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    eröffnet am 20.09.02 01:19:53 von
    neuester Beitrag 20.09.02 09:43:20 von
    Beiträge: 5
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      schrieb am 20.09.02 01:19:53
      Beitrag Nr. 1 ()
      "Meisterwerk der Desinformation"

      Der Ökonom Fredmund Malik über das amerikanische Wirtschaftswunder der neunziger Jahre als gigantischen Bluff, die Tricks der Statistiker, das falsche Vorbild USA und die neue Nüchternheit in deutschen Unternehmen

      SPIEGEL: Herr Professor Malik, Amerika wird von Bilanzskandalen überrollt, das Vertrauen der Anleger ist erschüttert, die Börsenkurse sind am Boden. Taugt die US-Wirtschaft noch als Vorbild?
      Fredmund Malik
      lehrt seit 1978 in der Schweiz an der Hochschule St. Gallen Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Unternehmensführung. Seit 1984 leitet der gebürtige Österreicher das Management Zentrum St. Gallen. Malik, 58, berät zahlreiche Unternehmen - vor allem deutsche.



      Malik: Amerika ist sicher kein Vorbild mehr und hätte es in den vergangenen Jahren auch nicht sein dürfen. Das Wirtschaftswunder in den Vereinigten Staaten war lediglich ein Medienereignis, ein Meisterwerk der Desinformation. In der ökonomischen Realität hat es nie stattgefunden.

      SPIEGEL: Aber die USA verzeichneten doch hohe Wachstumsraten und enorme Produktivitätszuwächse.

      Malik: Die meisten dieser Zahlen sind falsch. Die Amerikaner haben sich systematisch schöngerechnet.

      SPIEGEL: Meinen Sie damit, die Zahlen wurden gefälscht wie die Bilanzen der Konzerne Enron und Worldcom?

      Malik: Fest steht, dass die Amerikaner seit Mitte der neunziger Jahre ein neues statistisches Verfahren benutzen, das so genannte Hedonic Price Indexing. Es versucht zu berücksichtigen, dass sich die Qualität von Gütern verbessert und sie gleichzeitig billiger werden. So wurden die Zahlen um einen Faktor nach oben korrigiert, der diese Leistung ausdrücken soll. Die Computerinvestitionen in den USA stiegen zum Beispiel von 1995 bis 2000 von 23 auf 87 Milliarden Dollar. Durch den hedonischen Effekt wurden daraus 240 Milliarden Dollar - rein statistisch, nicht real.

      SPIEGEL: Statistiker halten das hedonische Verfahren aber gerade für realitätsnäher. Auch das Statistische Bundesamt wendet es neuerdings an.

      Malik: Ich hoffe, das Amt besinnt sich eines Besseren. Es mag gute Statistik sein, aber es ist miserable Ökonomie. Auf diese Weise zu rechnen ist beinahe so, als würden Autos in Deutschland nicht zu Verkaufspreisen ins Sozialprodukt eingerechnet, sondern mit der PS-Zahl multipliziert. Die Zahlen, die den Boom in den USA belegen sollten, sind jedenfalls mit den deutschen in keiner Weise vergleichbar, sie wurden massiv aufgebläht. Das war ein gewaltiger Bluff.

      SPIEGEL: Wie stark ist denn die amerikanische Wirtschaft tatsächlich gewachsen?

      Malik: Es gab Wachstum im Finanzbereich, allerdings als Folge einer Spekulationsblase, und im Computersektor, wobei dieser Bereich längst nicht so wichtig ist, wie die Medien suggeriert haben. Wenn man diese Effekte ausklammert, dann ergibt sich für die neunziger Jahre realwirtschaftlich Nullwachstum.

      SPIEGEL: Wieso ist dies keinem der renommierten US-Ökonomen aufgefallen?


