es gibt fast immer Elemente legitimen Grolls in diesen Taten. Denen muss man sich stellen und versuchen, deren Ursachen zu reduzieren. Und natürlich muss man die Attentäter verfolgen. Das ist das, was man tun sollte - wie in jedem anderen Fall.

      taz Nr. 6554 vom 20.9.2001, Seite 5, 312 Interview, DANIEL BAX
      Avatar
      schrieb am 20.09.01 19:13:27
      Beitrag Nr. 77 ()
      @Neemann,
      du schreibst: "der Vize hat doch längst zugegeben, dass bereits der Auftrag bestand, den jet abzuschiessen. Die geben das frank und frei zu - selbst das dritte Flugzeug ist nur um 2 Minuten verpasst worden..."

      Woher hast du diese Information bzgl. des DRITTEN! Flugzeugs?

      Außer deiner Aussage habe ich dementsprechend nichts gefunden.
      Nach allen mir vorliegenden Agenturmeldungen heißt es, dass Bush den Befehl zum Abschuss kurz NACH! dem Einschlag des 3. Flugzeugs erteilt hat. Darauf stiegen F-16 Kampfjets über Washington auf, um notfalls Passagierflugzeuge abzuschießen, die sich den Anweisungen der Fluglotsen widersetzen und sich der Hauptstadt nähern.
      Cheney meinte danach, glücklicherweise sei es nicht nötig geworden, die Anordnungen in die Tat umzusetzen...

      Grüße
      Linea
      Avatar
      schrieb am 21.09.01 01:40:18
      Beitrag Nr. 78 ()
      Neemann
      ??????
      Wer etwas behauptet, trägt die Beweislast

      Grüße
      Linea
      Avatar
      schrieb am 21.09.01 08:46:28
      Beitrag Nr. 79 ()
      @linea,
      sorry war gestern abend nicht im Netz.

      Artikel aus der SZ von Dienstag - ich kann den jetzt unmöglich raussuchen und posten, aber dort jedenfalls wurde auch der Flug der Abfangjäger beschrieben, die 2 Minuten später in Washington eingetroffen waren.
      Avatar
      schrieb am 21.09.01 09:25:05
      Beitrag Nr. 80 ()
      @Neemann

      Hab heut morgen nur ganz kurz den Videotext zur Bush-Rede überflogen.

      U. a. soll Bush gesagt haben, daß er die Länder der Welt vor die Wahl stelle, beim Kampf gegen den Terror auf der Seite der USA oder der Seite der Terroristen zu stehen.
      (N-TV Text Seite 115).

      Wie interpretierst du diese Aussage?

      Könnte man es schlimmstenfalls als eine Generalmobilmachung gegen alles, was gegen die USA ist, verstehen?

      G
      Avatar
      schrieb am 21.09.01 11:20:47
      Beitrag Nr. 81 ()
      Gulak,
      ich würde das nicht überinterpretieren. Was ist denn gestern gewesen?

      Der Präsident hat eine Ansprache an seine Nation gehalten, und es ging doch ganz offenkundig nicht im entferntesten darum, uns irgendwelche Informationen oder Pläne zukommen zu lassen.

      Der einzige Zweck war, sich als Führer der Nation zu präsentieren, Zusammenhalt zu beschwören, Einigkeit zu demonstrieren ... und zu beweisen, dass er selbst voll auf der Höhe und am arbeiten ist. Ganz sicher haben seine berater den vollen tag am text gearbeitet, höchstwahrscheinlich hat er mindestens 90 Minuten darauf verschwendet, den Text genau eunzuüben für die grosse Rede.

      Dazu kann man stehen, wie man will - höchstwahrscheinlich ist es sogar überaus wichtig, dass die Amerikaner jetzt vollstes Vertrauen fassen, höchstwahrscheinlich ist es nicht mal verschwendete zeit gewesen, sich anstatt mit der eigentlichen Arbeit hauptsächlich mit repräsentation gestern beschäftigt zu haben.

      Aber in diesem Lichte solltest Du den text lesen - Bush weiss Europa, Russland, sogar China, die UNO hinter sich - und er bereitet weiterhin den Boden für Eingriffe in mehr als einem Staat - wenn in den nächsten Monaten neben Afghanistan auch in Irak oder im Sudan Truppen für überraschende und schnelle Aktionen landen, dann wird er sich auf diese Haltung berufen. Und nichts anderes hat er ja bereits Stunden nach dem Anschlag gesagt - wer Terroristen deckt, wird genauso wie sie selbst behandelt. es bezieht sich auf einige wenige staaten.
      Avatar
      schrieb am 21.09.01 14:21:08
      Beitrag Nr. 82 ()
      Alles klar, @Neemann,
      hatte gedacht, du hättest irgendwelche besonderen Quellen, die mir nicht zugänglich sind :D.
      War also nur etwas missverständlich formuliert...

      Grüße
      Linea
      Avatar
      schrieb am 21.09.01 20:14:09
      Beitrag Nr. 83 ()
      hallo,
      ich suche den text von column mccann, `die schuhe`, der letzte woche in der f.a.z. erschien. leider ist das f.a.z.-online-archiv derzeit nicht verfügbar. er passt übrigens gut in diese diskussion, deshalb die frage an euch, ob jemand weiss, wo er hier im board zu finden ist oder ob ihn jemand reinstellen kann?
      grüsse
      cabinda
      Avatar
      schrieb am 21.09.01 20:24:20
      Beitrag Nr. 84 ()
      Colum McCann
      Die Schuhe
      Wie meine Familie dem Unglück entging

      In Belfast wurde am letzten Donnerstag vor dem Rathaus eine dreiminütige Mahnwache abgehalten. Ein einziges Mal trauerte Belfast nicht um die eigenen Toten, sondern um jene, die tausende von Kilometern entfernt ums Leben gekommen waren, in New York, der Stadt, in der ich lebe.

      Ein Freund schrieb mir, daß eine überirdische Brise die Zweige der Bäume vor dem Rathaus bewegt habe. Die Flagge hielt still, als übe sie eine seltsame Solidarität, aber einige Blätter fielen von den Bäumen und sanken langsam auf die Köpfe der Menschen, die sich versammelt hatten. Das Schweigen hielt an. Dann wandten die Trauernden sich wieder ihrem Leben zu.

      Der Schmerz läßt uns die extremen Seiten des Lebens erfahren. Aber ein Schmerz, den man wie sein Innerstes kennt, ist nicht unbedingt der tiefere Schmerz. Obwohl ich einen großen Teil meiner Jugend dicht an den politischen Kämpfen Nordirlands verbracht und später darüber geschrieben habe, um diese Konflikte zu verstehen, war ich doch nicht vorbereitet auf das, was in meiner Wahlheimat am 11. September geschehen ist.

      Mein Schwiegervater war im 54. Stock des ersten Turms des World Trade Center. Wie durch ein Wunder konnte er entkommen, kurz bevor das Gebäude einstürzte. Er marschierte quer durch die Stadt und kam zu der Wohnung an der East Side, wo meine Frau und ich mit unseren zwei Kindern leben. Bevor er eintrat, zog er seine Schuhe aus. Sie starrten vor Schmutz, Asche und Zement, nachdem er durch die Trümmerfluten gewatet war. Er sagte, er wolle diese Schuhe niemals wieder sehen, aber meine Frau erwiderte, sie wolle sie aufbewahren.

      Die Schuhe stehen nun seit vielen Tagen unberührt vor unserer Tür. Sie erinnern genauso eindringlich an das Schreckliche wie der Rauch vom World Trade Center, der durch unsere Fenster hereinzieht. Sie klagen genauso eindringlich wie die Sirenen auf den Straßen, die immer noch entlang der First Avenue zu hören sind, als trauerten sie im voraus.

      Meine Tochter Isabella, sie ist fast fünf, will wissen, warum wir die Schuhe aufbewahren. Ich frage mich das auch, und die Frage beginnt mich zu verfolgen.

      Im Juli des Jahres 1975 täuschte eine paramilitärische Gruppe in Nordirland eine Straßensperre vor und stoppte den Tournee-Bus einer Musikgruppe, die sich "Miami Showband" nannte. Die Terroristen schmuggelten eine Bombe in den Bus, die sie später zünden wollten, damit es so aussähe, als hätten die Musiker Sprengstoff an Bord gehabt. Der Sprengkörper explodierte aber zu früh, und zwei Mitglieder der Paramilitärs wurden getötet. Die anderen Attentäter gerieten daraufhin in Panik und erschossen in einem kaltblütigen Massaker drei der unschuldigen Musiker.

      Ich war damals zehn Jahre alt und fragte meinen Vater, was geschehen sei. Er zögerte zunächst und gab mir dann auf Umewegn eine Antwort. Er sagte, man würde all diejenigen, die Bomben werfen, töten, verstümmeln, teeren und federn, in einer abgelegenen Ecke Nordirlands zusammentreiben. Dann würde man ein riesiges Messer nehmen, dieses Stück Land abtrennen und es ein Stück aufs Meer hinaustreiben lassen, wo diese Leute dann machen könnten, was sie wollten und uns in Ruhe lassen würden.

      Mein Vater wußte natürlich, daß die Dinge nicht so simpel waren und daß nicht einmal das Vereinfachen selbst so einfach war, aber die Erinnerung an seine Worte hat mich nicht verlassen und ist in dieser Woche zurückgekehrt. Es gibt keine Antworten auf all die Fragen, die meine Tochter mir stellt - nicht einmal eine Antwort auf die Frage, was wir mit den Schuhen tun sollen. Ich habe mit meiner Frau darüber gesprochen, und in meiner zynischen Art - oder vielleicht auch aufgrund der Erfahrungen meiner Jugend - unterstellte ich ihr, sie würde die Schuhe behalten, weil sie nun leer waren, weil niemals wieder Füße ihn ihnen stecken würden.

      Als wir später am Abend noch einmal darüber sprachen, antwortete sie, die Sache habe vielleicht wirklich etwas mit leeren Räumen zu tun. Wahrscheinlicher sei allerdings, daß sie die Schuhe aus dem einfachen Grund aufbewahrte, weil ihr Vater in ihnen der Katastrophe entkommen war.

      Aus dem Amerikanischen von Julika Griem.

      Der Schriftsteller Colum McCann, 1965 in Nordirland geboren, schreibt Romane und Short stories. In diesem Jahr erschien "Wie alles in diesem Land", ein Band mit Erzählungen.
      Avatar
      schrieb am 21.09.01 20:36:54
      Beitrag Nr. 85 ()
      @schnucke,
      wow, so schnell! vielen dank! :):)
      grüsse
      cabinda
      Avatar
      schrieb am 21.09.01 20:46:24
      Beitrag Nr. 86 ()
      Schnucke,
      Danke für das Posting.;)

      Gruß
      H.
      Avatar
      schrieb am 21.09.01 20:50:17
      Beitrag Nr. 87 ()
      Im übrigen ist das Bild von Fetting auch schon ein Dokument.

      Avatar
      schrieb am 21.09.01 23:10:24
      Beitrag Nr. 88 ()
      für cabinda

      (man soll ja nicht zu streng mit sich selber sein :laugh: )


      Phantom des Terrors
      Die Gewalt im Zeitalter ihrer medialen Potenzierbarkeit

      Die Realität sei verschwunden, die Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden von der medialen Simulation - so oder so ähnlich klang es noch vor kurzem aus den Denkstuben der Philosophen. Die Medienwelt, lautete die These einflußreicher Denker, habe zum Ende der Differenz zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Wahrheit und Lüge geführt. Die Wahrnehmung der Menschen werde von Fernsehbildern dominiert. Niemand könne mehr zwischen "objektiver" Wirklichkeit und deren medialer Imitation unterscheiden.

      Zehn Jahre sind vergangen, seit diese Thesen weite Verbreitung fanden, seit man den Krieg im Persischen Golf als den ersten "Videokrieg" bezeichnete: Dem Konflikt, hieß es damals, mangele es an Realität, da er nach dem Hollywood-Schema Gut gegen Böse in Szene gesetzt sei, der Schwerpunkt auf den special effects lag und man weit und breit keine Toten sah. Nein, so meinten manche, man könne nicht einmal sagen, ob ein Krieg jenseits der Bildschirme überhaupt stattgefunden habe. Für Jean Beaudrillard war der Golfkrieg ein "unwirklicher Krieg", eine Simulation, womöglich eine Fata Morgana. Es sei nicht zu entscheiden, ob den Medienbildern eine objektive Wirklichkeit entspreche. Paul Virilio erklärte, daß selbst die Krieger und ihre Opfer Teil einer gigantischen Medien-Show seien. CNN, so hieß es, habe die Virtualisierung der Welt verursacht.

      Der Terror macht den Irrwitz deutlich: Während die Wahrzeichen New Yorks schon in Flammen standen, mögen Millionen von Menschen gehofft haben: Dies kann nicht sein, es muß sich um einen Spielfilm handeln. Viele Kommentatoren erwähnen den ersten Impuls des Unglaubens, der sie zunächst durchfuhr, als sie den Wahnsinn am Bildschirm bezeugten: Die Unglaublichkeit der Gewalt schien das Fassungsvermögen des menschlichen Verstandes zu übersteigen. Spätestens jedoch, als das zweite Flugzeug in das Gebäude raste, war klar: Das Unfaßbare war Realität. Hier hatte die Wirklichkeit das Drehbuch geliefert. Die Ereignisse waren real, auch und gerade weil das definitionsmächtigste aller Nachrichtenmedien, der Sender CNN, die Ereignisse beglaubigte.

      Worauf die Kritik schon lange hinwies, wurde allzu deutlich: Die Apologeten der Simulation haben die Symbolkraft der Bilder, ihre Fähigkeit, über sich selbst hinauszuweisen, als Realitätsverlust mißverstanden. Doch das Desaster von New York demonstriert, daß die Medien-Images eben nicht zur Auflösung der Realität führen - sie fressen sich in diese hinein. In Millionen von Köpfen sind die Bilder der implodierenden Bauten eingebrannt. Die traurige Realität wird durch die Schreckensbilder nicht überlagert, sie wird intensiviert.

