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    Michel Houellebecq - Plattform - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 20.02.02 17:46:36 von
    neuester Beitrag 23.02.02 12:59:35 von
    Beiträge: 6
    ID: 554.138
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      schrieb am 20.02.02 17:46:36
      Beitrag Nr. 1 ()
      Pornographische Gesellschaftssatire, 20. Januar 2002
      Rezensentin/Rezensent: Folker Franz aus Berlin
      "Plattform" ist zur einen Hälfte ein gut geschriebener Porno und zur anderen Hälfte eine Ansammlung von zynischen Aphorismen über unsere Gesellschaft.

      Laut Michel Houellebecq sind die Menschen in der westlichen Welt zu einer erfüllten Sexualität nicht mehr in der Lage. Das Ideal der individuellen Selbstverwirklichung, der Narzissmuskult und der auszehrende Behauptungskampf in der freien Wirtschaft stehen im Weg, eine natürliche und sexuell befriedigende Beziehung mit einem anderen Menschen einzugehen.

      Im Kontrast dazu beschreibt Houellebecq die Bewohner der armen Ländern der Welt. In diese Länder - exemplarisch Thailand und Kuba - reist der Ich-erzählende Protagonist als Sex-Tourist und entwirft dabei die Theorie, dass der Sex-Tourismus die Lösung für das sexuelle Problem der einen und das materielle Problem der anderen ist, sozusagen eine beiderseitige Nutzenmaximierung:
      Auf der einen Seite die Menschen (Männer wie Frauen) des Westens, die alles haben - Geld, Erfolg, Freiheit, Sicherheit - alles außer einer erfüllten Sexualität. Und auf der anderen Seite die Menschen (Männer wie Frauen) der armen Länder, die nichts haben, außer der Fähigkeit, befriedigenden sexuellen Genuss zu bereiten.

      Um seine ätzenden Ansichten dem Leser zu vermitteln, bastelt sich Houellebecq (gewollt?) die flache Rahmenhandlung eines Hollywood-B-Movies zurecht. Der Ich-Erzähler reist nach Thailand, um dort dem Sex mit thailändischen Prostituierten zu frönen, verliebt sich aber in eine westliche Touristin, die zufällig einen hohen Posten in der französischen Tourismus-Industrie bekleidet. Zusammen mit ihr und ihrem Chef baut er dann ein Unternehmen auf, das versucht, den Sex-Tourismus nach allen Regeln der Marktwirtschaft zu rentabilisieren. Auch das schreckliche Ende des Buches ist kein Meisterwerk der Originalität, allerdings muss man es nach den Ereignissen des 11. September 2001 als visionär bezeichnen.
      Die drei Hauptpersonen sind mit Klischees durchsetzt und dienen Houellebecq nur als Medien seiner gesellschaftlichen Thesen und sexuellen Fantasien:
      Jean-Yves ist der erfolgreiche, dynamische BWLer, der ausschließlich für die Karriere lebt und dessen Privatleben und persönliches Glück dabei den Bach runter gehen.
      Valérie ist eine Frau, die sich gegen die reißende Strömung des Kapitalismus nicht wehren kann und deswegen äußerst erfolgreich mitschwimmt. Und gleichzeitig vom Autor mit einem absolut reinen, urtümlichen und umwerfenden Libido ausgestattet worden ist. Zusammen mit ihrer moralisch einwandfreien Lebenseinstellung und ihrer Intelligenz ist sie damit die Traumfrau aller Männer des Westens, die durch die Feminismus-Bewegung einen Schaden abbekommen haben.
      Der Ich-Erzähler schließlich ist die fleischgewordene Stimmung, die jeder von traurigen und langweiligen Sonntagnachmittagen im Herbst kennt - nur zehnmal schlimmer.