      DER SPIEGEL


      Malik: Die interessensneutrale, kritische Überprüfung der Wirtschaft ist, von Ausnahmen abgesehen, nicht gerade die Stärke Amerikas. Die wirklichen Feinde des Kapitalismus sind seine lautesten Befürworter. Ein Teil der Ökonomen wurde sogar bezahlt von den Wall-Street-Firmen. Sie beflügelten einen Börsenboom, der nicht auf Wertschöpfung gestützt war, sondern auf Gier, auf Schulden, auf die Angst, die Chance seines Lebens zu verpassen, und auf systematische Fehlinformationen, wie die Zinkereien der Bilanzen von Unternehmen wie Enron oder Worldcom jetzt zeigen.

      SPIEGEL: Das klingt ja beinahe nach einer Verschwörung.

      Malik: Es bedurfte keiner Verschwörung, es genügte der Zeitgeist: der Glaube an stetig steigende Gewinne, wachsende Produktivität und praktisch ewiges Wachstum. Es war ein sich selbst verstärkender Prozess, der erst zu enormen Höhenflügen führt und dann zum Absturz. Diese Entwicklung ist vergleichbar mit der in den zwanziger Jahren. Damals wurde statt von einer "New Economy" von der "New Era" gesprochen.

      SPIEGEL: Wie konnte es erneut zu einer solchen Fehleinschätzung kommen?

      Malik: Ursache ist ein Neoliberalismus, der mit wirklichem Liberalismus nichts zu tun hat. Liberal zu denken bedeutet keinesfalls, bedingungslos dem Markt zu vertrauen, der angeblich alles zum Besten richtet und stets klüger ist. Tatsächlich läuft der Markt immer nur hinterher: Er sagt uns nicht, wie wir handeln müssen, sondern lediglich, wie wir damals hätten handeln sollen. Der Markt verhindert keine Fehler, er bestraft sie.

      SPIEGEL: Jetzt klingen Sie wie ein Kapitalismuskritiker.

      Malik: Schon große liberale Denker wie Friedrich von Hayek wussten, dass der Markt höchst unvollkommen ist - aber alle anderen Lösungen noch viel schlechter sind. Entscheidend ist vielmehr die Freiheit jedes Einzelnen, sein Wissen und seine Fähigkeiten für seine Ziele und Zwecke verwenden zu dürfen.

      SPIEGEL: Wie sind die Unzulänglichkeiten des Marktes in den Griff zu bekommen?

      Malik: Der Markt bedarf eines präzise durchdachten Regelwerks. Selbst so liberale Ökonomen wie der Nobelpreisträger Milton Friedman wissen, dass eine Rechtsordnung und eine Justiz nötig sind, damit der Markt funktioniert. Auch wer das Konzept des Shareholder-Value propagiert, der das Aktionärsinteresse über alles stellt, darf nicht glauben, dass er damit im Sinne des Liberalismus handelt. Ein Unternehmen hat nicht den Zweck, die Aktionäre reich zu machen.

      SPIEGEL: Sondern?

      Malik: Ein Unternehmen muss die Kunden zufrieden stellen und nicht die Aktionäre.

      SPIEGEL: Die Aktionäre sind immerhin die Eigentümer des Unternehmens. Wieso sollte der Vorstand nicht in ihrem Interesse handeln?

      Malik: Nur ein Unternehmen, das zufriedene Kunden hat, wird auch zufriedene Aktionäre haben - umgekehrt geht die Logik nicht auf. Das Problem ist: Es sind zwei Arten von Eigentum zu unterscheiden. Eigentlich ist der unternehmerisch denkende Eigentümer der Kern einer Aktiengesellschaft. Heute jedoch haben es die Unternehmen mit kurzfristig denkenden Anlegern zu tun, die nicht am Unternehmen, sondern an der Aktie interessiert sind. Sie können ihre Anteile mit einem Telefonanruf oder einem Mausklick verkaufen. Kein Unternehmer kann sich auf diese Weise von seinem Betrieb trennen.

      SPIEGEL: Wollen Sie die Rechte der Aktionäre beschränken?

      Malik: Man muss zumindest darüber nachdenken. Komplett ungeregelte Börsenoperationen sind auch falsch verstandener Liberalismus. Geld zu machen oder Geld zu bewegen ist nicht dasselbe wie eine unternehmerische Leistung zu erbringen. Die US-Firmen haben keine echten Gewinne produziert, sondern im Grunde das Gegenteil: lediglich Geldwerte an den Börsen. Mit dem Shareholder-Value haben die Manager die wahre Aufgabe der Unternehmensführung völlig aus den Augen verloren.