      Zu Zeiten ihrer - vermeintlich - unangefochtenen Vorherrschaft mag den Amerikanern die Idee vom Krieg als medialem Nicht-Ereignis ideologisch opportun gewesen sein - ähnlich wie die Anfang der neunziger Jahre in Kreisen des amerikanischen Außenministeriums kursierende Lehre vom "Ende der Geschichte". Amerikanische Militärinterventionen erhielten dadurch den Nimbus des Zwangsläufigen, als "unwirkliche" Ereignisse wurden sie in ihren realen Implikationen reduziert. Spätestens jetzt jedoch, da sich die Vorstellung von der Unantastbarkeit der Supermacht als Fiktion entpuppt hat, sind diese theoretischen Konstrukte falsifiziert.

      Die Terroristen wissen dies schon lange: Sie funktionieren Medien gezielt zu Waffen um. Kommunikationsmittel fungieren ihnen als Kanonen, mit denen sie auf das Bewußtsein der Menschen zielen. Natürlich kann man die unmittelbaren physischen Konsequenzen des Anschlags kaum überschätzen: Die Vernichtung der beiden Riesengebäude, die Verwüstung eines ganzen Stadtteils, der Tod Tausender von Menschen - für solch verheerende Folgen hätte es nach konventioneller Lesart einer ganzen Armee bedurft. Die "Kollateralschäden" des Angriffs jedoch werden vor allem politischer und psychologischer Natur sein. Sie wurden von den Terroristen sorgfältig eingeplant und werden sich über eine mediale Kettenreaktion weltweit niederschlagen. Die globale Tragweite des Terrorangriffs folgt aus seiner bösartigen, doch durchschlagenden Simplizität: Die Attacke erfolgte im Zentrum der globalen Medienindustrie und traf die meistgefilmten Symbole amerikanischer Macht. Die Piloten des Terrors wußten, ihr Angriff würde vor laufenden Kameras stattfinden.

      Logik der Massenmedien.

      Auch konnten sie wohl ahnen, daß ihre Aktion in den Massenmedien kaum dauerhafte Betrübnis auslösen würde. Nach kurzem Schock übernahmen die Routiniers in den Funkhäusern die Kontrolle und steuerten das Medien- Event nach Maßgabe der spektakulärsten Einstellung. Daß dabei die Sensationslust auf ihre Kosten kommen würde, dafür hatten die Protagonisten, die auch die Regisseure des Katastrophen-Szenarios waren, gesorgt. Wieder und wieder liefen die Bilder über den Schirm, die gigantische Stichflamme, der finale Kollaps der Zwillingstürme.

      Schon jetzt ist sicher, daß es sich um die bestdokumentierte Gewalttat der Geschichte handelt: Nie zuvor hat die Menschheit zeitgleich ein ähnliches Inferno zu spüren bekommen. Damit haben die Terroristen zumindest ihre unmittelbaren Ziele erreicht: Sie haben ein undenkbares Chaos angerichtet, eine generelle geistige Verwirrung gestiftet, die weit über den Ort der Zerstörung hinausstrahlt. Von nun an folgt der Konflikt der Logik der Gewalt im Zeitalter ihrer medialen Potenzierbarkeit: Wie die verstörten Mienen gemäßigter moslemischer Führer von Mubarak bis Arafat, wie ihre theatralischen Erklärungen, man müsse den Terrorismus bekämpfen, verdeutlichen: Sie ahnen, was kommen wird. Die Schande, im Fernsehen, vor den Augen der Welt, im Herzen der Macht verwundet worden zu sein, wird die Amerikaner nicht ruhen lassen.

      Die Vereinigten Staaten können kaum anders, als zu glauben, daß sie zum Gegenschlag gezwungen sind: Der Anspruch darauf scheint ihnen schon durch die Schwere des Unglücks gewährt. Daß sie es mit einem fast unsichtbaren Feind zu tun haben, wird ihre Wut nur steigern. Genau dies jedoch war es wohl, was die Attentäter zu ihrer rational geplanten Wahnsinnstat veranlaßte: Ihre Opfer zu Handlungen zu bewegen, mit denen sie sich selbst weiter Schaden zufügen. Dies ist das Kalkül der Gewalt in der Ära der globalen Echtzeit-Medien: Ihre Resonanz über die Kommunikationsnetze zu verstärken, Angst und Schrecken zu verbreiten, den Gegner in Zugzwang zu bringen und damit Kettenreaktionen auszulösen. Die begrenzten Mittel selbst kleinerer terroristischer Zellen werden unermeßlich potenziert - deswegen die Zerstörung der Symbole der Ordnung vor den Augen der Weltöffentlichkeit.

      Wie die Fernsehauftritte des amerikanischen Präsidenten in den Tagen nach dem Anschlag demonstrierten: Auch die Antwort auf den Terror wird über die Medien geliefert. Dies gilt für die krampfhaften Versuche, Normalität und Zuversicht auszustrahlen. Dies dürfte auch auf die Vergeltung zutreffen. Sie wird mit den sterilen Videobildern des Krieges im Persischen Golf vor allem eines gemein haben: daß sie auf derselben Plattform, CNN, ausgespielt wird. Die amerikanische Öffentlichkeit scheint ein mediales Rache-Spektakel einzufordern. Warum? Warum der Angriff auf Amerika? Warum die vermeintliche Unausweichlichkeit einer militärischen Reaktion? In der frenetischen Suche nach der Herkunft der Täter und ihrer Verbündeten wurden in den Medien diese Fragen kaum erörtert. Tage nach dem Anschlag hieß es im amerikanischen Fernsehen, es wäre falsch, die Terroristen als Fanatiker abzutun: Damit unterschätze man den Gegner. Daß es sich bei dem Terroranschlag um ein Teilereignis eines langfristigen Prozesses handeln könnte, wurde hingegen kaum diskutiert.

      "Dies ist der Dritte Weltkrieg".

      Ob der Teilsieg der Terroristen und ihrer Hintermänner zu ihrem Triumph führen wird, ist noch keine abgemachte Sache. Doch die Saat zukünftiger Gewalt ist gelegt. Die Übergriffe in den Vereinigten Staaten auf Menschen orientalischer Abstammung, die sich in der explosiven ethnischen Gemengelage jederzeit zum Mikrokrieg von Nachbarn gegen Nachbarn ausweiten können, demonstrieren: daß das Teufelswerk der Todesflieger in den Köpfen der Menschen weitertickt.

      George W. Bushs Bemerkung am Tag nach dem Attentat läßt das Schlimmste erwarten: "Diese Schlacht wird Zeit und Entschlossenheit erfordern", erklärte der völlig aufgelöste Präsident vor laufenden Kameras. "Aber laßt euch nicht täuschen", so Bush weiter, "wir werden siegen." So verständlich die Worte im Anschluß an die Schock-Ereignisse sind, so sehr offenbart sich darin eine Fehlinterpretation der Lage. Denn eines ist sicher: daß die Amerikaner und mit ihnen die Welt am 11. September eine fürchterliche, nicht revidierbare Niederlage erlitten haben. "Dies ist der Dritte Weltkrieg", glaubte Thomas L. Friedman daraufhin in der "New York Times" erklären zu müssen. Dies aber ist eben nicht der Fall. Denn dieser "Krieg" ist ein Nicht-Krieg, wenngleich auf andere Weise als die Simulationstheoretiker meinten, als sie über den Golfkrieg philosophierten: Die Gewalt ist höchst real und macht durch ihre mediale Übertragung selbst vermeintlich unbeteiligte Menschen zu Kombattanten. Doch es ist ein Konflikt mit einem flüchtigen Feind, einem virtuellen Gegner, der mit seinem Auftauchen wieder verschwindet. "Bisher haben wir auf Angriffe mit Vergeltungsschlägen geantwortet", schrieb Henry Kissinger in der "Washington Post". Nun jedoch, da das Territorium Amerikas angegriffen worden war, müsse ein direkter Schlag auf das gegnerische System erfolgen. Nicht die Vergeltung der Bluttat, sondern die Vernichtung des Gegners wurde zum erklärten Ziel der amerikanischen Regierung. Im Kampf gegen die Phantome des medial potenzierten Nicht- Kriegs versagen die Modelle klassischer Realpolitik.

      Mit der militärischen erfolgt die mediale Mobilmachung: Von Wiederholung zu Wiederholung verfeinert, erfuhren die Bilder, die den Anschlag auf die Wohnzimmer der Welt geführt hatten, in den Tagen darauf einen grundlegenden Bedeutungswandel. Unterlegt mit Monumentalmusik, kombiniert mit Aufnahmen trauernder Überlebender, jubelnder Palästinenser und eines Präsidenten, der auf den qualmenden Schutthügeln New Yorks stand, erschienen sie wie ein Ruf zu den Waffen. "Wir werden nicht zulassen, daß er seine Ziele erreicht", erklärte Vizepräsident Dick Cheney im Sender NBC. Gemeint waren die vermuteten Ziele des vermeintlichen Mastermind hinter den Anschlägen, ein Phantom namens Usama Bin Ladin. Man bereite sich auf einen langwierigen Feldzug gegen den Feind vor. Doch welcher Feind?

      Dem virtuellen Unternehmen der "New Economy" entspricht die virtuelle Terror-Organisation der von George Bush senior so bezeichneten "New World Order". Dieser Gegner ist an keinen geographischen Ort gebunden. Er agiert aus dem Verborgenen heraus und folgt dem Prinzip der Vernetzung. Er hat sich eine flache, hierarchielose Struktur geschaffen. Er kompensiert die Knappheit an Ressourcen und Personal mit der geschickten Instrumentalisierung technologischer Systeme. Und er löst violente, ja epidemische, Kettenreaktionen aus. Diesem Gegner, der sich der Mittel einer delokalisierten, medial amplifizierten Gewalt bedient, ist weder mit biblischer Rache noch mit simplistischen Freund-Feind- Schemata, schon gar nicht mit den Kategorien "Sieg" und "Niederlage" beizukommen. Wer dies nicht erkennt, fordert weiteres Unheil heraus.

      THOMAS SCHUSTER
      Avatar
      schrieb am 22.09.01 00:16:21
      Beitrag Nr. 89 ()
      @Boardmail
      woher stammt den der Artikel?

      "Die Vereinigten Staaten können kaum anders, als zu glauben, daß sie zum Gegenschlag gezwungen sind: Der Anspruch darauf scheint ihnen schon durch die Schwere des Unglücks gewährt. Daß sie es mit einem fast unsichtbaren Feind zu tun haben, wird ihre Wut nur steigern. Genau dies jedoch war es wohl, was die Attentäter zu ihrer rational geplanten Wahnsinnstat veranlaßte: Ihre Opfer zu Handlungen zu bewegen, mit denen sie sich selbst weiter Schaden zufügen. Dies ist das Kalkül der Gewalt in der Ära der globalen Echtzeit-Medien: Ihre Resonanz über die Kommunikationsnetze zu verstärken, Angst und Schrecken zu verbreiten, den Gegner in Zugzwang zu bringen und damit Kettenreaktionen auszulösen. Die begrenzten Mittel selbst kleinerer terroristischer Zellen werden unermeßlich potenziert - deswegen die Zerstörung der Symbole der Ordnung vor den Augen der Weltöffentlichkeit."

      Das ist doch auch wieder eine Projektion des Westens auf den scheinbar unsichtbaren überlegenen Feind im Dschungel. Eine Urangst.
      Vielleicht gibt es keine Strategie, und kein Mastermind. Vielleicht war es nur eine einmalige Aktion?
      Vielleicht werden wir uns nicht in ausweglosen Konflikten verheddern.

      Interessant ist die Rede von virtuellen Gegnern usw.
      Der Anschlag wurde in den Medien als Lowrech Anschlag bezeichnet, der die Pläne des Raketenschilds ad absurdum führen würde. Wieder eine Spiegelung: die "Ergebnisse", die die Ermittlungsbehörden veröffentlichten sind doch ebenfalls mit "Lowtech" Methoden erzielt worden. Normale kriminalistische Arbeit, Listen auswerten, Spuren nachgehen, Leute verhören usw.

      Es wird immer auf Zeitgeist Ebene diskutiert. Ich kann mich noch gut an die Debatten des "virtuellen Krieges" und der Simulation usw. erinnern.
      heute sprechen alle Sender unisono, daß sich die Bilder "einbrennen" würden. Ob da nicht eher der Text des Autors anschließend mit Nero verewigt wird?

      Gruß
      H.
      Avatar
      schrieb am 22.09.01 01:47:52
      Beitrag Nr. 90 ()
      Ich muss zugeben, so langsam werden mir die Kommentare zu viel und etwas zu engstirnig bzw zu unstimmig: Z.B. der Satz: "Die Realität sei verschwunden, die Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden von der medialen Simulation - so oder so ähnlich klang es noch vor kurzem aus den Denkstuben der Philosophen."
      Also ich weiß nicht, welche philosophischen Denkstuben hier gemeint sind. Aber soweit ich informiert bin, hat die Philosophie immer unterschieden zwischen irgendwelchen Wirklichkeiten, in denen wir leben (Schein) und der Wahrheit. Und ob der Mensch jetzt in einer medialen Simulation lebt (kling gut!) oder in einer medienunabhängigen (falls es jemals so etwas gab) ebenso fiktiven eigengestrickten Wirklichkeit, ist doch nicht entscheidend. Wichtig bleibt immer für jeden die existenzielle Frage - etwas moderner ausgedrückt: Wo finde ich mich und wie stelle ich mich dieser Welt. Naja, da sind wir wohl auch bei der Ethik, aber das ist ein anderes Kapitel.

      Also wenn man jetzt auch noch die Philosophie hervorkramt, scheint es ja wirklich ein Nachrichten-Vakuum zu geben, das verschiedene Leute mit mehr oder weniger klugen Artikeln ausfüllen müssen. Ob es dabei um wirkliche Information geht oder um pure Selbstdarstellung - das sei dahin gestellt

      Grüße
      Linea
      Avatar
      schrieb am 22.09.01 02:07:44
      Beitrag Nr. 91 ()
      @ heizkessel
      ich las heute abend nochmal in paul kennedys "aufstieg und fall der grossen mächte". das buch ist von 1991 und entsprechend veraltet. aber an einer stelle wurde ich doch sehr an bilder aus deinem anderen thread erinnert. es ging um historische präzendenzfälle und ich zitiere nur so ausführlich, um den zusammenhang herzustellen... "Denn für `Nummer-eins` Länder ist es immer ein geläufiges Dilemma gewesen, daß äußere Herausforderungen sie dazu zwangen, mehr an Ressourcen auf den Militärsektor zu konzentrieren, während zugleich ihre relative ökonomische Kraft nachließ. Dieser Prozeß beschleunigt sich, da immer weniger Kapital für produktive Investitionen übrigbleibt. Dazu kommen höhere Steuern, wachsende Uneinigkeit über politische Prioritäten und eine sich abschwächende Fähigkeit, die militärischen Lasten zu tragen. Wenn dies wirklich das Muster der Geschichte ist, dann ist man versucht, Shaws todernstes Bonmont zu paraphrasieren und zu sagen: `Rom ist gefallen, Babylon ist gefallen; Scarsdales Zeit wird kommen."