      "Plattform" ist ein Buch das aufwühlt, weil es moralische Grundfeste angreift, die wir alle mit unserer politisch korrekten Muttermilch aufgesogen haben. Wir wehren uns dagegen, die Prostitution armer thailändischer Mädchen NICHT als perverse Ausbeutung und Demütigung zu sehen. Und können doch die Dauer-Erektion in unseren Hosen nicht verhindern, wenn wir das Buch lesen. Es ist ein Buch, das uns mit Wahrheiten konfrontiert, wenn auch mit überspitzten und satirisch verzerrten. Natürlich betreffen diese Wahrheiten nicht uns selber, sondern nur die anderen.

      Auch in Deutschland wird "Plattform" sicherlich Stoff für viele erregte Diskussionen liefern.
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      schrieb am 20.02.02 17:54:16
      Beitrag Nr. 2 ()
      Das Buch habe ich heute bestellt. Die beiden Vorgänger Romane, "Ausweitung der Kampfzone" und "Elementarteilchen" beschreiben treffend den gierigen Zerfall der Gesellschaft.
      Nichts hat einen Wert aber alles hat seinen Preis.

      Mal sehn ob Plattform die Erwartungen erfüllt.

      Eure? und meine Meinung demnächst hier!?
      Avatar
      schrieb am 20.02.02 18:01:27
      Beitrag Nr. 3 ()
      DIE ZEIT

      Literatur 07/2002

      Der große Jammer


      --------------------------------------------------------------------------------

      Ein Meister und sein Epigone: Joris-Karl Huysmans und Michel Houellebecq. Aus Anlass des Romans "Plattform"

      von Jens Jessen

      Manche Schriftsteller ernähren sich vom Unglück, andere von der Hoffnung; Michel Houellebecq ernährt sich von der Kränkung. Provokation wäre ein viel zu technisches, von den Avantgarden des letzten Jahrhunderts verharmlostes Wort für das, was dieses Genie der Bosheit tut. Es sind Ritualmorde am gesellschaftlichen Konsens. Nachdem er den Mythos der 68er, die sexuelle und die soziale Emanzipation denunziert hat (Elementarteilchen) und den Mord als Ausweg aus der Entfremdung im Spätkapitalismus empfohlen (Ausweitung der Kampfzone), mithin das ganze linke Projekt der Moderne erfolgreich abgewickelt hat, ist er nun zum Sextourismus und zu den Muslimen fortgeschritten. Plattform, eben auf Deutsch erschienen, hat in Frankreich zu wütenden Protesten von Touristikern und muslimischen Gemeinden geführt, die einen Prozess wegen Verunglimpfung anstrengten.

      Nicht etwa, dass Houellebecq den Sextourismus für verwerflich hielte. "Diese kleinen Thai-Nutten sind ein wahrer Segen, sagte ich mir; wirklich ein Geschenk des Himmels." Es ist vielmehr gerade sein überschwängliches Lob der Fremdenverkehrsindustrie für ihre geschickte Organisation der Zuhälterei, die den Reiseveranstaltern zu schaffen macht (sie werden namentlich genannt).

      Auch der Islam verfällt vor allem wegen seiner gewalttätigen Prüderie dem Hass des Erzählers. Das Massaker, das die bösen Fundamentalisten in dem Buch veranstalten, gilt nämlich den netten Sextouristen; dabei töten sie die Freundin des Helden. "Der Islam hatte mein Leben zerstört, und der Islam war sicherlich etwas, was ich hassen konnte; in den folgenden Tagen bemühte ich mich, die Muslime zu hassen. Es gelang mir ganz gut, und ich begann wieder die Nachrichten aus aller Welt zu verfolgen. Jedesmal wenn ich erfuhr, daß ein palästinensischer Terrorist, ein palästinensisches Kind oder eine schwangere Palästinenserin im Gazastreifen erschossen worden war, durchzuckte mich ein Schauder der Begeisterung bei dem Gedanken, daß es einen Muslim weniger gab. Ja, man konnte auf diese Weise leben."

