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    die geschlossene Anstalt - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 30.06.04 22:08:05 von
    neuester Beitrag 01.07.04 00:29:07 von
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      schrieb am 30.06.04 22:08:05
      Beitrag Nr. 1 ()
      brand eins 4/2004

      Die geschlossene Anstalt

      Alle wollen das System reformieren. Oder wollen sie es nur verändern, damit alles bleibt, wie es ist?

      Text: Wolf Lotter

      I. EIN WITZ

      Es gibt Phänomene, bei denen muss man nicht Albert Einstein heißen, um zu wissen: Da ist etwas faul.
      Nehmen wir mal Staatsdiener an sich. Knapp fünf Millionen Menschen stehen im Dienst der Öffentlichkeit. Sie verfügen einerseits über sichere Arbeitsplätze. Andererseits macht sie das besonders oft krank.
      Dies ist sogar höheren Amts bestätigt.
      Im Versorgungsbericht der Bundesregierung steht zu lesen, dass nur ein Viertel aller Staatsdiener die gesetzliche Regelaltersgrenze erreicht. Der Rest geht vorher – krank, am Ende, arbeitsunfähig, kaputt. Doch kaum haben die Kranken das System verlassen, bessert sich offenbar ihre Gesundheit dramatisch. Staatsdiener werden im Schnitt um 2,2 Jahre älter als der Rest der Bevölkerung und sind dabei, so sagen alle Studien, sehr vital und kreuzfidel. Hauptsache weg.

      Dem Gemeinwohl zu dienen, das war mal eine tolle Sache. Heute hingegen gibt es Beamtenwitze, die sind nicht mehr komisch, weil ihre Pointe gar nichts Absurdes, sondern Nachvollziehbares zutage fördert. Etwa der, in dem der Vater seinen Sohn zur Rede stellt, weil der immer überall erzählt, sein Alter arbeite als Kellner in einer Schwulenbar. „Was willst du eigentlich? Soll ich etwa sagen, du bist Beamter?“

      II. BETRIEBSSYSTEM

      Jedes System hat seine Organisationsform, sein Betriebssystem. Das der Deutschen war einmal so gut, dass die ganze Welt sie darum beneidete.
      Für Charles Eliot, der aus einer verschlafenen puritanischen Provinzuniversität namens Harvard die führende Universität der Welt machte, diente das deutsche Modell als Vorbild – im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.
      Aus dieser Zeit stammt, was bis heute als schwaches Echo der Welt als typisch deutsch gilt. Organisationseffizienz – ein anderes Wort dafür, dass der Apparat, die Bürokratie, dem folgt, was notwendig ist. Schnell und zielgerichtet.
      Ein gutes System.
      Tatsächlich war der Masterplan dieser Tage klar und für jedermann verständlich: Industrialisierung, Wachstum und Aufstieg um jeden Preis. Nie änderte sich das Land schneller als damals, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. In diesen Tagen wurde das Betriebssystem festgebrannt.
      Den Soziologen Max Weber, den großen Theoretiker des Kapitalismus und seiner Werte, faszinierte das so, wie uns heute das Silicon Valley oder das Internet. Der Beamte dieser Zeit war für ihn mehr als ein hoher Experte. Weber sah in ihm die „rationale Form der legalen Herrschaft“. Ganz egal, wer regierte – der Beamte sicherte die Kontinuität und hielt den Laden am Laufen. Klarheit und Verständlichkeit unterscheiden gute Systeme von schlechten. Diese Sicherheit schuf die Grundlagen der Demokratie. Das Betriebssystem funktionierte.