      Scarsdale ist ein sehr reicher New Yorker Vorort, in dem u.a. die Börsenmakler wohnen
      Avatar
      schrieb am 22.09.01 03:21:27
      Beitrag Nr. 92 ()
      George Bernard Shaw hat aber auch an anderer Stelle gesagt:

      Manche Menschen sehen die Dinge, so wie sie sind - und fragen: Warum?
      Ich erträume Dinge, die es noch nie gegeben hat, und frage: Warum eigentlich nicht?

      Grüße
      Linea
      Avatar
      schrieb am 22.09.01 08:11:00
      Beitrag Nr. 93 ()
      @linea
      Also wenn man jetzt auch noch die Philosophie hervorkramt, scheint es ja wirklich ein Nachrichten-Vakuum zu geben, das verschiedene Leute mit mehr oder weniger klugen Artikeln ausfüllen müssen. Ob es dabei um wirkliche Information geht oder um pure Selbstdarstellung - das sei dahin gestellt

      wenn philosophie ein verpönter begriff ist könnte man sich vielleicht auf "medientheorie" oder "sozial ethik" einigen ;)
      die zweifel die simulations/realitäts theorie diene vielleicht nur der selbstdarstellung ist sicher nicht ganz unberechtigt da z.b. baudrillard eine recht "blumige" sprache verwendet aber ein paar aussagen durchaus nachvollziehbar sind und imho einen wahren kern haben. da es weniger um den 11.09 an sich geht sondern um grundsätzlicheres wie zum beispiel ob gesellschaftliche systeme ihre eigene vollendung (verendung?) `herbeisehnen` wie z.b. in dem kinofilm FIGHT CLUB dargestellt wurde, oder allgemein unser wertesystem in frage gestellt wird halte ich es wenigstens für diskussionswürdig.
      kritisches dazu: Treiben wir´s französisch ?
      http://www.bbpp.de/welt210899/hermeneutik1.htm

      Also ich weiß nicht, welche philosophischen Denkstuben hier gemeint sind.

      es fängt mit dem tv an:
      "das ist die schwache definition des fernsehens, das seinen zuschauer dazu verdammt, die wenigen punkte, die er wahrnimmt , wie bei einem abstrakten kunstwerk wieder zusammenzusetzen. er nimmt an der erschaffung einer realität teil, welche sich ihm nur als pünktchen darbietet: der fernsehzuschauer befindet sich in der lage eines individuums, dem man vorschlägt, seine eigenen phantasmen in tintenkleckse zu projizieren, die eigentlich nichts aussagen sollen" das fernsehen als permanenter rorschachtest. und weiter: " das fernsehbild zwingt uns in jedem augenblick dazu, die leerstellen des rasters in einer erzwungenen beteiligung unserer sinne zu vervollständigen, die zutiefst kinetisch und taktil ist"
      (marshall mcLuhan: die magischen kanäle)


      allen voran hat jean baudrillard wohl als erster den begriff der hyperrealität erklärt und den golfkrieg durch seine irreale darstellung (`video game`) als nicht-reale weil bezugslose simulation dargestellt. ein paar texte dazu:

      "Das Virtuelle beherrscht nicht nur die Medien, es hat auch das Wirkliche angegriffen. Der Golfkrieg wird elektronisch geführt. Der Feind als Gegenüber, der persönliche Feind ist verschwunden. Der Kriegsschauplatz ist für die Beteiligten nur aud den Schirmen ihrer Radare und Zielvorrichtungen präsent. Die Kriegsereignisse selbst sind ins Ungewisse geraten." [Baudrillard]

      Im April 1992 zeigt CBS "60 Minutes" ein circa zweieinhalb-minütiges Video - Originalmaterial, footage eines Dialogs zwischen Kampfhubschrauber-Pilot und Feuerleitstelle. Das Szenario: zwei gepanzerte Fahrzeuge im Infrarotvisier des "Apache", der Pilot brennt darauf, sie abzuschießen, trigger-happy.

      Nachdem die Feuererlaubnis9 erteilt wurde , sehen wir die Fahrzeuge in der Wüste brennen - zwei Volltreffer. Fünf Sekunden später kommt die Nachricht von der Feuerleitstelle, daß soeben amerikanische Soldaten getoastet wurden; einer der peinlichen, weil publik gewordenen Fälle von "friendly fire". Zum Problem des real world interface nochmals Baudrillard:

      "Alles läuft so schnell ab durch diese Elektronik, in Echtzeit, alles ist in einen Kurzschluss geraten. Es gibt nicht mehr diese Distanz vom Ereignis zum Bild zum Urteil. Diese Unmittelbarkeit macht den Krieg so obszön, so pornographisch. Wir sind in einem Clip, wo alle Bilder durcheinanderkommen und wo es folglich keinen Standpunkt mehr geben kann. [Baudrillard]

      nochmals thomas schusters dazu aus dem posting von Boardmail:
      "Worauf die Kritik schon lange hinwies, wurde allzu deutlich: Die Apologeten der Simulation haben die Symbolkraft der Bilder, ihre Fähigkeit, über sich selbst hinauszuweisen, als Realitätsverlust mißverstanden. Doch das Desaster von New York demonstriert, daß die Medien Images eben nicht zur Auflösung der Realität führen - sie fressen sich in diese hinein. In Millionen von Köpfen sind die Bilder der implodierenden Bauten eingebrannt. Die traurige Realität wird durch die Schreckensbilder nicht überlagert, sie wird intensiviert."
      [Schuster]

      man könnte nun entgegnen das der zweifellos stattgefundene "realitätsverlust" in der videogame-artigen darstellung des golfkrieges am 11.09 in sein absolutes gegenteil verkehrt wurde da diese live aufnahmen `hyperreal` waren - millionen tv-zeugen (!) haben in den ersten augenblicken an einen hollywood film geglaubt und waren zum ersten mal einem reporter gleichgestellt da es keinen wissensvorsprung gab als die flugzeuge live in die türme flogen (sicherlich haben auch einige der opfer ihrer eigenen ermordung im fernsehen zugeschaut).
      wie grotesk kaltblütig die von den terroristen gewollte instrumentalisierung des fernsehens geplant wurde kann man daran ablesen das mit der wahl des zeitpunktes auch tv-zeugen in europa erreicht werden sollten. ohne fernsehkameras wäre dieser anschlag nicht weniger schrecklich gewesen aber zumindest wäre die schockwirkung auf die welt nicht so stark gewesen. selbst ein anschlag mit chemischen oder bakteriologischen waffen hätte in seiner traumatisierenden wirkung das geschehene nicht übertreffen können.
      wissend um die wirkung von solchen bildern werden umgekehrt nicht umsonst militäraufnahmen vom golfkrieg bei denen hunderte (?) irakische soldaten in ihren schützengräben mit spezialpanzern lebendig begraben wurden unter verschluss gehalten.
      http://www.google.de/search?q=cache:-6gruT9vptc:www.newsday.…
      http://friedensbuendnis-ka.exit.mytoday.de/iq2001/buecher/rg…
      (trivia am rande: timothy mcVeigh der oklahoma attentäter war in einer dieser `bulldozer troops`)
      http://www.ccstrauma.com/krieg.htm

      bleibt als fazit das tatsächliche geschehnisse - der golfkrieg wie der 11.09 - insoweit "realitätsfern" sind, das nur über die art der berichterstattung ihr stellenwert, ihre `echtheit` definiert wird. wer sich gegen diese wirkung für immun hält uberschätzt sich selber.


      was für einen symbolischen stellenwert das WTC hat (das WTC wird weiterhin in der realität der medien existieren bis es durch einen wiederaufbau auch tatsächlich wiederauferstehen wird) und von den terroristen wohl auch deswegen als ziel ausgewählt wurde, verdeutlicht folgender text:

      "Fassade des Systems
      Warum hat das World Trade Center in New York zwei Türme? Alle großen Gebäude in Manhattan haben sich darauf beschränkt, sich in einer konkurrierenden Vertikalität gegenüberzustehen; daraus entstand ein architektonisches Panorama nach dem Vorbild des kapitalistischen Systems: ein Dschungel von Pyramiden, in dem alle Gebäude einander zu übertreffen versuchen. Das System selbst zeichnete sich mit der berühmten Skyline von New York ab, die man bei der Ankunft vom Meer aus sah. Dieser Anblick hat sich innerhalb weniger Jahre völlig verändert. Das Abbild des kapitalistischen Systems ist keine Pyramide mehr, sondern eine Lochkarte. Die Gebäude sind keine Obelisken mehr, sondern haben sich, ohne einander länger herauszufordern, eng aneinander gepresst wie die Kolumnen einer statistischen Grafik. Diese neue Architektur verkörpert ein System, das nicht mehr konkurrenzhaft, sondern berechenbar ist, in dem die Konkurrenz zugunsten der Korrelation verschwunden ist. (New York ist die einzige Stadt der Welt, deren Geschichte mit erstaunlicher Genauigkeit und im vollen Umfang die jeweils aktuelle Form des Systems des Kapitals nachzeichnet: Ihm entsprechend ist sie in unaufhörlicher Veränderung - wie keine europäische Stadt.) Dieser architektonische Grafismus ist der des Monopols: die zwei Türme des WTC, zwei vollkommene, parallele, einander flankierende Säulen von 400 Meter Höhe auf quadratischer Basis, vollkommen ausgewogene und blinde kommunizierende Röhren - die Tatsache, dass es zwei identische gibt, ist signifikant für das Ende aller Konkurrenz, das Ende jeder ursprünglichen Referenz."
      [Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod (1976), Matthes & Seitz 1982]
      http://www.zeit.de/2001/66/Kultur/200166_s-zitate.html

      weiter:
      "wenn es nur eine (röhre) wäre, wäre das monopol paradoxerweise nicht darin verkörpert, denn wir haben gesehen, das es sich in einer dualen form stabilisiert. damit das zeichen rein ist, muss es sich selbst verdoppeln: erst die verdopplung des zeichens macht dem, was es bezeichnet ein ende. darin steckt auch das geheimnis von andy warhol: die seriellen kopien des gesichts von marylin monroe sind gleichzeitig der tod des originals und das eigentliche ziel der repräsentation. die zwei türme des WTC sind das sichtbare zeichen für die abgeschlossenheit eines systems im rausch der verdopplung, während jeder der anderen wolkenkratzer das ursprungsmoment *eines* systems ist, das sich durch die krise und die herausforderung ständig selbst übertrifft.
      es liegt eine besondere faszination in dieser verdopplung. wie hoch sie auch sind, und sie sind höher als alle anderen, die zwei türme bedeuten dennoch einen bruch mit der vertikalität. sie ignorieren die anderen gebäude, sie sind nicht von deren art, sie fordern sie nicht mehr heraus, weil sie sich nicht mehr mit ihnen vergleichen, sie spiegeln einander und dominieren durch das prestige der ähnlichkeit. was sie wechselseitig spiegeln ist die idee des modells, das sie füreinander sind, und und ihre gleiche höhe wird nicht mehr als ein `übertreffen` (konkurrenz) gewertet - sie bedeutet nur noch, dass von nun an die die strategie der modelle und der austauschbarkeit im herzen des systems selbst - und new york ist wahrhaftig das herz des systems - historisch die vorherrschaft über die traditionelle strategie der konkurrenz gewonnen hat.[...]"
      Avatar
      schrieb am 22.09.01 09:36:27
      Beitrag Nr. 94 ()
      @alle
      der artikel von SCHUSTER stammt aus der FAZ

      linea, wenn du news hast bring sie doch - allerdings werden die nächsten `news` wohl kriegshandlungen sein und dann sind die selbstdarstellenden philosophen eh wieder weg vom platz ...

      (mir sind selbstdarstellende intellektuelle lieber als kriegshelden)
      Avatar
      schrieb am 22.09.01 10:18:07
      Beitrag Nr. 95 ()
      @Boardmail
      Mir sind Philosophen auch bedeutend lieber als Kriegshelden ;)

      @tomoffel,
      Danke für deine interessanten Ausführungen :) Baudrillard gefällt mir, werde ich auf meine Leseliste setzen ;)

      Grüße
      Linea
      Avatar
      schrieb am 22.09.01 10:32:24
      Beitrag Nr. 96 ()
      tomoffel, toller Beitrag, vielen Dank.

      Linea, was wenn wir keine Wahl hätten, uns das auszusuchen?