      SPIEGEL: Haben denn die Manager überhaupt eine andere Wahl? Sie werden doch von Fondsverwaltern fortwährend angetrieben, die Gewinne ihrer Unternehmen zu steigern.

      Malik: Ich glaube, der Terror der Finanzanalysten beginnt seine Wirkung zu verlieren. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Rockefeller oder ein Morgan unter den heutigen Bedingungen nicht an die Börse gegangen wäre. Sie hätten sich nicht jeden Tag schon im Frühstücksfernsehen von ziemlich unerfahrenen Kommentatoren sagen lassen wollen, wie sie ihre Firmen führen sollten.

      SPIEGEL: Wenn das amerikanische Modell ausgedient hat, worauf sollen die deutschen Unternehmer dann setzen?

      Malik: Auf die eigenen Stärken. Ich halte die deutsche Wirtschaft für deutlich leistungsfähiger als die amerikanische. Es ist relativ leicht, ein großes Unternehmen in Amerika zu führen bei einem solch riesigen Heimatmarkt von 275 Millionen Menschen. Amerika war nie auf den Export angewiesen. Von Deutschland aus ein Weltunternehmen zu führen, bedeutet eine ganz andere Anforderung an Führung.

      SPIEGEL: Das Vorbild heißt also Deutschland?

      Malik: Ich meine, ja. Tugenden, wie sie Deutschland immer besaß, spielen heute wieder eine wichtige Rolle. Die deutsche Wirtschaft versteht mehr von Kundennutzen und vor allem von Qualität als die meisten anderen Volkswirtschaften. Schauen Sie sich nur die deutsche Automobilindustrie an. Vor zehn Jahren befand sie sich in einem desolaten Zustand, heute ist sie Weltspitze. Es ist bemerkenswert, dass in dieser Branche keine Amerikanisierung des Managements stattgefunden hat.

      SPIEGEL: Mit Ausnahme von DaimlerChrysler.

      Malik: Richtig. Und da ist doch auffällig, dass besonders erfolgreiche Unternehmen wie BMW oder Porsche eigentümerdominiert sind, in diesen Fällen von Familien. Sie sind dem Druck der Börse längst nicht so stark ausgesetzt, sie können langfristiger planen. Es ist auch ein Märchen zu behaupten, jedes Unternehmen brauche die Börse, um an Geld zu kommen. Der Medienkonzern Bertelsmann kann von Glück reden, dass er in letzter Sekunde noch die richtige Entscheidung getroffen und seine gesamte Strategie geändert hat.

      SPIEGEL: Wenn dieser deutsche Weg die bessere Alternative darstellt, wie kommt es, dass die deutsche Volkswirtschaft in puncto Wachstum in Europa den letzten Platz belegt?

      Malik: Bedenken Sie die besonderen Belastungen, die Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten zu tragen hatte: den teuren Wohlfahrtsstaat, die oft ungünstigen Wechselkurse, die kämpferischen Gewerkschaften, die Integration Europas und vor allem die Wiedervereinigung. Darum sage ich: Deutschland ist eine Wirtschaft, die ein permanentes Fitnesstraining unter Sonderlasten hinter sich hat.

      SPIEGEL: Aber wieso wurden in Amerika in zehn Jahren mehr als 15 Millionen Arbeitsplätze geschaffen, während in Deutschland die Zahl stagnierte? Ist das auch nur ein Statistiktrick?

      Malik: Diese Zahlen zweifle ich nicht an, ich glaube allerdings, dass sich darunter viele Billigjobs verbergen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Die deutsche Wirtschaft --- S.135 hat Probleme, keine Frage, aber welches Land hat keine? Es ist wirklich erstaunlich, mit welcher Bewunderung, ja fast Verklärtheit, hochrangige Manager von der US-Wirtschaft schwärmen und gleichzeitig Deutschland schlecht machen. Diese Volkswirtschaft kann einiges. Sie ist leistungsfähig, und sie kann Probleme besser lösen als jede andere.