      Der Hass als Überlebensmittel

      Houellebecq ist ein Trüffelschwein für Verletzungspotenziale. Der zitierte Passus, auch wenn er literarisch als Rollenprosa eines erschütterten Helden plausibel und banal sein mag, ist doch geeignet, nicht nur die islamische Welt, sondern mehr noch das humane Selbstverständnis des Westens im Kern zu treffen. Die Empfehlung von Hass als Überlebensmittel reißt mit einem Schlag nieder, was die Friedensforschung in Jahrzehnten aufgebaut hat. Die aufsteigende Folge vom Terroristen über das Kind zur Schwangeren muss selbst jene empören, die den Terror ablehnen. Schließlich: die Hochrechnung von einem islamistischen Attentat auf den Islam als solchen. Sie zerstört die multikulturelle Übereinkunft, wonach Verbrechen individuell sind und keiner kollektiven Identität zugerechnet werden dürfen.

      Der Überkick aber besteht in dem Kontext. Die Motivation des Attentats bringt alle jene ins Schwitzen, die ihrerseits gegen den Sextourismus kämpfen. Müssen sie nun mit dem islamischen Radikalismus sympathisieren? Oder bekommen sie in den Terroristen die Fratze ihres eigenen moralischen Fanatismus vorgeführt? Die Strategie Houellebecqs zielt stets auf die Widersprüche des zeitgenössischen Weltbildes, sozusagen unter die Gürtellinie des reflektierten Bewusstseins.

      Manches spricht dafür, dass auch die französischen Muslime weniger gekränkt wurden durch seine Islam-Beschimpfung und die Blasphemien, die er noch hinzusetzt, als durch kleine Bosheiten, die für sich nicht justiziabel sind, aber in hohem Maße ehrverletzend. So grübelt der Held beispielsweise, ob er arabische Frauen anziehend findet, um dann schließlich - aber nur der Gerechtigkeit halber! - zuzugeben: "Vom Kopf her gelang es mir, eine gewisse Anziehung für die Scheide muslimischer Frauen zu empfinden."

      Die Perfidie dieser und anderer Stellen liegt nicht im Literarischen. Ästhetisch ist der Roman eher ungelenk. Das Ausgeklügelte, auch wirklich Intelligente zielt vielmehr auf eine Wirkung außerhalb des Romans. Das wahre Kunstwerk, darin einer Performance verwandt, besteht in der öffentlichen Rezeption. Die Bücher sind nur das fast achtlos gehandhabte Medium, mit dessen Hilfe der Autor als Person auftritt. Darum haben die Leser ihr Augenmerk von der ersten Veröffentlichung an geradezu hysterisch auf den Menschen Houellebecq gerichtet, der alle Wundmale vorführen kann, die auch seine Romanfiguren von der Gesellschaft empfangen haben.

      So könnte man das Spiel beschreiben. Es fragt sich allerdings, ob der Autor damit tatsächlich aus dem Roman herausgetreten ist; oder ob er nicht vielmehr umgekehrt seine Leser in den Raum der Literatur verschleppt hat. Schon die Stereotype, mit denen der Autor beschrieben und porträtiert wird, verraten nämlich ein literarisches Muster: die kettenrauchende Magerkeit, das Fahrige und Traurige, die bestürzende Ähnlichkeit Houllebecqs mit den Verlierergestalten seiner Romane.

      "Mit seinen feinen und weiblichen Händen rollte er Zigaretten, die er, zwischen seinen dünnen Fingern in der Mitte kaum eingekniffen, lebhaft anzündete; er zog den Rauch tief ein und wiegte sich, seine mageren Schenkel eng übereinandergeschlagen, in seinem Sessel, der in der Luft hängende Schuh schlug vor Ungeduld ins Leere."

      Der moderne Feind der Moderne

      Das allerdings ist keine Beschreibung Houellebecqs. Es ist Paul Valérys Beschreibung eines französischen Skandalschriftstellers hundert Jahre vor Houellebecq. Joris-Karl Huysmans war der meistzitierte und meistgefürchtete Dichter des Fin de Siècle. Wie Houellebecq artikulierte er einen Hass auf seine Gegenwart, die alles zuvor Bekannte in den Schatten stellte. Wie Houellebecq sah er den Menschen von Fortschritt zu Fortschritt jämmerlicher, ärmer und kleiner werden. Er sah das Kapital sich verzinsen, die Seele verhungern und den Warenverkehr zum Muster allen menschlichen Austauschs werden. Huysmans war, Baudelaire in seinen Ressentiments weit übertreffend, der erste moderne Feind der Moderne.