      Gruß
      H.
      Avatar
      schrieb am 22.09.01 12:40:20
      Beitrag Nr. 97 ()
      als ich das wort "infinite justice" sah, das gewählt wurde für militärische aktionen, drehte sich mir der magen um. ich bin froh, dass es zurückgenommen wurde, hier ein artikel aus der FAZ von heute

      Doch keine grenzenlose Gerechtigkeit

      Aus Rücksicht auf religiöse Empfindlichkeiten in islamischen Ländern - grenzenlos ist nur göttliche Gerechtigkeit - wurde das Codewort der Militäraktion "infinite justice" gestrichen

      Daß die Vereinigten Staaten den Namen "Infinite Justice" für die von ihnen geplante militärische Aktion kassiert haben, kann nur mit Erleichterung zur Kenntnis genommen werden. Der amerikanische Verteidigungsminister erklärte, daß er von der Wahl dieses Codeworts nicht gewußt habe, auch wollten die Vereinigten Staaten nichts tun oder sagen, was einen mißverständlichen Eindruck machen könne - "und dies wäre hier eindeutig der Fall". Merkwürdig bleibt, daß nur auf die religiösen Gefühle von islamischen Gläubigen Rücksicht genommen wurde, von einer Verletzung christlicher oder jüdischer religiöser Überzeugungen war nicht die Rede. Eine Gedankenlosigkeit? Denn es kann auch im Westen niemandem entgangen sein, daß unendlich oder grenzenlos nur eine göttliche Gerechtigkeit sein kann. Aber offenbar fand die Verknüpfung von Gerechtigkeit und Unendlichkeit in unseren Sprachen kein deutliches Echo, das den Weg zur theologischen Überlieferung gewiesen hätte. "Unendliche Weisheit", "infinite wisdom", ist sofort als Gottesprädikat erkennbar, und ein kurzes Nachdenken hätte darauf aufmerksam machen können, daß es mit der Gerechtigkeit nicht anders stehen kann als mit der Weisheit. Blaise Pascal, dieser gläubige Rationalist des siebzehnten Jahrhunderts, hat die Kluft zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit nur durch einen gewaltsamen Vergleich mit dem mathematischen Unendlichen ein wenig schließen können: "Zwischen unserer Gerechtigkeit und der Gottes besteht keine so große Disproportion wie zwischen der Eins und dem Unendlichen." Doch man braucht sich nicht auf theologische Rechenkunststücke einzulassen, um zu sehen, daß jedenfalls die Gerechtigkeit, die wir ausüben können, immer nur begrenzt, endlich sein kann. Sie ist sogar in ihrem Wesen grenzziehend, ihre Aufgabe ist es, die endlose Kette von Tat und Widertat, von Terror und Gegenterror abzubrechen und einen Raum zu sichern, in dem gerecht geurteilt und gemessen werden kann. Unter dem Schock der grausamen Aktionen mag für einen Augenblick ein Vergeltungsdenken die Oberhand gewonnen haben. Für einen Augenblick ließ sich eine Macht, die nur an Ordnung interessiert sein kann, dazu hinreißen, mit der Entfesselung totaler Unordnung zu drohen - mit einer grenzenlosen statt mit einer Grenzen setzenden und respektierenden Gerechtigkeit. Wenn "infinite justice" nicht das Maß militärischer Aktionen sein kann, so ist es die Gerechtigkeit durchaus. Der gerechte Krieg war ein Maß für das militärische Handeln, solange er von beiden Seiten anerkannt war und nicht die eine Seite in den Augen der anderen einen ungerechten Krieg führte. Jeder Krieg, der nicht in ein sinnloses Gemetzel ausarten soll, muß diese Möglichkeit einschließen. Man muß Gerechtigkeit und Gewalt zusammenbringen: "Die Gerechtigkeit ohne Gewalt ist machtlos, und die Gewalt ohne Gerechtigkeit ist tyrannisch." Auch dies war schon die Einsicht jenes Stubenmenschen Pascal.
      Avatar
      schrieb am 22.09.01 13:16:13
      Beitrag Nr. 98 ()
      @Boardmail,die martialische Sprache der letzten Tage, war schon bemerkenswert, wenn das Wort vom "Kreuzzug" nicht bewußt gewählt war, zeigt es eine deutliche Ignoranz.

      Heute ebenfalls in der FAZ:

      Das Ende der Einsamkeit

      Der heilsame Schock des 11. September / Von Francis Fukuyama


      Der 7. Dezember 1941 hatte für meine Familie ganz besondere Folgen. Zwei Wochen nach dem Angriff auf Pearl Harbor unterzeichnete Roosevelt einen Erlaß, der alle "Bürger japanischer Abstammung" zwang, sich bei Umsiedlungszentren zu melden. Mein Großvater, der in den zwanziger Jahren unter großen Mühen einen Eisenwarenladen in Los Angeles aufgebaut und ihn auch durch die Weltwirtschaftskrise gebracht hatte, mußte sein Geschäft für ein Almosen verkaufen und mit seiner Familie für die Dauer des Krieges in ein Lager in Colorado ziehen.

      Die Veränderungen, die uns nach den Angriffen vom 11. September erwarten, werden dagegen meines Erachtens nicht zu einem repressiveren, intoleranteren, fremdenfeindlicheren, noch stärker gespaltenen oder isolationistischen Amerika führen. Vielmehr gibt es Anzeichen dafür, daß die Tragödie das Land tatsächlich nach innen stärker und einiger machen wird und international zu konstruktiverer Beteiligung veranlassen könnte.

      Da die Schuldigen unter islamischen Fundamentalisten im Mittleren Osten gesucht werden, gibt es natürlich Anlaß zu der Sorge, die Muslime könnten nun möglicherweise als Gruppe in Verruf geraten. Die im Fernsehen gezeigten Bilder einiger Palästinenser, die den Einsturz des World Trade Center bejubelten, haben deren Ansehen bei den Amerikanern gewiß nicht gefördert. Dennoch bezweifle ich sehr, daß die Regierung auch diesmal auf ethnische Ausgrenzung setzen wird, obwohl viele Amerikaner sich vor weiteren terroristischen Angriffen fürchten. Zwar hat es bereits einige üble Ausschreitungen gegen einzelne Bürger aus dem Mittleren Osten gegeben, doch die Internierung der aus Japan stammenden Amerikaner während des Zweiten Weltkriegs und die späteren Kämpfe um den Schutz der Bürgerrechte haben die Gesellschaft für die Gefahren einer groben ethnischen Kategorisierung sensibilisiert.

      Tatsächlich war an der Berichterstattung über das Geschehen am World Trade Center vor allem eines überraschend: die unerhörte Vielfalt der Opfer. Man sah Weiße, Schwarze, Südamerikaner, Asiaten und selbst solche, die aus dem Mittleren Osten zu stammen schienen; man sah reiche Investmentbanker und einfache Kellnerinnen, und sie alle erschienen gar nicht so verschieden, wie sie blutverschmiert und mit Asche bedeckt durch die Straßen liefen. Sie alle waren gleichermaßen Ziel eines irrationalen Hasses, und alle erwarten Schutz von derselben Regierung. Ich glaube auch nicht, daß die Angriffe zu nennenswerten Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten führen werden, etwa zu häufigen Polizeikontrollen oder zur Einführung präventiver polizeilicher Maßnahmen. Flugreisen werden natürlich für alle sehr viel unbequemer werden, aber die offene Gesellschaft ist in Amerika so stark verwurzelt, daß selbst ein Ereignis dieser Größenordnung daran nichts ändern wird.

      Not kann auch positive Wirkungen haben. Die Mentalität eines Volkes wird auch von gemeinsamen traumatischen Erlebnissen geprägt, wie man am Pazifismus der Japaner und am monetären Konservatismus der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg sehen kann. Die modernen europäischen Staaten sind unter dem Druck von Kriegen und Konflikten entstanden, und auch für die Entwicklung des amerikanischen Staates waren Konflikte von wesentlicher Bedeutung. Der Bürgerkrieg ließ eine zentralisierte bundesstaatliche Gewalt entstehen, und der Zweite Weltkrieg zwang das Land, internationale Verantwortung zu übernehmen.

      Beton begräbt die Leichtigkeit

      Frieden und Wohlstand fördern dagegen die Beschäftigung mit den eigenen kleinen Angelegenheiten, und die Menschen vergessen leicht, daß sie Teil einer größeren Gemeinschaft sind. Der lange Wirtschaftsboom der Clinton-Jahre und die unangefochtene weltpolitische Vorherrschaft der Vereinigten Staaten haben den Amerikanern erlaubt, so selbstverliebtem Verhalten wie politischen Skandalen, Debatten um Identitäten oder dem Parteienstreit zu frönen, wobei um so heftiger gestritten wurde, je nichtiger die Anlässe waren. Viele Amerikaner verloren das Interesse an der Politik und dem, was außerhalb Amerikas geschieht; andere äußerten immer heftigere Verachtung für den Staat.

      Das zeigte sich nirgendwo so deutlich wie im High-tech-Bereich und in der Finanzwelt, in denen sich während der neunziger Jahre eine techno-libertäre Auffassung breitmachte, wonach der Staat nichts Sinnvolles leiste und den eigentlichen "Wertschöpfern" nur im Wege stehe. Im Nationalstaat sah man dort nur ein Relikt der Vergangenheit; Technologie und Kapital seien ihrem Wesen nach grenzenlos und könnten sich einschränkenden Gesetzen einzelner Staaten ohne weiteres entziehen. Die Apostel der "New Economy" erklärten alles, was vor dem Internet erfunden wurde, und alle anderen Fähigkeiten als ihre eigenen für unbedeutend. Ich war schockiert, als ein befreundeter Portfolio-Manager mir vor einiger Zeit erklärte, er überlege, seine amerikanische Staatsbürgerschaft abzulegen und auf die Bahamas zu ziehen, damit er hier keine Steuern mehr zahlen müsse.

      In dieser Hinsicht waren die Angriffe auf das Zentrum New Yorks eine heilsame Lektion. Die Schwerelosigkeit der neuen Ökonomie bietet keinen Schutz vor herabstürzendem Beton; als einzige Hoffnung bleibt in solch einer Krise nur der Heldenmut der Feuerwehrleute und Polizisten. Microsoft oder Goldman Sachs werden keine Flugzeugträger und F-16-Kampfflugzeuge in den Persischen Golf schicken, die Usama Bin Ladin aufspüren sollen. In den neunziger Jahren hat sich die soziale und wirtschaftliche Kluft zwischen den in Harvard und Stanford ausgebildeten Investmentbankern, Juristen und Software-Ingenieuren, die in den beiden Türmen des World Trade Center arbeiteten, und den eher zur Arbeiterschaft zählenden Menschen vertieft, die sich jetzt um ihre Rettung bemühten. Gemeinsam zum Opfer geworden zu sein erinnert die Amerikaner vehement daran, daß sie letztlich ein und derselben Gemeinschaft angehören und aufeinander angewiesen sind.

      Der Angriff auf das World Trade Center wird auch auf das Verhältnis Amerikas zur übrigen Welt heilsame Auswirkungen haben. Im vergangenen Jahrzehnt haben beide Parteien mit dem Isolationismus geliebäugelt: die Republikaner in Gestalt der Ablehnung eines weltweiten Engagements, die Demokraten in Form einer Neigung zu ökonomischem Protektionismus und Ablehnung von Verteidigungsausgaben. Für die absehbare Zukunft sind solche isolationistischen Vorstellungen jetzt vom Tisch. Vor dem 11. September wurde heftig darüber gestritten, ob der Verteidigungshaushalt um läppische achtzehn Milliarden Dollar erhöht werden sollte; heute werden weitaus größere Summen bewilligt, ohne daß überhaupt ein Haushaltsplan vorläge. Auch die Prioritäten werden sich verändern: Das Raketenabwehrsystem wird weiterverfolgt werden, aber gegenüber dem Ausbau der Geheimdienste, der Fähigkeit zu Auslandseinsätzen und Vorkehrungen zur Abwehr von sogenannten "asymmetrischen" Bedrohungen wird dieses Ziel wohl an Bedeutung verlieren.

      Die Symmetrie des Krieges

      Die größere Veränderung wird aber psychologischer Natur sein. Seit Pearl Harbor hat es kein Feind geschafft, Amerikaner auf amerikanischem Boden zu töten, und Hawaii ist weit weg; Washington D.C. war unantastbar, seit die Briten im Krieg von 1812 das Weiße Haus niederbrannten. Daraus erwuchs für die amerikanische Außenpolitik eine Art Ausnahmestellung; das Territorium der Vereinigten Staaten war immer sicher. Man dachte in der Regel darüber nach, im Ausland einzugreifen, mußte aber nie damit rechnen, daß fremde Staaten in den Vereinigten Staaten intervenierten. Die Folgen amerikanischer Interventionen gingen entweder zu Lasten der Verbündeten oder aber amerikanischer Interessen im Ausland; unmittelbaren Einfluß auf die Bürger hatten sie nicht. Der Golfkrieg und die Intervention im Kosovo waren in dieser Hinsicht völlig antiseptisch und ließen die unrealistische Erwartung aufkommen, man könnte das Geschehen bestimmen, ohne das Leben von Amerikanern aufs Spiel zu setzen. Das hat sich nun geändert.

      Was heute "asymmetrische" Kriegsführung genannt wird, ist tatsächlich symmetrisch geworden, als die Feinde Amerikas zum erstenmal die Fähigkeit entwickelt haben, auf amerikanische Aktionen mit einem unmittelbaren Angriff auf die Vereinigten Staaten zu reagieren. Das heißt natürlich, daß der Isolationismus keine Option mehr darstellt. Dadurch ergibt sich aber auch ein Abschreckungseffekt, denn die Vereinigten Staaten müssen nun erstmals auch die direkten Kosten ihrer Handlungen berücksichtigen. Das wird die Vereinigten Staaten letztlich nicht am Handeln hindern, aber es wird sie in ihrem Umgang mit der übrigen Welt zu einem gewissen Realismus zwingen.

      Europa fürchtet natürlich, Amerika könne in seinem wiedererwachten Kampfesmut auf eigene Faust und in grobschlächtiger, kontraproduktiver Manier zurückschlagen. Es wird tatsächlich ein erhebliches Problem zwischen Amerika und Europa geben, wenn die Europäer den Zorn der Amerikaner unterschätzen oder der Bedrohung nur ein beschränktes Ausmaß zuschreiben. Die Erklärung der Nato zur Unterstützung der Vereinigten Staaten ist ein hoffnungsvolles Zeichen, aber es muß sich erst noch zeigen, welche konkreten Formen diese Unterstützung in den nächsten Monaten annehmen wird.

      Wenn es in der Einschätzung des Problems zu einer transatlantischen Übereinstimmung kommt, wird daraus ein neues und womöglich positives internationales Engagement Amerikas entstehen - oder, genauer gesagt, wiedererwachsen. Ein Krieg gegen den Terrorismus bedeutet, daß man den Gegner militärisch besiegen muß, und dazu bedarf es möglicherweise ähnlicher Präventivschläge, wie wir sie von den Israelis kennen, und des Angriffs auf Staaten, die unsere Feinde unterstützen.

      Trotz all ihrer Macht können die Vereinigten Staaten dies nicht allein leisten. Falls Usama Bin Ladin in Afghanistan das Ziel sein sollte, benötigen sie für die erforderliche Operationsbasis mindestens die Hilfe Rußlands, Pakistans und vielleicht auch Chinas. Sie benötigen die politische Kooperation der gemäßigten arabischen Staaten auf der Ebene der Geheimdienste und militärische Unterstützung seitens der europäischen Verbündeten. Die Vereinigten Staaten müssen also eine Koalition schmieden und durch entsprechende Gegenleistungen dafür sorgen, daß diese Koalition auch funktioniert.