      III. DIE GESCHLOSSENE ANSTALT

      Es gibt kein Zurück, nur ein Vorwärts, vorausgesetzt, es steht nichts im Weg herum. Tut es aber.
      Das alte Betriebssystem passte nicht mehr in die Zeit, und deshalb machen seine Betreiber das, was auch in der Alltagsinformatik geschieht: Sie stricken Ergänzungen, verwerfen sie, und nach Jahren, Jahrzehnten bleibt das übrig, was heute als System zu beklagen ist – ein heilloses, altes, unbrauchbares Durcheinander.
      Das liegt nicht allein an Dummheit oder Faulheit, sondern vor allem an mangelnder Vorstellungskraft. Denn das, worauf das Betriebssystem ausgerichtet ist, ist der Industrie- und Sozialstaat. Die Regeln der alten Welt.
      Wer etwas anderes in das deutsche Betriebssystem einfüttert, bekommt eine Fehlermeldung an den Kopf geknallt: inkompatibel, und zwar zur Realität.
      Schon seit 40 Jahren ist das alte Wachstumsmodell der Industrie mit seinen Normen und Standards ein Minderheitenprogramm. Denn es gibt inzwischen viel mehr Arbeitsplätze in der Dienstleistung. Und selbst viele Industriearbeitsplätze, die in verbogenen Statistiken als solche ausgewiesen werden, haben mit Kopf und Wissen und nicht mit Hand und Schweiß zu tun. Doch das ist egal, denn das System ist längst zu seinem eigentlichen Zweck geworden – die geschlossene Anstalt, der schiere Selbstzweck.
      Natürlich fällt den Betreibern auf, dass etwas faul ist, dass das System nicht mehr funktioniert. Aber weil sie sich nicht vorstellen wollen, was passiert, wenn sie ihre geschlossene Anstalt verlassen, murksen sie lieber daran herum. Doch jeder Versuch der Reparatur – oder Reform – führt zu einem noch schlimmeren Chaos. Siehe Steuererleichterungsabbaugesetz.

      IV. ABLAGERUNGEN

      Wer Bürokratie sät, wird Ohnmacht ernten. Kardinal Richelieu, der Erfinder des merkantilistischen Staates, baute die Macht Frankreichs auf einem komplexen Netz von Steuerbeamten auf. Das Königreich wurde zur mächtigsten Kraft auf dem europäischen Kontinent. Am Ende seines Lebens vermerkte der Erfinder des modernen bürokratischen Prinzips allerdings verbittert, dass er „als Resultat allen Nachdenkens über das Übel“ keinen anderen Weg sehe, als die Zahl der „Beamten so gering wie möglich zu halten“. Das Übel: Die Bürokratie hatte den Machthaber in wenigen Jahren zum Getriebenen gemacht. Einerseits bildeten die Steuerbeamten das Rückgrat des absolutistischen Staates. Andererseits zwangen sie die Führung stets zu neuen Konzessionen, Privilegien und vor allem zu einer Aufblähung ihres Apparats.
      Das System Richelieu – zuerst den Apparat schaffen, um Macht zu gewinnen, und ihn zum Machterhalt missbrauchen, um schließlich festzustellen, dass das Werkzeug mächtiger ist als die Hand, die es führt, und dann nach Rückbau zu rufen – dieses Prinzip gilt unter den Maschinisten der Macht, den Politikern, bis heute. So werden sie Reformer.
      Eine Reform bedeutet, ein bestehendes System neuen Erfordernissen anzupassen. Was aber, wenn das System an sich nicht mehr funktioniert? Dann wird es umgebaut. Es gibt Millionen Lötstellen, die das Chaos vermehren. Jeder Versuch, am System herumzudoktern, verschlingt noch mehr Aufwand, noch mehr Energie als die malade alte Lösung. Doch es gibt kein Zurück. Deshalb rutscht die Republik in den Reformnotstand. Ein lehrreiches Stück, das zeigt, was geschieht, wenn man zu Brüchen nicht bereit ist.
      Das führt zu tiefem Misstrauen zwischen Bürger und Staat – und, ganz nebenbei, zu immer mehr Beamten und vom Apparat beschäftigten Mitarbeitern. Zu italienischen Verhältnissen.
      Im Nachkriegs-Italien war es Sitte, dass jede der rasch wechselnden Regierungen ihre eigenen Beamten mit ins Boot holte. Auch in Italien waren die Mitarbeiter der öffentlichen Verwaltung auf Lebenszeit eingeschworene und unkündbare Mitarbeiter. So bildete sich jener unglaubliche Moloch, der Ende der achtziger Jahre zum Kollaps des traditionellen politischen Systems in Italien führte. Die italienische Bürokratie war zur relativ teuersten und anerkannterweise ineffizientesten in Europa geworden – ein fragwürdiges Privileg, das seit Mitte der neunziger Jahre vom bundesdeutschen System in Anspruch genommen wird. Es war offenkundig, dass sich ihre Träger in endlosen Entscheidungsund Regelwidersprüchen gefangen hielten.
      Im Fall Italiens ist das verheerende Endresultat die populistische Berlusconi-Scheindemokratie, in der es als normal gilt, Macht zum eigenen Nutzen zu missbrauchen.
      Möglich wird das, weil die Bürger nahezu jedes politische Interesse an ihrem Gemeinwesen verloren haben. Die Liste der Reformen, mit denen Italien seit den späten fünfziger Jahren übersät wurde, ist schier endlos.
      Und hier?
      Jeder moniert sein Recht auf eigene Truppen. Renate Künast beispielsweise klagte nach der Übernahme des Landwirtschaftsund Verbraucherministeriums über die Tatsache, dass sie dort fast nur schwarze oder rote Parteibuch-Träger vorgefunden habe. Das Problem wurde dadurch gelöst, dass die Spitzenjobs im Künast- Ressort mit ihren Parteigängern besetzt wurden – auf der vorhergehenden Kulturschicht. Genauso wird in Bundesländern, Kommunen und öffentlichen Organisationen verfahren. Dazu kommen unzählige systemnahe Institutionen und Vereine, die demselben Prinzip verpflichtet sind. Ob ARD oder ZDF, Bundesagentur für Arbeit oder Kurverein: Die Änderung der politischen Großwetterlage zieht neue Funktionäre nach sich. Die beginnen, schon aus Abgrenzungsgründen, gnadenlos mit ihrem Reformwerk.
      Auf turmhohen Fundamenten, wackelig und porös.