      Am Ende wurde er katholisch. Davon ist Houellebecq noch entfernt; aber nicht weit. Schon spricht er vom Glauben, der logisch den einzigen Ausweg biete. Er sei sich "der Notwendigkeit einer religiösen Dimension schmerzlich bewusst", hat er in einem Gespräch einmal gesagt. Diese Tradition der Antimoderne, in Frankreich nie völlig erloschen, von Céline und Cioran an die Gegenwart weitergereicht, ist die literarische Tradition, in die sich Houellebecq mit seinen Lesern stellt.

      Zu ihr gehören die Rituale der Jämmerlichkeit und des hochfahrenden Trotzes, der Rechtfertigung des Hasses aus dem demonstrierten Leiden. Auch Huysmans war, sozial gesehen, eine Verlierergestalt, wie Houellebecq sie vorführt. Der Mann, der den Naturalismus beerdigte, die literarische Décadence begründete und die Epochenfigur des amoralischen Ästheten erfand (À Rebours, 1884), lebte als kleiner, schlecht bezahlter Beamter des Innenministeriums in Paris. Auch er war voller Ressentiments, unermüdlich beschäftigt, seine Zeitgenossen zu kränken, "ein großer Schöpfer von Abscheu, empfänglich für das Schlimmste, dürstend nur nach dem Übermäßigen, unglaublich leichtgläubig, mit Leichtigkeit allen Scheußlichkeiten zugänglich, die man sich bei menschlichen Wesen vorstellen kann" (Valéry).

      Wie Houellebecq schuf Huysmans ein Universum literarischer Doppelgänger, die ihrer Misere im sexuellen Exzess, in Gewalt und Okkultismus zu entkommen suchen oder einfach still zugrunde gehen wollen. "Während er langsam den Weg zu seinem Heim einschlug, übersah er mit einem einzigen Blick die ganze trostlose Ödnis seines Lebens, die ganze Nutzlosigkeit all seiner Bestrebungen. Man musste sich eben stromabwärts treiben lassen! Schopenhauer hat Recht: das Leben eines Menschen schwankt wie ein Perpendikel zwischen Schmerz und Langeweile. Da bleibt einem nichts anderes übrig, als die Arme zu verschränken und zu versuchen einzuschlafen."

      Schopenhauer! Auch dies ein Gott für Huysmans wie für Houllebecq. Mit dem Zitat verabschiedet sich der kleine Ministerialbeamte Folantin aus Huysmans` Roman, der stromabwärts führt und Stromabwärts (À Vau-l`Eau, 1882) heißt. Es ist der gleiche kleine Bürokrat, den wir aus den Büchern Houellebecqs kennen und der uns in der Plattform wiederbegegnet. Dort lauten die Abschiedsworte: "Jetzt habe ich den Tod verstanden; ich glaube nicht, dass er mir sehr wehtun wird. Ich habe den Hass, die Verachtung, den Verfall und verschiedene andere Dinge kennengelernt; ich habe sogar kurze Momente der Liebe kennengelernt. Nichts von mir wird überleben, und ich verdiene auch nicht, dass mich etwas überlebt; ich bin mein ganzes Leben lang in jeder Hinsicht ein mittelmäßiger Mensch gewesen."

      Die Figur, die sich hier stromabwärts treiben lässt, hat allerdings anders als Folantin einen bedeutenden Schicksalsschlag hinter sich. Das unterscheidet Houellebecq von Huysmans, dass er in seine Bücher doch noch plausible Motive einbaut und damit, trotz aller Meisterschaft im Kränken, auf die letzte Kränkung verzichtet: die verweigerte Antwort. Houellebecqs Helden sind eher überdeterminiert; und im Determinismus liegt vielleicht sein eigentlicher Pessimismus. Genialität und Bosheit Huysmans` bestand dagegen gerade darin, dass seine Helden ganz ohne Schicksalsschlag, nur so in sich zugrunde gehen; sie faulen einfach ab.