      Die Vereinigten Staaten werden aus den Angriffen wahrscheinlich als ein anderes Land hervorgehen: stärker geeint und weniger mit sich selbst beschäftigt, ein Land, das stärker auf die Hilfe von Freunden angewiesen ist, um das jetzt entstehende neue nationale Projekt zu verwirklichen: den Sieg über den Terrorismus. Und vielleicht wird Amerika dabei auch ein normaleres Land in dem Sinne werden, daß es sowohl konkrete Interessen als auch wirklich wunde Punkte besitzt, anstatt der Illusion zu erliegen, Amerika könne einseitig den Lauf der Welt bestimmen, in der es lebt.

      Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff.

      Francis Fukuyama erlangte 1991 mit dem Buch "Das Ende der Geschichte" weltweite Popularität. Derzeit lehrt er Internationale Politische Ökonomie an der Paul H. Nitze School of Advanced International Studies der John-Hopkins-Universität in Baltimore. Auf deutsch erschien von ihm zuletzt "Der große Aufbruch. Wie unsere Gesellschaft eine neue Ordnung erfindet
      Avatar
      schrieb am 22.09.01 14:01:36
      Beitrag Nr. 99 ()
      Wenn Hollywood die Drehbücher der kollektiven Psyche schreibt, kündigte sich in den 90ern schon einiges an.
      Die Bilderfolge von CNN heute ist schon vorgegeben. Die letzte Szenen aus "Das Schweigen der Lämmer" zeigen die Bedrohnung, durch einen technologisch überlegenen Gegner. Ddie Bedrohung im Film bleibt unerklärt, als das "geniale" Böse, das eben existiert. Besiegt wird sie mit Mut, Überlebenswillen, dem Einsatz, der freilig nur der Selbstverteidigung dient, und der Auflösung der Sequenz mit dem Verweis auf die Nation:


      Avatar
      schrieb am 23.09.01 09:42:25
      Beitrag Nr. 100 ()
      @Boardmail
      sorry, klar es heisst natürlich `Schuster`.

      `infinite justice`:
      das dürfte wohl die allererste panne bei diesem krieg sein.

      @linea
      ...nimm ihn aber bloss nicht zu ernst ;)

      @Heizkessel
      interessante feststellung ! woher ist das ? bei den ersten vorstellungen von INDEPENDENCE DAY klatschten damals viele amerikanische zuschauer bei der szene beifall in der das weisse haus zerstört wird - das ist die andere seite der `kollektiven psyche`.

      zu "der heilsame Schock"
      ich will gar nicht auf alle punkte eingehen die mir an fukuyamas kommentar sauer aufgestossen sind, nur soviel:

      Der heilsame Schock des 11. September / Von Francis Fukuyama

      "Ich glaube auch nicht, daß die Angriffe zu nennenswerten Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten führen werden, etwa zu häufigen Polizeikontrollen oder zur Einführung präventiver polizeilicher Maßnahmen.[...]"


      das wundert mich natürlich nicht das ein hohepriester der globalisierung keine gefahren für bürgerliche rechte sieht.
      leider sieht die realität anders aus:

      "Der Vorschlag ähnle [...] sehr dem britischen "Terrorism Act", der so weit gefasst sei, dass er sogar legitimen Protest gefährde. Der Vorschlag der Europäischen Kommission sei "entweder schlecht entworfen", oder es gäbe einen "bewussten Versuch, das Terrorismus-Konzept zu erweitern, um auch Proteste wie in Genua und Göteborg abzudecken". Dann unterminiere er jedoch genau die Freiheiten und Demokratien, die die Gesetzgeber angeblich schützen wollen."
      (Bürgerrechtler kritisieren neues Anti-Terrorismus-Konzept)
      http://heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/9628/1.html


      "[...] Flugreisen werden natürlich für alle sehr viel unbequemer werden, aber die offene Gesellschaft ist in Amerika so stark verwurzelt, daß selbst ein Ereignis dieser Größenordnung daran nichts ändern wird."

      nun, das fukuyama bürgerliche freiheiten an wartezeiten für businessclass flüge misst sagt doch einiges über seine kompetenz zu diesem thema aus.

      ...so, und jetzt wird gefrühstückt.
      Avatar
      schrieb am 23.09.01 19:59:46
      Beitrag Nr. 101 ()
      tomoffel,
      ich werde versuchen, Baudrillards Theorien! mit einem gesunden Skeptizismus zu begegnen. Muss aber gestehen, seine Wortwahl und Ausdruckskraft - seine "blumige Sprache", wie sie in deinen Zitaten zutage kommt, beeindruckt mich doch sehr.... hat ja schon etwas richtig Poetisches ;)

      Grüße
      Linea
      Avatar
      schrieb am 24.09.01 00:52:43
      Beitrag Nr. 102 ()
      Tomoffel,
      ich will ja nicht angeben, aber das ist auf meinem Mist gewachsen.:D
      Und zu Fukuyama. Wollte damit nur zeigen, daß das mit dem "Ende der Geschichte" auch nicht so hingehauen hat.
      So schnell können auch die intellektuellen Moden wechseln.

      Gruß
      H.
      Avatar
      schrieb am 24.09.01 03:04:21
      Beitrag Nr. 103 ()
      Heizkessel,

      du schreibst: "... was wenn wir keine Wahl hätten, uns das auszusuchen?"

      Was einem lieber ist, in dem angesprochenen Fall Philosophen oder Kriegshelden - das ist doch (wie anderes auch) eine persönliche Entscheidung, quasi eine "Denk-Freiheit", die jeder für sich beanspruchen kann, und die einem niemand nehmen kann - egal wie die jeweiligen politischen Verhältnisse aussehen. Schlecht ist natürlich, wenn die eigene Präferenz sich nicht mit der äußeren Situation deckt. Ob wir dann aber vollkommen "wahl-los" den Gegebenheiten ausgeliefert sind, also mit diesem Gedanken kann ich mich nicht so richtig anfreunden.
      Avatar
      schrieb am 25.09.01 18:33:53
      !
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      Avatar
      schrieb am 25.09.01 19:52:31
      Beitrag Nr. 105 ()
      @neverforever
      alle Achtung, erstes Posting, und dann gleich so ein verquaster Verschwörungsblödsinn.
      Man könnte meinen, die Therapiestationen machen keine Wandertage mehr, stattdessen melden sich die Wahnkolonnen bei WO an. Man soll ja immer alles rauslassen, aber ob es auch hilft?