      SPIEGEL: Aber ist sie auch fähig, sich zu erneuern? In den traditionellen Bereichen, in der Automobilindustrie oder im Maschinenbau, mag Deutschland Weltspitze sein. Aber wie sieht es in den neuen Industrien aus? In der Informationstechnologie dominieren weltweit doch klar die USA.

      Malik: Ich würde eine Branche wie den Maschinenbau nicht einfach unter "Old Economy" verbuchen. Da gibt es viele Unternehmen, die außerordentlich technologieorientiert sind. Ich gebe allerdings zu, dass Deutschland eine Spur innovativer sein könnte.

      SPIEGEL: Was die US-Wirtschaft ebenfalls auszeichnet, ist ihre Dynamik, ihre Risikobereitschaft, der Mut zu Visionen eben. Mangelt es nicht in Deutschland gerade daran?

      Malik: Bis Anfang der neunziger Jahre stand im Brockhaus unter dem Eintrag "Vision" "Gesichts- oder Sinnestäuschung". Und genau das war es. Der Begriff der Vision hat den Träumern doch nur die Möglichkeit gegeben, sich wichtig zu machen. Viel bedeutsamer wäre es, eine bodenständige Unternehmensstrategie zu entwickeln. Was wir brauchen, ist eine neue Nüchternheit.

      SPIEGEL: Es gibt die Theorie, wonach Phasen der Übertreibung auch ihr Gutes haben. Vor 150 Jahren wurde viel Geld für die Eisenbahn eingesammelt, danach gab es eine hervorragende Infrastruktur. Heute wäre die Ausbreitung des Internets nie so schnell vorangekommen, hätte es nicht diesen Technologie-Hype gegeben.

      Malik: Das mag sein. Aber das würde bedeuten, dass der Mensch nichts dazulernt. Wir dürfen nicht vergessen, dass dem Eisenbahnboom der Wirtschaftskollaps folgte und dass der Börsenboom der späten zwanziger Jahre ebenfalls im Debakel endete.

      SPIEGEL: Sehen Sie jetzt eine ähnliche Gefahr für die USA?

      Malik: Alle Bedingungen sind erfüllt, dass sich die Entwicklung der dreißiger Jahre in ähnlicher Form wiederholt. Es wird vermutlich schlimmer.

      SPIEGEL: Warum sind Sie so skeptisch?

      Malik: In Amerika stehen die Ersparnisse von zwei Generationen im Risiko, in den vergangenen zwei Jahren ist mit fünf Billionen Dollar so viel wie das halbe US-Sozialprodukt vernichtet worden. Noch hoffen die Rentner darauf, dass sich ihre Portefeuilles wieder füllen. Was aber, wenn sie merken, dass die Reserven weg sind? Es wird überall Verzicht geben. Nach der letzten großen Wirtschaftskrise sind den Amerikanern soziale Konflikte erspart geblieben. Ich fürchte, diesmal wird es nicht so glimpflich ausgehen.

      SPIEGEL: Herr Professor Malik, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

      ------------------------------------------------------------
      PS: Der Spiegel war immer schon sehr pessimistisch gegenüber der Wirtschaft und der Börsenlandschaft!

      Mit freundlicher Genehmigung von Zoom;)
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 05:45:55
      Beitrag Nr. 2 ()
      Hmmm
      Tut gut mal was positives über Deutschland zu lesen.
      aj.
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 07:28:01
      Beitrag Nr. 3 ()
      Kursverfall der Öffentlichkeit: Das Verhältnis von Medien und Politik in den Vereinigten Staaten

      Von Bernd Greiner

      Medien sind auch in den USA zum Blitzableiter eines kollektiven Unwohlseins geworden und treten als die "üblichen Verdächtigen" auf, wenn Schuldige für Missstände gesucht werden. Aber Studien über das wechselseitige Verhältnis von Politik und Medien, von Medien und Gesellschaft sind nach wie vor rar. Ein Defizit, das besonders störend auffällt, wenn man einen von Thomas Jefferson überlieferten Satz ernst nimmt: "Information is the currency of democracy", hatte der Autor der Unabhängigkeitserklärung gesagt und gemeint, dass sich im Zusammenspiel von Medien und Politik der Zustand einer Demokratie zeigt. Die Art und Weise also, wie öffentliche Angelegenheiten zur Sprache gebracht werden und wie Bürger an Entscheidungsprozessen partizipieren.