      Das Einverständnis mit dem Untergang

      Der Meister und sein Epigone treffen sich aber in einer entscheidenden Figur der Antimoderne, die am wildesten vielleicht Céline formuliert hat: Es ist die Figur des schadenfrohen Einverständnisses mit dem eigenen Untergang. Das trennt sie, bei aller Kapitalismuskritik, von der Linken, dass sie an eine Besserung durch Reform oder Revolution nicht glauben. Huysmans hat die Naturalisten für ihren Humanismus und ihre pädagogische Sozialkritik verachtet wie Houellebecq die 68erGeneration. Der Mensch, obwohl stigmatisiert von der Gesellschaft, scheint ihnen nicht besser als diese. Die Schuld lässt sich nicht an anonyme Strukturen delegieren; "Ich habe große Zweifel", sagt der Tourismusmanager in Plattform, "ob die Welt, die wir erschaffen, die richtige ist". Er erschafft sie dann aber doch.

      Am Ende von Huysmans` düsterstem Roman, Là-bas (Tief unten, 1891), der durch alle Höllen schmutziger Erotik, von mittelalterlichem Sadismus zu modernem Satanismus, führt, bösartiger noch als Elementarteilchen, fragen sich die dauernd diskutierenden Helden, was denn von den künftigen Menschen zu erwarten sei: "Sie werden es machen wie ihre Väter, wie ihre Mütter ... Sie werden sich die Därme füllen und die Seele ausleeren durch den Unterleib!"

      Es ist dieser eine große Jammer über die moderne Ortlosigkeit der Seele, ihren ungestillten und unstillbaren Hunger, der Houellebecq und Huysmans nicht zu vollendeten Zynikern macht (übrigens auch nicht zu Faschisten, wie die gekränkte Linke gern behauptet). "Ohne Liebe kann nichts geheiligt werden", heißt es an einer Stelle unvermittelt in Plattform. Man muss Houellebecq nicht mögen, man kann ihn sogar ablehnen wegen seiner hasserfüllten Affirmation des Hasses und wird sich doch beklommen fragen, was unsere Zeit prädestiniert für diese bittere Wiederkehr der Seelenklage des Fin de Siècle. Ob es nicht am Ende die Abschaffung des Menschen durch den Fortschritt ist, die Huysmans dunkel ahnte und die nun, hundert Jahre später, wirklich droht, wie es Houellebecq in den Elementarteilchen prophezeit.

      Die Worte, die Paul Valéry seinem Freund Huysmans nachgerufen hat, können auch für Michel Houellebecq gelten: "Selbst wenn das Werk barbarisch scheint, geschmackvolle Leute abstößt, die Vernünftigen reizt und Verheißungen des Todes in sich trägt, die Gewissheit, dass man es wegen seiner Sonderlichkeit fallen lassen wird, so bleibt es ein eigenwilliges Werk, es war ein Ereignis in der Welt der Literatur."

      Michel Houellebecq: Plattform Roman; aus dem Französischen von Uli Wittmann; DuMont Literaturverlag, Köln 2002; 370 S., 24,- €
      Avatar
      schrieb am 20.02.02 18:02:09
      Beitrag Nr. 4 ()
      Habe neulich "Ausweitung der Kampfzone" als Theaterinszenierung gesehen. War interessant, weil es nicht auf einer Bühne spielte, sondern im Foyer des Theaters und der gesamte Gebäudekomplex und sogar nebenliegende Gebäude (die man durch die Glasfront des Fyers sehen konnte) als "Bühne" einbezogen wurden. Aber inhaltlich hat`s mich nicht vom Hocker gehauen. Wirkte doch etwas zusammenhanglos und "nichtlinear". Aber vielleicht hat der Regisseur sich einige künstlerische Freiheiten genommen (hab das Buch noch nicht gelesen). Oder`s liegt auch an mir...