      H.
      Avatar
      schrieb am 28.09.01 16:48:00
      Beitrag Nr. 106 ()
      Feuilleton 40/2001
      Piraten der neuen Welt
      --------------------------------------------------------------------------------
      Baudrillard, Enzensberger, Guéhenno, Rancière: Einige Theorien über den Ursprung von Gewalt und Terror in der Moderne
      von Thomas Assheuer
      Die Besucher, die am vergangenen Samstag in die Frankfurter Paulskirche gekommen waren, um der Verleihung des Adorno-Preises an den französischen Philosophen Jacques Derrida beizuwohnen, fanden auf ihren Plätzen neben dem ursprünglichen Redemanuskript einen aktualisierten Nachtrag vor, der es in sich hatte. In einer skrupulösen Wendung ging Derrida auf die New Yorker Anschläge ein: "Mein unbedingtes Mitgefühl, das den Opfern des 11. September gilt, hindert mich nicht, es auszusprechen: Ich glaube angesichts dieses Verbrechens an die politische Unschuld von niemandem." Keiner könne sich von "eigenen Fehlern, dem eigenen Unrecht, den Irrtümern der eigenen Politik freisprechen, und sei es auch in dem Augenblick, da man den furchtbarsten Preis für sie zahlt".
      Welche Beziehung besteht für Derrida zwischen dem "Preis", den Amerika "zahlt", und den politischen "Irrtümern"? Welcher Zusammenhang existiert für ihn zwischen "Unrecht" und Terror? Oder um eine altwürdige Formulierung Derridas abzuwandeln: Ist die neue Weltordnung ein Sieg über die Gewalt und zugleich eine Ordnung, die diese Gewalt erst aus sich hervortreibt?
      Derridas Frage nach dem Verhältnis von Globalisierung und Gewalt trifft mitten in eine Kontroverse, die unter Intellektuellen entbrannt ist, an Schärfe zunimmt und deren Linien quer durch alle Diskursmilieus verlaufen. Was einmal der Streit um die "Dialektik der Aufklärung" war, entwickelt sich, wie in den Jahren des Balkankrieges, zu einem Streit um die Dialektik der Modernisierung und ihrer Gestehungskosten. Sie kreist um die Frage, warum die Weltgesellschaft nach 1989, als das Imperium der Unfreiheit wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrach, der Kantschen Friedensutopie nicht einen großen Schritt näher gekommen ist. Nicht nur der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hatte damals den Anbruch eines neuen Weltzeitalters gefeiert und zwischen Kapstadt und Wladiwostok eine neue Ära des Friedens und des Wohlstands verkündet. Unter der Sonne der Freiheit und unter den Klängen des Pop sollte der Wellenschlag der historischen Zeit zur Ruhe kommen und die leidvolle Moderne zum Abschluss bringen. Die Menschheit, so Fukuyama, hat die Tragödien hinter sich. Auf dem Spielplan der Weltbühne stehen fortan die Kömodien.
      Coca-Cola und "heiliger Krieg"
      In Fukuyamas Buch The End of History war es der Weltgeist persönlich, der das amerikanisch-europäische Gesellschaftsmodell zum Treuhänder der Freiheit bestimmt hatte. In dieser optimistischen Sichtweise waren Ausbrüche von Gewalt und Hass irrationalistische Spätformen, die aus der Zeit der alten Vormoderne in die liberale Zukunft herüberragen - Geburtswehen auf dem dornigen Weg in die Freiheit, schmerzhafte Übergangserscheinungen, die immer dann auftreten, wenn das Alte zu Staub zerfällt und das Neue noch keine Gestalt besitzt. Am Ende aber, so wurden die liberalen Propheten der Neuen Weltordnung nicht müde zu beteuern, falle die Modernisierung der Welt mit ihrer Zivilisierung zusammen: mit Markt, Freiheit und Demokratie.
      Es waren der Krieg auf dem Balkan und der Völkermord in Ruanda, die alle Hoffnung auf einen welthistorischen Neuanfang verdunkelt haben. Gewalt erweist sich als ein resistentes Phänomen, und sie scheint sogar noch zuzunehmen, obwohl doch, in den Worten Fukuyamas, die Neue Weltordnung allen rückständigen Gesellschaften die Früchte der Freiheit in Aussicht gestellt hatte. Schlimmer noch, die Gewalt schlägt auf "den Westen" zurück. "Die rechtsgerichteten Milizen in den Vereinigten Staaten", schreibt Mary Kaldor in ihrem Buch über Neue und alte Kriege (Suhrkamp Verlag), "unterscheiden sich nicht grundlegend von den paramilitärischen Gruppen in Osteuropa oder Afrika." Überall auf der Welt sei die Lage durch eine gewalttätige Mischung aus "Integration und Fragmentierung" gezeichnet. Wenn es so ist: Sollte sich Fukuyama - und mit ihm viele andere - über die Ursachen der Gewalt getäuscht haben? Ist Gewalt tatsächlich nur eine Übergangserscheinung in verspäteten Gesellschaften, nur ein Anpassungsphänomen, das mit der Durchsetzung von Freiheit und Markt von selbst verschwindet? Was ist, wenn es sich genau umgekehrt verhielte: Wenn Gewalt eine Folge der Modernisierung ist und mit der weltweiten Durchsetzung westlicher Lebensformen in einem abgründigen Zusammenhang steht? Gibt es, mit einem Schlagwort des amerikanischen Politologen Benjamin Barber, eine Kausalität zwischen Dschihad und McWorld, Coca-Cola und "heiligem Krieg"?
      Um einem Missverständnis vorzubeugen und die Falle des Antiamerikanismus nicht sofort zuschnappen zu lassen: Die Soziologen und Philosophen, die nach den Ursachen der globalen Gewalt fahnden, betreiben keine Einfühlung in den Terror. Sie rechtfertigen nichts und entmoralisieren auch nicht die wahllose Auslöschung unschuldiger Menschen. Sie bezweifeln aber, ob sich die neuen Gewaltphänomene immer noch nach einem eingespielten Muster deuten lassen - als Kampf zwischen Freiheit und Barbarei, als Zusammenprall räumlich isolierter Kulturen, die nach dem Ende der zweigeteilten Welt unvermittelt aufeinander stoßen. Dieses Konfliktmodell, so lautet die radikale Gegenthese, taugt nicht mehr, weil es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs keine getrennten geografischen Räume mehr gibt, nur noch den einen entgrenzten Raum der Weltgesellschaft. Dieser eine Raum ist ein Raum ohne "Drüben", und in ihm herrscht nach der geräuschlosen Implosion des Ostblocks nur noch ein Geist, eine sozioökonomische Logik und ein Gesetz: das Gesetz der funktionalen Ausdifferenzierung. Folglich kommen Gewalt und Terror nicht von "außen" auf die Zivilisation zu, sondern sind Effekte, die diese im entgrenzten Raum der durchgesetzten Weltgesellschaft produziert.
      Diese steile Erklärung steht und fällt natürlich mit dem Begriff des Raumes. Für den Politologen Jean-Marie Guéhenno, der heute im Planungsstab der Nato arbeitet, ist der Raumbegriff der Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart. In seiner einflussreichen Studie Das Ende der Demokratie (Artemis und Winkler Verlag) beschreibt Guéhenno das Jahr 1989 als eine Raumrevolution, in deren Folge die territoriale Verankerung aller Institutionen zerbröckelt. Mit der "Krise des räumlich bestimmten Machtbegriffs" werden alte Formen von Politik flüssig oder verflüchtigen sich in den einen Raum der Weltgesellschaft. "Es gilt, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass wir heute am Ende des instituionellen Zeitalters der Macht angekommen sind." Konnten in der zweigeteilten Welt Konflikte noch in ein ideologisches Deutungsschema übertragen und "verstaatlicht" werden, so nomadisiert die Gewalt nun durch den entgrenzten Raum. Am Ende wandert Guéhennos weit ausholender Blick über die freie Wildbahn der Weltgesellschaft und erkennt nur noch die zyklische Wiederkehr von Aufstieg und Verfall, Ordnung und Auflösung, dazwischen ohnmächtige Subjekte, die zur demütigen Annahme ihres Schicksal erpresst werden wie zu Zeiten der Alten Reiche.
      Auch Hans Magnus Enzensberger hat den Optimisten der Neuen Weltordnung schon früh den Wind aus den Segeln genommen, und auch er deutet das Ende der zweigeteilten Welt als das logische Hauptereignis der jüngsten Geschichte. In seinem 1993 erschienenen Buch Aussichten auf den Bürgerkrieg (Suhrkamp Verlag) stellt Enzensberger Fukuyamas Rede vom End of History gleichsam auf den Kopf. Statt an den Gestaden einer nachtragischen Geschichte anzulegen, kehrt die Moderne in der Stunde ihrer wahren Empfindung in den Naturzustand zurück, angeführt von "marodierenden Banden" und schwer bewaffneten Rambos, die zwischen Zerstörung und Selbstzerstörung gar nicht mehr unterscheiden wollen. Und wieder ist es die westliche Dynamik, die den Sturm auslöst, alle Institutionen in ihren Strudel zieht und die Atavismen einer vorgeschichtlichen Gewalt nur noch potenziert. Der Rest von Enzensbergers weltgeschichtlicher Betrachtung erschöpfte sich in einer unbelehrten Polemik gegen den Universalismus der Menschenrechte und die Moralisierung von Politik. Eine Weltordnung, die Rechtsverletzungen, wo auch immer diese geschehen, verfolgen wolle, sei eine gefährliche, hypermoralische Illusion. Wer eine Politik der Menschenrechte betreibt oder diese fordert, so durfte man Enzensberger damals verstehen, erzeugt genau jene Gewalt, die zu verhindern er vorgibt.
      Dass Gewalt und Terror unmittelbar aus der Raumrevolution des Jahres 1989 hervorgehen, ist auch die These des französischen Soziologen Jean Baudrillard. Mit dem Untergang des sowjetischen Imperiums verschiebt sich der Meridian der Moderne noch einmal nach Osten, ein letztes Mal. Mit dem Sieg des amerikanisch-europäischen Komplexes umspannt das okzidentale Netz aus Kapitalismus und Freiheit den ganzen Erdball, und nun werden die letzten weißen Flecken auf "das westlich Universelle" umgestellt, auf die godterms Geld und Recht, Wissen und Information.
      Baudrillards Befund ist alles andere als originell. Suggestiv aber - und das macht ihn für linke wie rechte Globalisierungskritiker so anziehend - ist seine Behauptung, die westlich-kapitalistische Raumrevolution sei nicht nur eine sozioökonomische, sondern zugleich eine symbolische Modernisierung: ein Umsturz der Weltbilder, eine terroristische Vereinheitlichung vorgefundener Sprachen und Wahrnehmungsformen. Was früher die Karavellen des Kolumbus waren, die unter der Flagge des christlich-rationalistischen Weltbilds segelten, das sei heute, unter dem Banner der Menschenrechte, der euro-amerikanische Supertanker, im Schlepptau Nato und Hollywood. Wie Piraten - und das würden Peter Handke und Paul Virilio, Friedrich Kittler und Klaus Theweleit kaum anders sagen - fallen sie in das "Andere" ein und plündern den Schatz der alten Imaginationen und alten Weltbilder, gewissermaßen als Zurüstung für die eigene Unsterblichkeit.
      Gleichgültigkeit des Westens
      Für Baudrillard, der hier auf Tuchfühlung zu Carl Schmitt rückt, ist die Moderne per se eine Land nehmende Macht. Sie ist zugleich Landnahme und Land-Name, also eine Macht der Benennung, die die alten "Namen" und Traditionen auslöscht und umcodiert. Aber erst mit der Raumrevolution von 1989 brechen die Dämme. Das Esperanto des Westens, der amerikanisch-europäische Newspeak mit seinen gewaltförmigen Bilderströmen, flutet die letzten Trockenflecken der Welt und ritzt seine Zeichen in unschuldige Körper. Mit Ausbrüchen von Hass antworten die kulturell kolonisierten "Völker" auf die unendliche "Gleichgültigkeit" der westlichen Kultur, auf ihre sexualisierte Leere, ihre überanstrengte Künstlichkeit und eine Freiheit, die sich in zynischer Selbstbehauptung erschöpft. Der Feind ist die eigene Frage in Gestalt. Der Hass, der den modernen Kolonialherren entgegenschlägt, mutiert in einen tödlichen "Virus" im "Körper" der gefräßigen, unentrinnbaren, eben: universellen Moderne. "Wenn ein System seine Universalität erreicht (die Medien, die Netzwerke, die Finanzmärkte, die Menschenrechte)", dann sondert es alle "Arten von Virulenzen ab: Kräche, Aids, Computerviren, Deregulation, Desinformation. Der Hass selbst ist auch so ein Virus." Die moderne Schließung, die Vereinheitlichung der Welt im Namen der westlichen Zeichen, "nährt bei allen Völkern außer denen des Okzidents jene irrationale, tief verwurzelte Ablehnung dessen, was wir darstellen und sind. Wir könnten sie mit aller Barmherzigkeit überhäufen, deren wir fähig sind, es gibt bei ihnen eine Art von Alterität, die nicht verstanden werden will, eine Art Unvereinbarkeit, an der nicht zu rütteln ist. Aus der Tiefe dringt eine Leidenschaft der Vergeltung und beginnt in unseren Gesellschaften umzugehen." Vor allem der Islam, schreibt Baudrillard in Transparenz des Bösen (Merve Verlag), erzeuge eine "Leere rund um das westliche System", und dann "schlägt er von Zeit zu Zeit Breschen in das System, durch welche all unsere Werte im Leeren verpuffen".
      Auch der Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj ×izek ist davon überzeugt, dass es in der vollendeten Weltgesellschaft keine von außen kommende und "fremde" Gewalt mehr gibt, sondern nur eine interne und selbst erzeugte (ZEIT Nr. 39/01). Niemand könne den fundamentalistischen Terror erklären, ohne einen Blick auf das entgrenzte Eigene zu lenken, auf die "ökonomisch-kulturelle Kolonisation", die vom globalisierten Westen ausgeht. Sogar Afghanistan ist für ×izek ein Teil dieser Moderne. "Weit davon entfernt, ein traditionelles islamistisches Regime zu sein, sind die Gesetze der Taliban durch den Prozess der Modernisierung vermittelt, sie sind geradezu ein Effekt der Modernisierung." Im Krieg gegen die Sowjetunion seien "moderne" Verhältnisse durchgesetzt worden; von der Unterstützung durch die Vereinigten Staaten ganz zu schweigen. So ist für ×izek die monströse Diktatur Afghanistans "lediglich die radikalisierte und brutalisierte Version des aus Singapur und anderen Tigerstaaten bekannten Modells: Kapitalismus mit asiatischen Werten." Längst hat sich der Kreislauf des Westens geschlossen. Nirgendwo, schreibt ×izek in seinem Buch Die Tücke des Subjekts (Suhrkamp Verlag), findet die kapitalistische Moderne noch einen "substanziellen Inhalt" jenseits ihrer selbst, von der sie "sich nähren könnte". Ein unbesiegbares Bündnis aus kapitalistischer Ökonomie, liberalem "Konsenszwang" und "multikulturalistischer Toleranz" tritt die Herrschaft an.
      Doch warum wird in vielen Gewalttheorien ausgerechnet das liberale Konsensmodell verdächtigt, eine blinde Gegengewalt zu erzeugen? In enger Nachbarschaft zu extrem rechten Positionen hatte auch Baudrillard behauptet, das liberale Konsensdenken provoziere einen Exzess globaler Gewalt. Gerade weil der Westen ein "Weißwaschen der Gewalt" betreibe, träume die Gegenreaktion von nichts anderem, als eine "heftige Feindschaft wachzurufen, die unsere Welt, in der alle Konflikte unmittelbar eingedämmt werden, nicht mehr zu bieten hat ... Wir haben nur sehr wenig satanische, ironische, polemische, antagonistische Energie, wir sind fanatisch sanfte oder sanft fanatische Gesellschaften."
      Selbst bei dem französischen Politikwissenschaftler Jacques Rancière findet sich die Kritik am latent gewaltsamen Konsens - doch ganz anders. Auch er vermutet einen "inneren Zusammenhang" zwischen der "konsensuellen Definition der Politik und den neuen Formen der Gewalt" (in M. Dabag u. a.: Gewalt; Fink Verlag). Doch anders als Baudrillard und Enzensberger ist Rancière von gegenaufklärerischen Affekten frei, und wie ×izek ist er niemand, der den Universalismus der Menschenrechte verschrotten und zur bewaffneten "Realpolitik" zurückkehren möchte, um die Weltgesellschaft dem Spiel der freien Kräfte zu überlassen, dem vermeintlich ewigen Gegensatz von Freund und Feind. Vielmehr ist für Rancière Gewalt der symptomatische Punkt, an dem sich der Irrtum des westlichen Projekts zeigt. Dieser Irrtum besteht für ihn darin, dass der wahre Dissens, der "Streithandel", unterdrückt wird, vor allem das Nichteinverständnis mit westlichen Ökonomien und einem verordneten Konsens. Zwar predige der "offizielle Diskurs" des Westens ständig den "Triumph der konsensuellen Vernunft", aber wesentliche, vor allem ökonomische Entscheidungen seien dem Streit entzogen. "Da, wo die Formen des politischen Umgangs mit dem Streithandel verschwinden, erwachen unversöhnliche Figuren von Identität und Alterität."
      An die Stelle des "Streithandels" tritt der Verweis auf das "Funktionieren der Sache". Die Funktion, der reine Ablauf, ersetzt in der Konsensgesellschaft den Rechtsgrund politischer Legitimität. Deshalb erschöpfe sich westliche Politik, und da klingt Rancière wie ×izek, bloß in der Kunst des Möglichen, das heißt in der einfältigen Beschwörung des Realitätsprinzips, in der Wut auf das Un-Mögliche und Un-Denkbare. Unablässig verkünde die globale Moderne das Ende der Geschichte, das Ende der Utopie und "all dessen, was inexistent ist". Die "Verwaltung der Sachen wird nur am Möglichen ausgeübt. Das, was nicht möglich ist, hat kein Recht auf Existenz." Wer gegen die latente Gewaltsamkeit des bloß Möglichen, den politischen Dissens protestiert, wird aus dem Konsensdiskurs ausgeschlossen.
      Die Schwäche der Theorie
      So unterschiedlich diese Theorien über die Ursachen einer neuen Form molekularer Gewalt auch sind, eine Schwäche ist ihnen gemeinsam: Sie operieren mit Begründungsketten, deren Kausalverhältnisse sie voraussetzen. Sie schließen von bestimmten sozialen Bedingungen auf Empfindungen, von Empfindungen auf Motive, von Motiven auf Gründe - und von Gründen auf Handlungen. Im geschlossenen System aus struktureller Gewaltsamkeit und terroristischer Handlung erscheint bei Baudrillard der Hass als Antwort auf den weltweiten Export von "Gleichgültigkeit"; Enzensberger sieht in der Selbstauslöschung der Terroristen die Wiederkehr des mythischen Menschenopfers; ×izek und Rancière wiederum verstehen Gewalt als Rückkehr des ausgeschlossenen Realen. In diesen Herleitungen, erst recht in großflächigen anthropologischen Erzählungen wie Wolfgang Sofskys Traktat über die Gewalt (S. Fischer Verlag), steckt aber eine mythische Referenz. Die Erklärungen zehren von Tautologien, mit deren Hilfe der Terror entweder aus struktureller Gewalt erklärt oder aus anthropologischen Prämissen abgeleitet wird: Der Ursprung der Gewalt kommt aus dem Ursprung und moderne Gewalt aus der Moderne.
      Vielleicht ist es sinnvoll, die Laufrichtung zu ändern und die finalen Gewalttheorien anders zu verstehen, als sie verstanden werden möchten: nicht als kausale Erklärungen, sondern als kontrastbildenden Schatten, vor dem die Zerbrechlichkeit der Zivilisation und das Unbehagen an ihren Lebensformen erst sichtbar wird. Zum einen das Unbehagen an den heimischen Multioptionsgesellschaften, die ihre zwischenmenschlichen Verhältnisse auf negative Freiheit einschrumpfen und dabei des festen Glaubens sind, mit dem "postmodernen Subjekt" (×izek) den Rest der Welt beglücken zu können. Zum anderen der Zweifel an den Litaneien der Deregulierung und der Zurichtung aller Lebensverhältnisse durch die "Religion des Kapitals" (Derrida). Heute ist fast die gesamte Weltbevölkerung von den ehemals "westlichen" Funktionssystemen abhängig, doch nur eine Minderheit erhält zu ihnen Zugang.
      Die durchgesetzte Weltgesellschaft ist, diesmal auf globalem Niveau, mit Verwerfungen konfrontiert, die vergleichbar sind mit denen der frühen Neuzeit. Damals hatte der Nationalstaat für die Inklusionsprobleme eine Lösung gefunden und die Ausbrüche blutiger Gewalt gebändigt. Ob eine Weltordnung denkbar ist, die ähnliche Integrationsleistungen übernimmt wie der Nationalstaat, ist eine offene Frage. Gewissheit gibt es allein darüber, dass Gewalt nicht abnehmen wird, wenn man sich mit neoliberalem Fatalismus den "Funktionszwängen" ergibt, das ungesteuerte Weiterlaufen der Globalisierung predigt und die moralische Abschottung zum Prinzip macht. Zugleich zeigen Gewalttheorien, dass eine politische Bekämpfung des Unrechts die Spannung zwischen Recht und Gerechtigkeit nicht einfach aus der Welt schafft. Doch noch die düstersten Beschreibungen träumen davon, dass irgendwann ihr Gegenteil wahr sein könnte.
      Avatar
      schrieb am 09.10.01 10:31:51
      Beitrag Nr. 107 ()
      FAZ:Krieg der Kulturen? Nein, Krieg der Produktionsformen!