      V. KLARHEIT UND DEMOKRATIE

      So wird aus dem Wort Reform der Schlachtruf der Selbstbetrüger. Der Schwindel wird erkennbar, wenn es um Taten geht. Darum, das Richtige zu tun.
      Zwar hat die Bundesregierung der „Entbürokratisierung“ der Republik den im rot-grünen Kabinett unvermeidlichen „Masterplan-Status“ gewidmet, doch innerhalb der Europäischen Union häuft sich der Unmut über das lahme Tempo, dass Deutschland dabei an den Tag legt.
      Entbürokratisierung gilt in vielen EU-Staaten, vor allem in den dynamischen skandinavischen Republiken, als wichtigster Schlüssel für eine globale Wettbewerbsfähigkeit: „Unnötiger bürokratischer Aufwand ist zu beseitigen und die Kosten unternehmerischer Tätigkeit zu senken“, heißt es in den Richtlinien, die der Europäische Rat in Lissabon formulierte. 2001 konkretisierte der so genannte Mandelkern-Bericht, benannt nach seinem französischen Vorsitzenden Dieudonné Mandelkern, die wichtigsten Prinzipien dabei. Denn auch bei der Auflösung der alten Ordnung muss alles seine Ordnung haben. Die wichtigsten Schlüsselbegriffe des Mandelkern-Berichtes sind klare Botschaften: Transparenz, Zurechenbarkeit, Zugänglichkeit und Einfachheit sind die wichtigsten Voraussetzungen für moderne Bürokratien. Was die EU formuliert, hat ein real existierendes Vorbild, die Arbeit der Better Regulation Task Force in Großbritannien. Die ist seit 1997 dabei, die Regeln für den Umgang zwischen Bürgern und Bürokratie neu zu definieren. Die wichtigsten Punkte aus der Principles of Good Regulation, die die Briten formulierten, entsprechen den später von Mandelkern aufgegriffenen EU-Richtlinien. Vor allem geht es immer um eines: Wo Gesetze nicht von allen verstanden werden, ist das System defekt.
      Eine klare Diagnose.
      In den Niederlanden, das in diesem Jahr den EU-Vorsitz führt, gilt Entbürokratisierung als eine der wichtigsten politischen Aufgaben überhaupt – und ist damit auch zentrales Thema des niederländischen Ratsvorsitzes.
      J. C. M. Nijland, Beamter des Finanzministeriums in Den Haag, spielt bei den Aufräumaktionen eine besondere Rolle. Seit 1994 versuchen die Niederländer, ihre Bürokratie effizienter zu gestalten. Entpolitisierung ist dabei ein Schlüssel, und der lässt sich, sagt Nijland, am besten „durch massive persönliche Verantwortung der Mächtigen erreichen“. 14,5 Milliarden Euro pro Jahr kostet die Wirtschaft die niederländische Bürokratie – und das ist genau das Plansoll, das in vier Jahren eingespart werden soll – 25 Prozent pro Jahr. Jeder Minister ist für das von ihm verantwortete Budget persönlich verantwortlich. Selbstverständlich kann ein Minister, der sich verrechnet oder verschätzt, ein paar Milliarden Miese nicht durch den Einsatz seines Häuschens wieder gutmachen. Aber: Ein Ressort, das durch zu viele Gesetze und Verordnungen Folgekosten verursacht, muss damit rechnen, dass ihm die Rechnungsprüfer der Entbürokratisierungs-Kommission, recht anschaulich als Watchdogs bezeichnet, dies am Jahresende vom Budget abziehen. Deshalb streichen