      Nothung
      Avatar
      schrieb am 20.02.02 18:03:08
      Beitrag Nr. 5 ()
      Also ich habe fast alle seine Bücher gelesen,
      einfach klasse. "Elemtarteilchen" hervorrgend,
      sehr schön auch das Audiobook auf CD. "Lanzarote"
      kann man sich wohl sparen, hab ich mir nicht
      gekauft, dagegen kann ich die 3 Gedichtbände
      wärmstens empfehlen.
      Und auf noch höherem Niveau: Martin Amis und
      Julian Barnes
      Gruß lemmy

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      Avatar
      schrieb am 23.02.02 12:59:35
      Beitrag Nr. 6 ()
      Letzte Ausfahrt Bangkok
      Herzens- (und andere) Ergießungen eines sexliebenden Normalbürgers: In seinem neuen Roman "Plattform" erweist sich Michel Houellebecq als metaphysischer Pornograf. Gesellschaftskritisch interessierte Leser müssen daher ganz tapfer sein
      von DIRK KNIPPHALS

      Love is a gunman


      Okay, da ist das Sextourismusthema. Und die Islambeschimpfungssache. Und das Pornoding. Rote Ohren zuhauf und großes Gebrumme gab es im literarischen Bienenkorb, als dieses Buch vergangenen Sommer in Frankreich herauskam. In diesen Tagen erscheint "Plattform" nun auf Deutsch, und noch immer stürzen sich alle Berichte vor allem auf die skandalträchtigen Aspekte. Davon gibt es gewiss genug. Bringen auch wir es also hinter uns. Erwähnen auch wir, dass Michel Houellebecq in diesem Roman die Provokationsmaschine auf Hochtouren hat laufen lassen. So. Allerdings, das geschah keineswegs überraschend.

      Dirty talk, explizite Szenen, Ausfälle gegen wen auch immer füllten auch die "Ausweitung der Kampfzone" und "Elementarteilchen", die vorangegangenen Romane, die den dunklen Ruhm dieses Autors begründet haben. Die Grundidee zu "Plattform" ist sogar gänzlich aus "Elementarteilchen" geklaut. Über Bruno, eine der beiden Hauptfiguren, heißt es dort: "Für eine kleine, in einen Minirock gehüllte Möse jedoch war er bereit, bis ans Ende der Welt zu reisen. Wenigstens bis nach Bangkok jedenfalls." Das erledigt in "Plattform" nun der Ich-Erzähler. Michel, ein durchschnittlicher Angestellter, fliegt nach Bangkok, des Sexes wegen. Der Rest ergibt sich.

      Das abgetan, kann man auf ein paar Aspekte hinweisen, die in den bisherigen Würdigungen meist unerwähnt blieben. Dass "Plattform" ein für Michel Houellebecqs Verhältnisse stellenweise ziemlich lichter Roman ist, in dem man von für diesen Autor ungewöhnlich vielen glücklichen Momenten erfährt. Dass darüber hinaus neben den Provokationen auch der eigentümliche pornografische Kitsch, der das Buch durchzieht, interessant ist. Zunächst aber ist es wohl geboten, sich gehörig darüber zu wundern, wie quer dieses Buch zu dem Bild steht, das man sich zuletzt von diesem Autor machen konnte.

      Als seltsamen Vogel zeichneten ihn die Porträts schon immer, was vielleicht an seinen ständig qualmenden Zigaretten, vielleicht an seinem merkwürdigen Blick, vielleicht auch an seinen seltsamen Gesangsauftritten nach der Frankfurter Buchmesse 1999 lag, deren Star er war. Aber das betraf sozusagen nur die menschliche Seite. Literarisch lagen spätestens seit "Ausweitung der Kampfzone" die Versuche im Trend, Michel Houellebecq als Schwer- und Großliteraten zu inthronisieren. Wer etwa durch den von Thomas Steinfeld herausgegebenen Besprechungs-Sammelband "Das Phänomen Houellebecq" blättert, dem purzeln die Stichworte aller gegenwärtigen Ernstdiskurse (Stand vor dem 11. September 2001) nur so entgegen. Vom "Elend der spätliberalen Welt" ist dort die Rede, von der "Abschaffung des Menschen" durch die Gentechnik, von der "Ausweitung des Klassenkampfes auf die Sexualität", vom Versagen der 68er, von "Korrekturen an der Schönen Neuen Welt" - alles, was das kritische Bewusstsein begehrte, ließ sich offenbar auf die Texte dieses Autors projizieren. Michel Houellebecq, das war so etwas wie die Rache der Neoliberalismus-, Hedonismus-, Globalisierungs-, Individualisierungs- und Was-weiß-ich-Kritiker an der Literatur.