      Der Umriß dieses Krieges / Von Alvin und Heidi Toffler


      In allen Medien stößt man zur Zeit auf Artikel, die uns erklären wollen, wie sich der Feldzug gegen den Terrorismus auf die globale Ökonomie auswirken wird. Viel zu kurz kommt jedoch die andere Frage, welche Auswirkungen diese Ökonomie auf den Krieg der Zukunft haben wird. So brachte die Agrarrevolution, die vor zehntausend Jahren die erste Welle wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen in der Menschheitsgeschichte auslöste, auch eine spezifische Form von Krieg hervor.

      Charakteristisch für diesen "Krieg der ersten Welle" sind Angriffe nach dem Muster "Zuschlagen und Rückzug" - mit kleinen Einheiten, die Mann gegen Mann kämpfen. Bauern kämpfen in der Regel nicht für eine Nation, sondern für einen lokalen Kriegsherrn, der ihnen Sold zahlt - oft nur in Form von Lebensmitteln. Die Kampftätigkeit wird überwiegend in den Winter verlegt, wenn die Soldaten in der Landwirtschaft nicht gebraucht werden. Die Feldzüge sind kurz, die Organisation ist locker, ohne ausgeprägte Hierarchie, netzwerkartig. In den Einheiten ist der Zusammenhalt stark. Oft kämpfen Angehörige einer Familie Seite an Seite. Die Kommunikation erfolgt weitgehend direkt. Die Männer kämpfen für ihre "Ehre", um ihren Mut unter Beweis zu stellen. Der Krieg ist für sie eine persönliche Angelegenheit. Aber selbst wenn die Kampfeinheiten aus fanatischen Anhängern einer Religion oder einer Ideologie bestehen, sind sie oft bestechlich und lassen sich leicht dazu bewegen, die Seiten zu wechseln. Die Geschichte bietet viele Ausnahmen von diesem Muster, aber über einige Jahrtausende war dies in der ganzen Welt die vorherrschende Form des Krieges.

      Auf diesen "Krieg der ersten Welle" verstehen sich die Afghanen am besten. Die industrielle Revolution - die zweite große Welle des ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels in der Geschichte - brachte eine völlig neue Form von Krieg mit sich: den "Krieg der zweiten Welle". Mit dem Maschinenzeitalter kam das Maschinengewehr, und die Massenproduktion ermöglichte die Massenvernichtung. Die Wehrpflicht schuf Massenheere. Die Technik standardisierte die Bewaffnung. Mannschaften und Offiziere bekamen eine Ausbildung. Hinzu kamen bürokratische Organisation, Kontrolle von oben nach unten durch alle Offiziers- und Mannschaftsränge, immer größere Waffensysteme mit zunehmender Zerstörungskraft - Flugzeugträger, Panzergeschwader, Bomberflotten, Atomraketen, dazu eine weitverzweigte Rüstungsindustrie.

      Auf diesen "Krieg der zweiten Welle" versteht sich der Militärapparat der Vereinigten Staaten hervorragend. Aber er ist nicht darauf eingestellt, in Afghanistan Terroristen zu jagen. Nach der Niederlage in Vietnam hat das amerikanische Militär allerdings begonnen, ein neues Modell von Krieg zu entwickeln, den "Krieg der dritten Welle", der sich von den industriell geprägten Grundannahmen in bezug auf einen Krieg zwischen Massenarmeen gelöst hat, so, wie sich die Wirtschaft von der Massenfabrikation abgewendet hat. Wirtschaft und Militär stützten sich fortan vor allem auf eine breite elektronische Infrastruktur. Der "Krieg der dritten Welle" zielt weniger auf eine Besetzung von Territorien als vielmehr auf informationelle Vorherrschaft. Dazu gehört die Zerstörung der Befehls- und Kontrollsysteme, der Radar- und Überwachungseinrichtungen des Feindes. Dazu gehört auch das Erringen eines Informationsvorsprungs dergestalt, daß wir über unseren Gegner mehr wissen als dieser über uns.

      Informationelle Vorherrschaft bedeutet außerdem, daß man dem Gegner - menschlich oder technisch - Augen und Ohren raubt und ihn desinformiert.

      Im "Krieg der dritten Welle" werden neue Schwerpunkte gesetzt: "Nischen-Kriege", Sondereinsätze, automatisch gesteuerte Flugzeuge, zielgenaue Waffen, schnelle Eingreiftruppen und "tiefgestaffelte Koalitionen", die nicht nur Länder und deren Regierungen umfassen, sondern auch Unternehmen, religiöse Organisationen, Nichtregierungsorganisationen und andere offene oder verdeckte Partner. Vor allem erfordert der "Krieg der dritten Welle" eine gründliche Umstrukturierung der Geheimdienstarbeit - Verlagerung des Schwerpunkts von der massenhaften, technisch unterstützten Datensammlung hin zu einem stärkeren Einsatz von Spionen, außerdem gezielteres Sammeln von Informationen, erheblich verbesserte Auswertung dieser Informationen, bessere Kontakte zu den "Abnehmern" der geheimdienstlichen Erkenntnisse, bessere und schnellere Weitergabe an die Einsatzkräfte und eine erheblich verfeinerte Auswertung frei zugänglicher Informationen aus Internet, Presse, Fernsehen und anderen Medien.

      Die Geheimdienste müssen verstärkt Software-Systeme einsetzen, mit denen sich Terroristengruppen ins Visier nehmen lassen, indem man Datenbestände nach verborgenen Beziehungen durchforstet. Indem diese Software solche Daten mit Informationen über Bankkonten, Kreditkarten, Abonnenten- und Mitgliederlisten und anderen Quellen kombiniert und abgleicht, kann sie dazu beitragen, Gruppen oder Individuen ausfindig zu machen, die einem bestimmten terroristischen Profil entsprechen.

      Die Form des "Kriegs der dritten Welle" leistet angesichts der Herausforderungen, die von Afghanistan ausgehen, offensichtlich bessere Dienste als das Modell des "Kriegs der zweiten Welle", das den Vereinigten Staaten geholfen hat, den Kalten Krieg für sich zu entscheiden. Die Taliban kontrollieren ein Land, das noch nicht einmal die erste Welle, den Übergang vom Nomadenleben zur Landwirtschaft, ganz hinter sich hat. Die Terroristen jedoch, die von den Taliban unterstützt werden, greifen nach allem, was die übrige Welt zu bieten hat. Sie machen sich die Technologien der dritten Welle zunutze: Kreditkarten, Internet, integrierte Verkehrssysteme, Flugsimulatoren und anderes - dies alles in der Hoffnung, letztlich die islamische Welt des siebten Jahrhunderts wiederherzustellen.

      Zu der von den Vereinigten Staaten und den Vereinten Nationen organisierten weltweiten Anti-Terror-Koalition gehören Länder mit Wirtschaftssystemen auf ganz unterschiedlichem Entwicklungsniveau - erste, zweite und dritte Welle. Bei der dramatischen Konfrontation zwischen Afghanistan und Amerika haben wir es jedoch nicht mit einem Zusammenstoß der Religionen zu tun, wie ihn Samuel Huntington und auch die Mullahs von Kandahar prognostiziert haben. Es handelt sich vielmehr um den Zusammenstoß der unterschiedlichen Formen von Arbeitsorganisation und Kriegsführung, die mit der ersten und dritten Welle einhergehen. Wir erwarten heute einen "Wellenkonflikt" - den ersten klar umrissenen Krieg zwischen erster und dritter Welle in der Geschichte.

      Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser.

      In ihrem Buch "War and Anti-War" von 1993 (deutsch "Überleben im 21. Jahrhundert") haben die Autoren dargestellt, wie sich beim Auftreten eines neuen Typs von Ökonomie mit deren gesellschaftlichen und kulturellen Begleiterscheinungen auch das Wesen des Krieges verändert.
      Avatar
      schrieb am 09.10.01 13:15:25
      Beitrag Nr. 108 ()
      Danke heizkessel für diesen artikel!
      Er hilft mir etwas ein bisschen besser zu verstehen, was ich mich gestern gefragt habe.




      Wieso weiss rumsfeld so genau, dass dieser krieg viele jahre lang dauern wird?





      die derzeitig getroffene gegenpartei sieht so aus:



      und so ...









      bomben, bohnen und bisquits

      Ausser Bomben warfen die Amerikaner bei der ersten Militäraktion im Rahmen der Operation "Enduring Freedom" (Immer währende Freiheit) mehr als 37 000 Lebensmittelrationen ab. Zwei C-17-Transportflugzeuge setzten die Humanitarian Daily Rations (HDR) über dem zentralen Hochland Afghanistans ab, wo die schiitischen Hasaras in unzugänglichen Bergtälern leben. Die 850 Gramm schweren, fleischlosen Rationen enthalten je 2200 Kalorien und sind besonders für Empfänger bestimmt, deren Verdauungsapparat durch Hunger geschwächt ist.
      http://www.tages-anzeiger.ch/ta/taOnlineArtikel?ArtId=131303

      ich weiss nicht, ob folgende stelle aus toffler’s artikel in vollem masse zutrifft ....

      “Sie machen sich die Technologien der dritten Welle zunutze: Kreditkarten, Internet, integrierte Verkehrssysteme, Flugsimulatoren und anderes - dies alles in der Hoffnung, letztlich die islamische Welt des siebten Jahrhunderts wiederherzustellen. „

      .... jedenfalls ist nicht klar, ob dies die ZIELSETZUNG ist. Dass aber keine anderen mittel, als die der erwähnten dritten welle möglich sind, das leuchtet ein .... leider werden diese in destruktivem sinne eingesetzt.

      Hat mal jemand eine idee, wie hungernde sich konstruktiv wehren könnten?
      Avatar
      schrieb am 09.10.01 23:46:23
      Beitrag Nr. 109 ()
      Heizkessel,
      aus deinem geposteten Artikel von Alvin und Heidi Toffler:

      "...Aber selbst wenn die Kampfeinheiten aus fanatischen Anhängern einer Religion oder einer Ideologie bestehen, sind sie oft bestechlich und lassen sich leicht dazu bewegen, die Seiten zu wechseln...."

      Dieser Satz bestärkt mich in meiner Vermutung, dass das Abwerfen von Nahrungsmitteln in Afghanistan nicht nur humanitären Gründen zuzurechnen ist (ist nicht abwertend zu verstehen). Ich frage mich nur, ob hier nicht zusätzlich auch eine - nenne ich es mal - "psychologische Kriegsführung" anvisiert ist. Eine solche Aktion kann meiner Meinung nach schon ein gewisses Umdenken bei einem Teil der Bevölkerung bewirken, vor allem wenn die Menschen schon vorher den Taliban nicht vollkommen ergeben waren. Es muss zumindest erstmal verwirren: Ein Feind, der Nahrung spendet, passt nicht so ganz ins Bild. Damit könnte der Boden für eine zukünftige Ablösung der Taliban durch die Nordallianz frühzeitig gelegt werden.

      Grüße
      Linea
      Avatar
      schrieb am 10.10.01 11:11:46
      Beitrag Nr. 110 ()
      FAZ:
      Die Wertewaffe: Hat der Westen überhaupt noch etwas zu verteidigen?

      Internet statt Zehn Gebote: Botho Strauß unterschätzt uns


      Es gibt einen Grad intellektueller Müdigkeit, den nur die Einwohner sehr reifer und verfeinerter Gesellschaften erreichen und der zu deren vornehmsten Errungenschaften gehört. Ihr emblematisches Zeichen ist der Ekel vor den Niederungen des Weltlaufs und der Geschichte, die ja doch nur mit Blut oder Biowaffen geschrieben wird. Dieser Abscheu wiederum bedingt dann eine fast autistische Ästhetisierung aller Lebensäußerungen, die am schönsten in den melancholischen Worten des Romanciers James Joyce zum Ausdruck kam, der nach Abschluß der Niederschrift seines Alterswerks "Finnegans Wake", kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, über seine Verleger seufzte: "Wenn sie doch nur etwas schneller machten. Der Krieg steht vor der Tür, und dann wird niemand mehr mein Buch lesen wollen."

      Wie tief die Erschütterung westlicher Lebensart nach dem Desaster vom 11. September wirklich reichte, erkennt man daran, daß diese aus der ganzen Moderne wohlvertraute Stimme lebensmüden Ästhetentums nach den Attentaten mit Ausnahme der verwirrten Äußerung Karlheinz Stockhausens geschwiegen hat, der im New Yorker Massenmord "das größte Kunstwerk" erkannt und das hinterher nicht mehr gesagt haben wollte. Ironischerweise haben wir jetzt, da aus dem beispiellosen Verbrechen der soziale Ernstfall schlechthin, ein wirklicher Krieg nämlich, hervorgegangen ist, doch noch einmal von dieser Stimme gehört.

      Als ihr irdischer Avatar fungiert der Dichter Botho Strauß; zwei seiner in der aktuellen "Spiegel"-Ausgabe veröffentlichten diesbezüglichen Äußerungen verdienen es, sehr ernst genommen zu werden. Die eine ist die mißmutige Erklärung, jene von Tony Blair beschworenen "Werte der Zivilisation" seien gar keine ernstzunehmenden Konkurrenten für die Ideale der "Glaubenskrieger" Bin Ladins, da es sich gar nicht um echte Werte, vielmehr nur um "unseren Pragmatismus" handle. Die andere ist die kulturmorphologische Vision - man kann es nicht anders nennen -, in deren Namen sich die Welt diesmal offenbar so beeilen soll (oder auch will) wie 1939 Joyce` Verleger: "Ein panislamisches Reich vom Sudan bis nach China: Hätten wir es schon! Ein kalter Krieg wäre wieder möglich. Bedrohungspotentiale. Waffenruhe."

      Es ist der größte Vorzug der Dichter, daß sie auch und gerade im mürrischen Raunen wahrsprechen können. Was Botho Strauß "Pragmatismus" nennt, ist, verglichen mit dem panislamischen Reich und seinem eifernden Gott, den Bin Ladin in seinen Videobotschaften beschwört, tatsächlich eine Leerstelle. Gemeint ist das nirgendwo explizit fixierte Programm, das auf dem großen Rechner läuft, den die Gesamtheit der modernen, ökonomisch, technisch und informatisch vernetzten Sozietäten gemeinsam bildet.