die Minister und ihre Spitzenbeamten an Gesetzen und Verordnungen, was das Zeug hält, „und zwar so, dass nicht die Aufhebung einer Verordung wieder als neue Verordnung daherkommt – und kostet“, sagt Nijland. Das Verhältnis zwischen Watchdogs und Beamten sei, „na ja, sagen wir mal nicht besonders freundschaftlich“. Aber immerhin: Dem Bürger werden viele Kosten erspart. Und gleichzeitig, verweist Nijland auf Umfragen im Land, „steigt das Ansehen der Beamten wieder – sie sind keine sozialen Außenseiter mehr“.
      In Dänemark setzt man vor allem auf die Entlastung von Ballast. Tempo und Klarheit, früher mal Tugenden funktionierender Bürokratien, sollen dadurch gesteigert werden. Stolz sind die Dänen etwa darauf, dass sich jeder, der will, in 20 bis 30 Minuten per Internet als Unternehmer anmelden kann – zumindest dann, wenn es sich um simple Kleinunternehmen des Handels, Dienstleister wie Pizzaservices, ein Computerhandel oder Botendienste, handelt. Der Ausgangspunkt ist eine Website, auf der der Staat seine Dienstleistungen anbietet – klar und für alle Lebenslagen, nicht nur für Unternehmer. Ob Autoanmeldung oder Wohnsitzverlegung, Firmengründung oder Heirat – ein verständlicher Einstiegspunkt für alle.
      Des Weiteren genieren sich die Dänen nicht, Gesetze auf Zeit zu erlassen: „Bei einigen Dingen muss man eben prüfen, wie sie sich entwickeln, und man braucht gesetzliche Instrumente, um etwas rasch zu ändern, wenn es sich als falsch oder halb gar herausstellt“, sagt Lydia Joergenssen, Entbürokratisierungs-Beauftragte des dänischen Wirtschaftsministeriums in Kopenhagen.
      Der springende Punkt aber, weiß die Bürokratie-Expertin, „ist die Kommunikation. Alle Bürger müssen verstehen, was wir meinen. Das muss ganz klar sein, leicht verständlich, leicht umsetzbar. Das verstehen wir unter Gerechtigkeit und Demokratie.“ Man kann leicht erkennen, welche Chancen in solchen Vorhaben liegen: Zum einen eine den Zeiten angemessene Verwaltung, die Dienstleistung und Problemlösung offeriert, statt die bürokratischen Müllhalden des Umverteilungsstaates weiter zu mehren. Das neue System, das das alte überwinden kann, schafft aber auch wieder mehr Respekt zwischen Staat und Bürger.
      Vieles von dem, was die europäischen Nachbarn unternehmen, steht auch auf der deutschen Agenda. Doch nicht Worte, sondern die Motive – die Gründe, die zur Entbürokratisierung treiben – sind andere. Wer die dänischen, englischen, schwedischen und niederländischen Entbürokratisierungsprogramme liest, der versteht, dass es hier vor allem um eines geht: den Bürgern ihren Staat noch besser einzurichten, damit sie damit glücklicher sind. Es geht in keinem der Programme vorwiegend um Personalabbau, sondern um eine Optimierung des Staatswesens, eine Transformation vom Staatsdiener zum Dienstleister.
      Die deutschen Entbürokratisierungsmaßnahmen hingegen sind ein liebloses Zahlenwerk: Das Geld ist alle – und deshalb gibt es Diät. Mit Einsicht hat das nichts zu tun.
      Falsche Motive führen aber auf den falschen Weg.