      Und nun so etwas! Es ist fast schon gemein, die bisher mit ziemlich teutonischer Ernstwucht verlaufene Rezeption mit dem aktuellen Roman zu konfrontieren. Jedenfalls stolpert der Ich-Erzähler Michel im ersten Teil als Mitglied einer Reisegruppe durch Thailand, es kommt zu Begegnungen mit Naturszenerien sowie zu Besuchen in Massagesalons; zwischendurch schlägt sich Michel mit seinen Mitreisenden herum und onaniert ansonsten viel und gerne, einmal auf ein Exemplar von Grishams Bestseller "Die Firma" ("eh kein Buch, das man zweimal las").

      Während der Reise lernt Michel die Tourismusangestellte Valérie kennen, mit ihr sehen wir ihn im zweiten Teil glücklich vereint. Kern des Buches sind nun die Beischlafszenen; zu Hochzeiten tut gelingender Sex auf jeder zweiten Seite seine befriedigende Wirkung. Und zwischen allen diesen Fellatio-, A-tergo- und Partnertauschszenen reift die Idee, die Sache mit dem Sextourismus einmal im großen Stil anzugehen: "Auf der einen Seite hast du mehrere hundert Millionen Menschen in der westlichen Welt, die alles haben, was sie sich nur wünschen, außer dass sie keine sexuelle Befriedigung mehr finden … Und auf der anderen Seite gibt es mehrere Milliarden Menschen, die … nichts anderes mehr zu verkaufen haben als ihren Körper und ihre intakte Sexualität. … Das ist die ideale Tauschsituation." Was ganz am Schluss dann eine islamistische Terrorgruppe anders sieht. Sie überfällt einen der Tourismusclubs namens "Eldorado Aphrodite", die nach Michels Rat mit dem Spruch für sich warben: "Weil wir das Recht haben, uns zu vergnügen." Die meisten, die sich das Recht genommen haben, sind dann tot.

      "Plattform" ist ein Kolportageroman, von Michel Houellebecq konzeptionell eher unaufwändig um die einzelnen Episoden herum komponiert. Das Buch lässt sich aber in gewisser Weise auch als Roman eines Spielverderbers lesen, so als wolle Houellebecq die Höhe der Debatten über ihn bewusst unterlaufen. Falls ihm daran gelegen gewesen war, dem Schicksal als avancierter Gegenwartsanalytiker zu entgehen, so ist er diesem Ziel nun um einiges näher gekommen. Zumindest schlagen alle Versuche fehl, "Plattform" mit dem Ansatz einen kritischen Gehalt zu unterstellen, hier werde dem Sextourismus ein Spiegel vorgehalten. Dafür ist Houellebecq viel zu wenig an der realen Situation in Thailand (und übrigens auch in Kuba) interessiert. Was ihn fasziniert haben muss, das ist allein die Idee, dass es hier guten Sex zu kaufen gibt.