      Sie speist noch unsere Albträume vom Krieg und von den Waffen, vor denen wir uns fürchten: keine Milzbrandansteckung ohne Gutachten über verfügbares Serum; keine Science-fiction-Phantasie von Partikelstrahlen und scharfschneidenden Laserklingen ohne einen Dr. Frankenstein, der etwas von seinem Recht auf Forschungsfreiheit faselt; keine Bedrohung durch Nervengas oder Nano-Disassembler ist frei von negativen und positiven Projektionen und Inversionen der Früchte dieses "Pragmatismus", ausgebrütet im Schoß des militärisch-industriell-szientistisch-politisch-informationellen Komplexes und seines treuen Schoßhunds, der technisierten Unterhaltungsindustrie.

      Das ästhetische Mißfallen, das sich von alldem mit dem Gestus "zum Teufel mit dem Plunder" abwendet, ist die Kehrseite hedonistischer Annehmlichkeiten, die von der universalen Höllenmaschine eben auch hervorgebracht werden. Beide sind nicht nur von außen durch quasifaschistische Modernisierungsverlierer oder phantasmatisch Zukurzgekommene wie den saudischen Möchtegern-Mussolini bedroht, sondern auch von innen - durch das prekäre Wissen, daß ihre Vernunft nicht in heiligen Schriften und simplen Anleitungen kodifiziert ist, sondern seine Realität einzig in den Apparaten selbst hat. Unsere Werte sind in die Apparate gerutscht.

      Internet statt Zehn Geboten, DNS statt Offenbarung, Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik statt "Lazarus, komm heraus" - das ist nicht deshalb furchtbar, weil es "total" wäre, oder gar "totalitär" (niemand im Westen wird gezwungen, an Newton oder die Evolutionstheorie zu glauben), sondern weil es im Gegenteil nicht so total ist, wie manche Menschen es gerne hätten - es macht nämlich vor der Gesellschaftsordnung halt.

      Religionen sind kontinuierliche Systeme von Aussagen, die von der Ordnung des Kosmos bis zur Verfassung des Staates fließend auseinander hervorgehen. Seit dem nicht zufällig von einem Aufklärer formulierten Humeschen Gesetz, wonach man aus einem Sein kein Sollen ableiten kann, bleibt dem Weltbürger der Wissensgesellschaft so ein kontinuierliches Welterklärungsmodell versagt. Die klügsten Köpfe der neuzeitlichen, bürgerlichen, liberalen, marktwirtschaftlichen Gesellschaften haben das immer gewußt. Von Leibnizens Theodizee, die aus Vernunftgründen ableiten will, daß wir in der besten aller möglichen Welten leben, über Hegels "Grundlinien der Philosophie des Rechts" mit ihrer berühmt-berüchtigten Ineinssetzung von "wirklich" und "vernünftig" bis zu neueren, meist aus den Vereinigten Staaten stammenden Entwürfen vernünftiger, gerechter Gesellschaften zwischen Liberalismus und Kommunitarismus hat man versucht, den Phantomschmerz zu behandeln, der sich daraus ergibt, daß unser soziales Zusammenleben nicht so wohlgeordnet ist wie das Periodensystem der Elemente. Der "mittelalterliche", "panislamische" Weltfeind, der sehr konkrete, alles andere als nebulöse sozioökonomische Nährlösungen aufgesogen hat, ist für Intellektuelle, die im Westen an diesem Phantomschmerz leiden, auch deshalb so ein schöner Wonnegrusel, weil er jenes genuin westliche schlechte Gewissen als etwas Externes, aber auch sehr Altes und daher vage Würdevolles zu erleben erlaubt.

      In welchem Verhältnis aber steht in diesem Krieg das, was wir umbringen - an Menschen und deren Ideen - zu dem, was wir und die anderen bringen - an Werten und Waffen? Vom Standpunkt christlicher amerikanischer Fernsehprediger wie Jerry Falwell und Pat Robertson, die in der Katastrophe vom 11. September Gottes Vergeltungsschlag gegen Homosexuelle, Abtreibungsärzte und Atheisten sehen wollen, mag es ja tatsächlich gleichgültig sein, ob der ungetaufte Feind ein arabischer, indischer, indianischer oder chinesischer Terrorist ist, ob das Gemetzel an rechtgläubigen Christenmenschen im Namen von Gottheiten der amerikanischen Ureinwohner wie dem Raben und dem Kojoten als Rache für den Mord an den Büffeln geschieht oder ein militanter Konfuzianer aus China das Weiße Haus ins Visier nimmt, weil dort nicht nach den Maximen des Meisters Kung regiert wird.

      Ebenso gleichgültig ist es vermutlich Bin Ladin und seinen pakistanischen, indonesischen oder palästinensischen Bewunderern, ob die korrekte Metatheorie des wissenschaftlichen Weltzeitalters nun der Instrumentalismus, der Neopositivismus, die Systemtheorie, der kritische Rationalismus oder Richard Rortys drolligerweise tatsächlich "Pragmatismus" genannter staatsbürgerlicher Toleranzglaube ist.

      Für alle Menschen aber, die sich weder in die Kunst noch in rechnererzeugte virtuelle Realitäten, noch ins islamische oder christliche Jenseits, noch ins buddhistische Nirwana davonmachen können oder wollen, alle also, die hier und jetzt leben, ist es höchste Zeit, auszusprechen und zu bekräftigen, was insgeheim alle wissen: Kein Buch, kein höheres Wesen, keine Kunst, keine Leitkultur und kein Ethikrat nehmen uns die Verantwortung aus den Händen, selbst zu entscheiden, ob wir so leben wollen, wie wir leben, oder ganz anders. Wollen wir die Erde bewohnbar erhalten, wollen wir sie verlassen, wollen wir Sonnenspiegel zur Energiegewinnung ins All schießen oder lieber Killersatelliten, wollen wir die Meere reinigen, im Asteroidengürtel Erze abbauen, Armut und Krankheit besiegen, die Angst als Mittel der Politik ächten und jedem Menschen Leben und Freiheit garantieren, oder überlassen wir das alles lieber doch dem Schicksal, jetzt, da wir "unsere" Götter offenbar vertrieben haben?

      Die fundamentalste Schwäche des "fundamentalistischen" Feindes, mit dem man es jetzt zu tun hat, ist seine Unfähigkeit, dergleichen Fragen auch nur zu stellen. Er verweist auf seinen Haß, auf seinen Gott und seine zerfallenden, nur mehr mit Gewalt und Unwissenheit zusammengehaltenen Traditionen. Worauf aber verweist sein Gegner?

      DIETMAR DATH
      Avatar
      schrieb am 10.10.01 22:56:54
      Beitrag Nr. 111 ()
      Wenn ich meine Gedanken einfach so weiterspinne...
      Da haben wir
      a) dieses Abwerfen von Lebensmitteln über ein Land - und gleichzeitig Bomben werfen (das ist voll kommen neu oder täusche ich mich?)
      b) der Vergeltungsschlag kam erst 4 Wochen später (keine Kurzschlussreaktion, wie vielleicht erwartet).

      Wir haben immer von Symbolen gesprochen, die Terroristen benutzen, ausgerechnet das WTC, dazu in der besten Sendezeit, wo auch die Europäer live dabei sein können.
      Und jetzt die Antwort. Auch irgendwie symbolhaft -Kampf gegen die Taliban, die einen Bin Laden mit all seiner furchtbaren Einstellung unterstützen. Gleichzeitig aber zeigen durch die Nahrungsmittelabwürfe , dass es nicht gegen das afghanische Volk geht. Das hat natürlich nicht nur Wirkung nach innen , sondern ganz klar auch nach außen, auch auf die anderen moslemischen Staaten.

      Ich persönlich bin sehr zwiespältig , frage mich aber auch natürlich , was ICH als Alternative zu bieten hätte.

      Und Rumsfeld interpretiere ich so, wenn er sagt, der Krieg dauert noch lange.: Nicht der Krieg gegen Afghanistan, sondern der Krieg gegen die sogenannten "Fundamentalisten" oder (wie ich es lieber bezeichne) Psychopathen, egal welcher Couleur (Hitler gehört für mich auch in diese Kategorie).

      Grüße
      Linea
      Avatar
      schrieb am 11.10.01 12:53:31
      Beitrag Nr. 112 ()
      spiegel-online

      K O M M E N T A R V O N K L A U S S T A E C K

      "Der Schwarze Peter ist bei uns"

      Ist Osama Bin Laden nicht eigentlich ein hausgemachter Teufel der westlichen Welt? Und warum dürfen wir darüber nicht reden? Wir müssen es, sonst produzieren wir ihn immer wieder neu, warnt der Heidelberger Polit-Grafiker Klaus Staeck.


      Heidelberg - Über meinem Schreibtisch hängt jetzt wieder eine Postkarte von Joseph Beuys. Sie zeigt die Zwillingstürme des World Trade Center mit seinem handschriftlichen Zusatz "Cosmos" und "Damian" - den Schutzheiligen der Ärzte und Apotheker. Sie entstand nach einer gemeinsamen USA-Reise im Januar 1971 - Höhepunkt der ersten weltweiten Energiekrise. Auch damals war viel von Schock die Rede, der aber schließlich von ebenso kurzer Dauer war wie viele Menetekel zuvor.
      Diesmal haben sich jedoch die Ereignisse tiefer in unser Bewusstsein eingegraben. Dennoch habe ich Zweifel, ob sie auch zu nachhaltigen Verhaltensänderungen führen werden und nicht schon bald wieder das ewige vertraute "Weiter so" triumphiert.

      Noch ist die anhaltende Erregung auch deshalb so groß, weil der Terror nun endgültig in unseren Vorgärten angekommen ist. Der Schrecken begleitet uns künftig hautnah. Wir können ihn nicht mehr wie bisher in entlegene Entfernungen delegieren. Doch statt umzudenken, fangen wir zunächst an, Selbstzensur zu betreiben.


      Natürlich habe ich am 11. September überlegt, ob ich mein Bush-Plakat "Visit America - Home of the Climate Killers" angesichts der schrecklichen Bilder aus New York vorerst zurückziehen müsste. Greenpeace ließ es während der letzten Weltklimakonferenz in Bonn an Litfasssäulen anschlagen. Aber ist die Aussage durch den Bombenterror falsch geworden? Davon kann keine Rede sein. Deshalb kein Rückzieher.

      Streit und Auseinandersetzung über zentrale Fragen der Gesellschaft sind elementare Bestandteile unseres Demokratieverständnisses. Man wird nicht zum Sympathisanten des Terrors, wenn man Kritikwürdiges kritisiert und im allgemeinen Kriegsgeschrei auf Meinungsfreiheit und Differenziertheit besteht. Bei uns ebenso wie in den USA und in jedem anderen Teil der Welt - erst recht in der so genannten freien Welt.

      Die Keule der Sympathisantenhetze ist aus den siebziger Jahren noch in schlechter Erinnerung. Machte sich doch jeder als Freund des Terrors verdächtig, der sich dem Mainstream bestimmter Massenmedien und Politiker verweigerte. Aber auch die offiziell proklamierte "uneingeschränkte Solidarität" mit den Vereinigten Staaten darf das Recht auf Kritik nicht aushebeln.

      Wir tun im Gegenteil gut daran, zusammen mit den Amerikanern Fragen zu stellen und auf Antworten zu bestehen. Antworten zu einer gerechten Weltwirtschaftsordnung, zu den trüben Quellen religiös motivierter Attentäter, zu den Folgen einer immer hemmungsloser agierenden neoliberalen Machtideologie. Schließlich waren es amerikanische Autoren, die als Erste nach den Ursachen von so viel Hass fragten, die den USA in weiten Teilen der Welt entgegenschlägt.

      Schon ein Blick auf die gewalttätigen Auseinandersetzungen in Nordirland macht deutlich, dass die allzu fixe Aufteilung der Welt in Regionen der Zivilisation und eine Zone der Barbarei als Markierung globaler Frontlinien nicht taugt. Sind es nicht mindestens zwei Zivilisationen, die sich in Nordirland nun schon seit Generationen feindselig gegenüberstehen?

      Wir beteiligen uns an einer internationalen Jagd auf die Hintermänner intelligent agierender Verbrecher, die allerdings in Teilen der Welt als Märtyrer verehrt werden. Das macht die Sache so kompliziert. Mag der Islam alles in allem eine friedliche Weltreligion sein, so ist nicht zu leugnen, dass er sich im 21. Jahrhundert offenbar besser als vergleichbare Religionen - die ihre blutrünstigen Phasen weitgehend hinter sich haben - auch als Plattform für das militante Wirken menschenverachtender Fanatiker mit politischem Anspruch eignet.

      Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts war die Eskalation der Gewalt auf der Achse Nord-Süd nur eine Frage der Zeit. Denn zu wenige nahmen die Prophezeiungen und Warnungen Willy Brandts ernst - nachzulesen in seinem erschreckend aktuellen Nord-Süd-Bericht. Aber alles Fernsehen, das wir haben, hat uns nie dazu gebracht, richtig in die Ferne zu sehen und geholfen, Weitblick zu entwickeln. Wir sind kurzsichtig geblieben und werden weiter kurzsichtig gemacht.

      Die überzogenen Angriffe christdemokratischer Politiker auf den Fernsehmoderator Ulrich Wickert, der sich den Luxus einer eigenen Meinung leistete, beweisen, es geht längst um die Verteidigung der bürgerlichen Freiheiten gegen den Feuereifer der Sicherheitsfundamentalisten in allen politischen Lagern. Wir leben weder im Krieg noch führen wir einen Kreuzzug gegen das so genannte Böse. Folglich gilt in Deutschland auch kein Kriegsrecht.


      Gut und Böse sind Kategorien der Ratlosigkeit, Bankrotterklärungen bei der Suche nach Erklärungen und Lösungen. Genauso wenig kann die ultimative Antwort auf den Terrorismus nur eine militärische, sondern muss eine politische, vorrangig nahostpolitische, sein. Fundamentalismus, noch dazu gepaart mit Nationalismus und religiösem Wahn, bleibt eine todbringende Krankheit, die es weltweit zu überwinden gilt. Aber zur Heilung gehört auch die Prophylaxe. Es ist höchste Zeit, an die Zeit nach Osama Bin Laden zu denken. Denn als Bösewicht vom Dienst wird er bald ausgedient haben. Und was dann? Es gibt noch viele Zauberlehrlinge aus eigenen Werkstätten, die es zu stoppen gilt. Doch damit ist der Schwarze Peter wieder bei uns.


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