      VI. MASTERPLÄNE

      Mit Fug und Recht könnte man behaupten, dass auch deutsche Gesetze nur eine kurze Halbwertszeit haben – und damit im Grunde derselbe Zustand erreicht wäre wie etwa in Dänemark. Doch während die Bürger im Norden darüber abstimmen, ob sich ein Gesetz im Alltag bewährt, ist Bürgerbeteiligung hier zu Lande bei der Frage, wie der Staat organisiert wird, weiterhin tabu.
      Das Motiv ist einsichtig: Alles soll so bleiben, wie es ist, nur eben für weniger. Deshalb arbeiten immer weniger aktive Beamte an immer mehr Verordnungen und Gesetzen, an deren Nachbesserung und neuerlicher, ebenfalls wenig aussichtsreicher Anpassung an das, was für die Realität gehalten wird.
      So ist es nicht überraschend, dass die seit Jahren immer nervöser vorgebrachten Entbürokratisierungsmaßnahmen zu nichts weiter geführt haben als zu einem planlosen Nach- und Umlöten des Systems.
      Und das ist nicht nur teurer als je zuvor, sondern geht nun auf breiter Front an die Existenz vieler Unternehmen.
      Das Bonner Institut für Mittelstandsforschung (IfM) hat im Vorjahr eine beeindruckende Studie dazu vorgelegt. Insgesamt 17 491 Unternehmen wurden vom IfM ausführlich nach ihren Aufwendungen für Bürokratie befragt. Das Resultat zeigt eine weitere Verschlechterung der Lage gegenüber einer vergleichbaren Befragung, die das Institut vor acht Jahren durchgeführt hatte. Seitdem sind die Bürokratiekosten für die Firmen um mehr als ein Viertel gestiegen. Und schon damals galt die eiserne Regel: Je kleiner eine Firma, desto teurer kommt sie die Bürokratie zu stehen. Eine in Bayern durchgeführte Studie beziffert den Anteil der Bürokratiekosten kleiner und mittlerer Unternehmen auf 1,5 bis drei Prozent des Umsatzes – so viel, wie durchschnittlich in Betrieben mit weniger als 100 Mitarbeitern an Rendite hängen bleibt.
      Die Zahl der kleinen und mittleren Unternehmen, die sich von der deutschen Bürokratie „sehr stark“ belastet fühlen, hat sich von 1994 bis 2003 nahezu verdoppelt. Vor allem Steuer-, Arbeits- und Sozialrecht sind die Horrorbegriffe, mit denen staatliche Bürokratie verbunden wird. Und auch ganz klar zeigt sich: Nicht allein der Umstand, dass Steuern und Abgaben gezahlt werden müssen, belastet die Etats der kleinen Unternehmen bis zum Kollaps. Es ist das hysterische Reformgehopse des altersschwachen Systems, das den größten Schaden anrichtet.
      Michael Höfmann, Geschäftsführer der Hengstenberg GmbH, einem mittelständischen Unternehmen der Automobilbranche in Essen, erläuterte im Oktober 2003 im Berliner Wirtschaftsministerium den Spitzenbeamten, was das konkret bedeutet: „Wir zahlen zwischen sieben und zehn Prozent nur an Verwaltungskosten dafür, dass wir neue Gesetze nachvollziehen. Als wir eine Lagerhalle für Autoteile bauen wollten, haben wir allein zehn Monate – von Juli bis April des nächsten Jahres – mit Genehmigungsverfahren zu tun gehabt. So zieht sich das durch.“ Auch teure Berater bringen längst nichts mehr, hat Höfmann erfahren müssen. Schon ein scheinbar simpler Gesellschaftervertrag kann zur Falle werden: Weil die Steuerberater die zeitliche Reihenfolge der dafür abzuschließenden Verträge verwechselten – ohne dass dabei das Geringste verschwiegen, verbogen oder unterschlagen wurde –, musste das Unternehmen eine siebenstellige Summe mehr an Steuern bezahlen.
      Die zuständigen Beamten bedauerten den Vorfall – vor allem aber auch den Umstand, dass ihnen durch Gesetze, die sie selbst für absurd halten, keine Wahl gelassen wird.
      Gnadenlos muss exekutiert werden, was die Politik voll verantwortet, aber längst nicht mehr begreift. Der Esslinger Steuerberater Peter Bürkle sieht im berüchtigten deutschen Steuerrecht mehr als nur eine Ansammlung „handwerklich schlechter Lösungen: Wir haben einen Zustand erreicht, wo das System nicht mehr reformierbar ist. Es funktioniert nicht mehr.Unklarheit ist gleich Ungerechtigkeit – und das ist es, was die Bürger wirklich wahrnehmen.“
      Ein System, das keiner versteht und überschaut, ist mehr als ein Ärgernis. „Wer nicht vereinfacht und diesem Wahnsinn ein Ende macht, beschädigt die Demokratie.“