      Bis in die späten 60er Jahre respektierten Journalisten in der Regel die von der Regierung in Fragen der Außen- und Si-cherheitspolitik praktizierte Geheimhaltung. US-Spitzenpolitiker konnten im Beisein von Korrespondenten freimütig plaudern - weil sie ihnen signalisiert hatten, dass ein falsches Wort nach außen den Verlust des privilegierten Zugangs zum Kreis der Mächtigen bedeuten würde. Diese Hypothek wiegt noch immer schwer. Sobald ein Präsident patriotische Geschlossenheit einklagt und selbstsicher die Richtung vorgibt, kann er der Unterstützung der Medien gewiss sein. Umgekehrt scheinen Reporter ihren politischen Orientierungssinn zu verlieren, wenn aus Washington keine publizistischen Handreichungen geboten werden.

      Während des Golfkrieges ließen sich Kriegsreporter zu Laufburschen des Pentagon machen und akzeptierten Einschränkungen, die zu Zeiten des Vietnamkriegs undenkbar gewesen wären. Mitunter fragt man sich, ob George W. Bush nach dem 11.9. den "Patriot Act" tatsächlich hätte durchsetzen müssen - kann er sich doch auf Wortführer wie Dan Rather von CBS verlassen, der verkündete, es sei nicht seines Amtes, kritische Fragen zu stellen. Statt die Rolle einer "vierten Gewalt" auszufüllen, treten die meisten Medien in Krisensituationen als "vierter Zweig" der Regierung in Erscheinung. Um auf Jefferson zurück zu kommen: Heute lässt sich beobachten, wie Medien die ihnen eigene Währung ruinieren und dem Kursverfall der Demokratie Vorschub leisten.

      Es wäre freilich kurzschlüssig, allein die stilbildende Kraft der Tradition dafür verantwortlich zu machen. Vielmehr hat sich das Verhältnis von Medien und Politik in den letzten drei Dekaden nachhaltig verändert. Der Verfall des Parteiensystems ist der tiefste Einschnitt. Parteien sind als Organe politischer Willensbildung nicht mehr gefragt und aus dem Zentrum der civil society praktisch verschwunden. Ausgerechnet der Versuch, den durch Watergate verursachten Legitimationsverlust aufzufangen, hat diese Entwicklung auf die Spitze getrieben. Die Gesetzgeber wollten damals die Macht der Parteibosse durch eine Neuregelung des Wahlverfahrens brechen: Je mehr Kandidaten sich um ein Amt bewerben könnten, desto transparenter würde das politische Leben.

      Profil statt Partei

      In der Tat nutzten mehr Politiker die Chance für eine von alten Seilschaften unabhängige Kandidatur. Dafür aber reicht weder die finanzielle Kraft noch das logistische Vermögen der Parteien - ganz abgesehen davon, dass viele Kandidaten um eines eigenständigen Profils willen ohnehin Abstand halten. Karrieren wurden fortan von "unternehmerischen Einzelnen" gemanagt, die vor allem an individuellen Profilen bastelten. In den 90er Jahren trat "Image Management" endgültig an die Stelle des "Issue Management", mit dem Lyndon B. Johnson oder Jimmy Carter noch Wahlen gewonnen hatten.

      Dem gestiegenen Bedarf nach individueller Vermarktung entsprach ein optimiertes Angebot elektronischer Medien. Vorab das Fernsehen bietet den größten politischen Gebrauchswert. Im Unterschied zu Zeitungen mit ihrer lokalen Anbindung erreicht es schnell und flächendeckend jede beliebige Klientel. Wenn es darum geht, die "acting skills" genannten Qualitäten kurzweilig herauszustellen, ist dieses Medium unschlagbar. Bill Clinton beispielsweise ignorierte im Wahlkampf 1992 wochenlang die Presse und zog es stattdessen vor, sein telegenes Auftreten für Talk- und Game-Shows zu nutzen.