      Mag sein, dass "Plattform" den Moment bezeichnet, an dem ernsthafte Leser Michel Houellebecqs ganz tapfer sein müssen: Das gesellschaftskritische Denken ist mit diesem Roman jedenfalls nicht voranzubringen. Wer sich auf die Suche nach so etwas wie einem Zentrum begeben will, wird dagegen beim Sex anfangen müssen. Denn immerhin: Als Pornograf und Erotomane war Michel Houellebecq nie so konsequent wie in diesem Buch. Immer und immer wieder schildert er die körperlichen Verrichtungen der Lust, das Spiel der Geschlechtsorgane. Darüber, dass dies sehr mechanisch geschieht, muss man sich nicht lange wundern, denn in der körperlichen Mechanik, nicht in der Psychologie liegt für Houellebecq alles. Wie konsequent dieser Schriftsteller die ehrwürdige Tradition der Liebesschilderung auf den reinen Akt, den bloßen Vollzug zurückführt, zeigte sich bereits in einem vor eineinhalb Jahren in der Zeit abgedruckten Gespräch. Houellebecq kündigte darin an, "reines Glücksempfinden" zeigen zu wollen. Er führte dann also einen Kurzfilm vor, von dem die dezent irritierte Interviewerin wie folgt berichtet: "Was wir nun zehn Minuten lang sehen, ist die realistische Aufnahme eines Cunnilingus zwischen zwei Frauen. Die Kamera wechselt die Einstellung nicht, sie bleibt still ausgerichtet auf die genießende Frau." Verblüffend ist vor allem die materialistische Einfachheit des Denkens Houellebecqs in dieser hübschen Szene. Das Glück liegt in den Reizempfindungspartikeln unserer Geschlechtsorgane (wer "Elementarteilchen" gelesen hat, weiß schon, wie diese Nervenenden heißen: "Krause-Endkolben"). Es ist ein gar nicht mal allzu unterkomplexer Ansatz, "Plattform" als simple Illustration dieses Satz zu verstehen. Sowie als Klagegesang darüber, dass dies Glück in dieser falsch eingerichteten Welt nicht von Dauer ist - da sind hier die islamistischen Attentäter vor.

      "Außer während des Geschlechtsakts gibt es nur wenige Augenblicke im Leben, in denen der Körper vor bloßer Seligkeit überschäumt und durch das bloße Dasein auf der Welt voller Freude ist", so heißt es in "Plattform" einmal. So beinahe rührend kitschig dieser Satz ist, so bedeutsam ist er doch im Ideenhaushalt des Romans. Denn was Houellebecq in seinen pornografischen Szenen vorführt, das ist nichts anderes als eine Ethik des Lustgewinns: Alles in Ordnung, was einem selbst oder dem Partner nur Lust verschafft. Dabei schwingt sich der Roman sogar bis in metaphysische Höhen auf, an einer Stelle bezeichnet der Erzähler die Geschlechtsorgane als "schwache Entschädigung" Gottes dafür, dass er uns "als törichte, grausame, sterbliche Wesen" geschaffen hat.

      Michel und Valérie bilden im Kontext dieses Romans ein ideales Paar. Ohne weitere Ansprüche zu stellen, ohne Eifersucht, ohne Beziehungsgespräche verschaffen sie sich freundlich und gekonnt gegenseitig Momente der Lust. Nichts dagegen, das eine Männerfantasie zu nennen. Nichts dagegen, die Art, wie das geschildert wird, als Porno zu bezeichnen. Nur die eine oder andere germanistische Untersuchung über Michel Houellebecq und die Erotik möchte man dann doch anregen, in diesem Thema steckt einiges drin.

      Innerhalb des Werkes könnte etwa die Figur der Valérie mit ihren Vorgängerinnen Annabelle und Christiane aus den "Elementarteilchen" in Beziehung gesetzt werden; auch sie sind Frauen, die ihren Partnern unprätentiös Glück verschaffen - wobei allerdings alle positiv gezeichneten weiblichen Figuren bei Michel Houellebecq auffälligerweise recht früh sterben müssen, Valérie durch die Terroristen, Annabelle durch Krebs und Christiane durch Selbstmord. Und innerhalb der literarischen Tradition wäre es einmal interessant, Houellebecq mit dem Liebesdiskurs seit der Romantik ins Verhältnis zu setzen. Dass das Zentrum des Glücks unsprachlich ist, diesen Topos immerhin nimmt er auf. Dafür gibt es derzeit wohl keinen anderen westlichen Schriftsteller, der sich so sehr von jedem psychologisierenden Diskurs fernhält wie er. Bei Houellebecq - und das ist wohl die größte Provokation - sind es allein die Körper, die zählen.


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