      VII. GOOD FELLAS

      Gerecht ist das System ohnehin längst nicht mehr.
      So liegen die aktuellen Bürokratiekosten für die deutsche Wirtschaft – Stand 2003, Tendenz steigend – bei rund 46 Milliarden Euro. Davon schultern Konzerne und Großunternehmen allerdings nur etwas mehr als sieben Prozent – was in keiner Relation zu deren Stärke steht. Und ganz genau: Die Bürokratiekosten für einen Mitarbeiter in einem Konzern betragen weniger als ein Sechstel dessen, was ein Werktätiger in einem kleinen oder mittleren Unternehmen kostet.
      Auch das ist nicht paradox, sondern logisch.
      Schon Max Weber definierte sein Bürokratiebild vor hundert Jahren nicht allein durch die Beschreibung öffentlicher Bediensteter und Staatsdiener. Das Verwaltungspersonal von Konzernen, Versicherungen und Banken, so schien dem Anatomen des Kapitalismus schon damals glasklar erkennbar, verrichte ein und dieselbe Aufgabe. Und auch das Ziel sei gleich: Systemerhaltung, um jeden Preis und heute außerdem: auf Kosten der anderen. Die Gesetze des Industriestaates waren stets auf vierfach XXL ausgelegt. Je größer, desto kompatibler.
      Das zählt.
      „Staaten und große Unternehmen unterscheiden sich wenig“, sagt Professor Thomas Straubhaar, Präsident des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Archivs, „sie sind das Ergebnis ein und desselben Prozesses.“
      Und um den zu verstehen und zu verbessern, müsste man einmal grundsätzlich darüber nachdenken, sagt Straubhaar, weshalb es Firmen überhaupt gibt. „Man muss sich mal fragen, warum braucht man eigentlich Unternehmen, die nichts weiter sind als die Bürokratie der Wirtschaft? Es könnte doch alles der Markt regeln. Das Problem ist nur: Der Kapitalismus des Individuums hat seine Grenzen.“

      VIII. DIE ENDPHASE

      Das Individuum mag heilig sein – wirklich praktisch aber ist das Leben als Einzelgänger nicht. Denn für Menschen gilt, was auch im Industriekapitalismus das Nonplusultra ist: Economy of Scale, die Wirtschaft der großen Masse.
      Die Menge machts.
      Es geht hier nicht um den Einzelnen. Es geht um seine Handhabbarkeit. Schulbildung. Steuerrecht. Arbeitsrecht. Rente. Gesundheit. Lohnbüro. Sogar das persönliche Dokument, vermeintlich das unverwechselbare äußerste Merkmal einer Person: Alles sind Produkte der Standardisierung, der Norm.
      Der entscheidende Erfolgsfaktor des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, liegt in der enormen Kraft, den Standards und Normen haben – „der Markt kann eben nicht nur über Preise und Preissignale das optimale Ergebnis generieren“, so Straubhaar.
      Bürokratie und die Verwaltung großer Konzerne, das so genannte Management, sind zwei Teile ein und desselben Systems. Für Staat und Manager sind starke Hierarchien, starke Bindungen und starke Kontrolle die wichtigsten Tugenden und Eigenschaften. Nicht der unberechenbare Markt diktiert die Gesetze – sondern die Norm, zumindest solange sie dazu taugt.
      Genau das aber ist kein Dauerzustand, meint Straubhaar: „Jede Economy of Scale, also typischer Industriekapitalismus, zieht mehr Bürokratie nach sich. Und das wiederum erzeugt Sozialstaatlichkeit, denn zur Aufrechterhaltung der Standards und Normen braucht man ruhige, scheinbare sichere Verhältnisse. Irgendwann kostet dann die Bürokratie, die nötig ist, um die Economy of Scale zu organisieren, mehr, als an Erträgen da ist.“ Die unausbleibliche Konsequenz für das System kann Straubhaar präzise benennen: „Das Ding frisst sich selbst.“
      Das System geht kaputt, und Innovatoren können sich durchsetzen, bis sie – eine hundertprozentige historische Erfahrung – wiederum durch Bürokraten abgelöst werden, die die neu geschaffenen Standards und Normen verwalten. Das Leben ist eben kein ruhiger Fluss. Es pulst.