      Von einer neuen Liaison zwischen Medien und Politik zu sprechen, drängt sich daher auf. Es geht um eine vom Markt dominierte, auf den Markt fixierte Kohabitation. Besonders anhand von Wahlberichten lässt sich beobachten, wie das Zusammenspiel funktioniert. An erster Stelle ist von Trivialisierung zu reden. Und davon, dass die Welt der Politik ein einziges Sportereignis zu sein scheint. Was zählt, ist nicht, wie sich politische Programme auf das Leben der Einzelnen oder die gesellschaftliche Entwicklung auswirken könnten. Gefragt wird nach der Taktik im Spiel: Ist ein Vorschlag geeignet, dem Kandidaten X in der Konkurrenz mit Kandidaten Y einen Vorsprung zu verschaffen? Wer setzt welche Mittel zur Eroberung der "Pole-Position" ein? Der professionelle Ringkampf hat es den Kommentatoren besonders angetan, jener Pseudosport, bei dem es um nichts geht und wo nichts so gemeint ist, wie es vorgetragen wird. Die bloße Vorstellung, ein Politiker könnte meinen, was er sagt, wird wie ein Relikt aus prähistorischer Zeit gehandelt.

      Bill Clintons Scheitern bei der Reform des Gesundheitswesens hängt nicht zuletzt mit dieser Art des Journalismus zusammen - einer von Event zu Event hetzenden Berichterstattung, die keine Zeit zur Meinungsbildung lässt. Nach dem Wahlkampf ist immer vor dem Wahlkampf. Regierungen werden, kaum dass sie im Amt sind, an ihren Aussichten für eine Wiederwahl gemessen. Die schleichende Entwertung der Nachricht ist der von ihrer Trivialisierung geforderte Preis.

      Zweitens, die Emotionalisierung des Politischen. 1988 wollte Garry Hart von der Demokratischen Partei ins Rennen um die Präsidentschaft geschickt werden. Die Washington Post behandelte ihn wie ein für schlechtes Benehmen abzustrafendes Ziehkind ihrer selbst. Wenn er die Bewerbung zurückzöge, ließ man ihm mitteilen, würden keine Informationen über sein außereheliches Liebesleben veröffentlicht. Hart beugte sich, wohl ohne zu wissen, dass er das Opfer einer Kampagne geworden war. In der Post hatten sich leitende Redakteure verständigt, die "funny ones" zu Fall zu bringen - die Unbequemen, soweit nötig, und die Angeschlagenen, soweit möglich.

      Dergleichen ist in der modernen amerikanischen Geschichte ohne Beispiel: Dass Medien sich anmaßen, Strafverfolger und Richter in einem zu sein. Siehe die Hatz auf Bill Clinton während der Lewinsky-Affäre, die mit dem Begriff "sexueller McCarthyismus" treffend beschrieben wurde, ging es doch um eine Mobilisierung von Affekten und obendrein um eine Inszenierung, die in einem grotesken Missverhältnis zum Anlass stand. Im Unterschied zu McCarthys Auftreten scheint dieses Treiben aber kein Ende finden zu können.

      Aufbietung des ewig Gleichen

      Der auf Skandalisierung ausgelegte Journalismus greift umso weiter um sich, je härter die Konkurrenz wird. "Herdenjournalismus" nannte man das bereits in den 60ern. Gleichwohl sollten Trivialisierung und Emotionalisierung nicht nur mit dem Kampf um Marktanteile in Verbindung gebracht werden. Denn jenseits der politischen Ökonomie der Medienwelt steht eine zum Kalkül verkommene Moral vieler Politiker, die sich ebenfalls dem "Infotainment" verschrieben haben. Insofern demokratische Willensbildung das Bemühen voraussetzt, Emotionen durch die Kraft rationalen Argumentierens in Schach zu halten, liegt ein Rückfall in vordemokratische Zeiten vor. Nirgendwo wird dies deutlicher als in der ungezügelten "Hasswerbung", die sich aus dem Fundus der Vernichtungsrhetorik bedient. Gewiss gehört "name-calling" stets zum politi-schen Geschäft. Neu aber ist, dass Wahlkämpfe zu "free fire zones" erklärt werden. Medien und Politik sind in einem Teufelskreis gefangen, der an das Wettrüsten vergangener Tage erinnert: Keine Seite glaubt nachgeben zu dürfen, jeder sucht unter Aufbietung des ewig Gleichen sein Heil in der Flucht nach vorne.

      Den Schaden hat die Demokratie. Seit zwanzig Jahren dokumentieren Meinungsforscher den fortschreitenden Zynismus amerikanischer Bürger. Politiker werden geradezu als Hindernis zur Lösung gesellschaftlicher Probleme wahrgenommen. Wie es scheint, geraten auch die Institutionen - vom Kongress über das Amt des Präsidenten bis zur unabhängigen Justiz --in den Sog der Delegitimierung. Wir erleben eine Massenflucht aus dem öffentlichen Raum, eine auf alle Gruppen und Schichten verteilte Abwendung vom Gedanken der staatsbürgerlichen Teilhabe an gesellschaftlichen Angelegenheiten.

      Diesen Trend belegen auch die Geschäftsdaten der Medien. Die Zahl der täglich zur Zeitung greifenden US-Bürger ist seit 1970 um 22 Prozent gefallen - ein Konsumentenboykott, der sich auch im nachlassenden Interesse an elektronischen Medien äußert. Zurück bleibt fatalistische Resignation. Und eine diffuse Anfälligkeit für populistische Gesten. Ross Perots Wahlkämpfe sind ein Indiz unter vielen. Die Gefahr für die Demokratie als Staatsform und Lebensweise droht weniger von den extremistischen Rändern, sondern von einer für den Extremismus empfänglichen Mitte - von Staatsbürgern, die sich durch ihre Repräsentanten verraten fühlen und diesen Verrat ihrerseits in eine Verachtung des repräsentativen Verfahrens ummünzen.

      Vor einer vordergründigen Medienschelte sei dennoch gewarnt. So wenig Presse, Rundfunk und Fernsehen den an eine demokratische Öffentlichkeit zu stellenden Anforderungen genügen, so sehr sie jedes Bemühen um Reform abprallen lassen - im Grunde spiegeln sie nur eine tiefer liegende Malaise. In den 50er und 60er Jahren kam der Anstoß, Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik hinter einer Wand der Geheimhaltung verschwinden zu lassen, nicht von Chefredakteuren und Reportern. In den frühen 70er Jahren waren primär Parteien und Kongress dafür verantwortlich, dass die Chancen einer demokratischen Öffnung des "national security state" verspielt wurden. Und seither haben es fast alle Repräsentanten gesellschaftlichen Lebens versäumt, sich den Grenzen des wirtschaftlichen Fortschritts und den daraus folgenden Zumutungen für das Selbstbild zu stellen. Ein konfliktscheues, stets auf Aussöhnung mit sich selbst bedachtes Kollektiv macht es ihnen leicht. Von den Medien Remedur zu erwarten, hieße, ihren Einfluss zu überschätzen und ihre Rolle obendrein falsch zu verstehen. Sie sind Akteure in einer "Republic of Denial" (Michael Janeway), nicht deren Schöpfer.

      Bernd Greiner ist Leiter des Arbeitsbereichs "Theorie und Geschichte der Gewalt" am Hamburger Institut für Sozialforschung. Der Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Autor kürzlich bei den vom Adolf Grimme-Institut veranstalteten "Marler Tagen der Medienkultur" hielt.

      frankfurterrundschau.de
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 09:43:20
      Beitrag Nr. 4 ()
      Sehr schön zu lesen!
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 09:43:20
      Beitrag Nr. 5 ()
      Sehr schön zu lesen!


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