      IX. SCHUMPETER

      Demnach gibt es kein perfektes System, das immer das richtige tut, sondern Zyklen und Wellentäler. Die Heftigkeit der Bergund Talfahrten aber ist abhängig davon, wie die jeweiligen Systeme optimiert werden. Das macht den Unterschied aus zwischen neu und ungewohnt oder alt und krank.
      Die Frage nach der Systemoptimierung hier und heute ist nichts anderes als die Frage, mit welchen Mitteln das bestehende System so verändert werden kann, dass es alle Beteiligten – die Rede ist von uns allen – nicht allzu heftig durchschüttelt.
      Im Neusprech heißt das Reform.
      Straubhaar: „Dass sich Systeme nicht von selbst ändern, ist leider die bisherige historische Erfahrung. Der Status quo ist eine üble Illusion. Jeder findet den Spatz in der Hand besser als die Taube auf dem Dach, einfach deshalb, weil man, um zur Taube zu kommen, sich auch mal hochbemühen muss.“
      Hinzu kommt, dass sich über die Reform diejenigen unterhalten, die so tief im System stecken, dass sie gar nicht bemerken können, wo es hakt. „Dass sich Gerhard Schröder und Peter Hartz gut verstehen, ist klar. Sie kommen aus derselben Welt, die der großen Strukturen.“ Für eine wirkliche Änderung aber braucht es das, was Straubhaar den „Schumpeterschen Politiker“ nennt.
      Der ist ein kühler, planender, selbstloser Kopf. Den von dem Ökonomen Joseph Schumpeter gezeichneten „zerstörerischen Unternehmer“, der reinen Tisch, Tabula rasa, macht, um dem Neuen zum Durchbruch zu verhelfen, brauchte man als Staatsmann. Doch dafür braucht es nicht nur Mut, sondern auch gute Gründe. Denn es ist nicht so einfach, ein Schumpeter zu sein. Einfach zerstören ist nicht der Job. Man muss nicht nur das Schlimmste verhindern wollen. Ein Schumpeter will vor allem eines: das Beste.
      Resolut, radikal und rasch – so haben einige Systemsanierer in der Politik zugelangt. Margaret Thatcher in Großbritannien oder David Lange, der ehemalige Premierminister Neuseelands. Und dennoch trennen die beiden Welten. Thatchers Motiv war keineswegs, die beste aller britischen Gesellschaften zu formieren, sondern den Zusammenbruch der alten Gesellschaft zu verhindern – koste es, was es wolle. Lange, der scheinbar ähnlich radikal vorging, hatte eine Vision im Kopf, die einen Neuanfang für sein Land ermöglichen sollte. Beide Systemsanierer haben ihr Ziel erreicht. Saniert sind beide Länder, zumindest, was ihre Volkswirtschaften angeht. Wer aber die Chancen und Möglichkeiten der Bürger der beiden Staaten miteinander vergleicht, das allgemeine soziale Klima als ebenso bedeutend nimmt wie relativ anständige Haushaltszahlen, der findet Schumpeter wohl eher in David Lange. Egal wie – wer als Systemzertrümmerer auftritt, der wird in der Normalität, die er auf neue Grundlagen stellen wird, nicht geliebt. Das galt für Thatcher wie für Lange, die beide nach dem Tischabräumen abgewählt wurden. „Ein politischer Schumpeter kann nicht gleichzeitig ein geliebter Führer bleiben – das geht nicht zusammen“, sagt Straubhaar.
      Schließlich fresse die Revolution ihre Kinder nicht aus Jux und Tollerei, sondern aus schierer Notwendigkeit. Politisch legitimiert dazu ist zumindest jeder, der den Eid auf die Verfassung abgelegt hat – zum Wohl der Republik und seiner Bürger, denn das steht auf dem Spiel. Kurz und gut: Wer damit leben kann, nicht bei allen beliebt zu sein, aber das Richtige zu tun, der hat eine tolle Gelegenheit, „Geschichte zu machen, über den Tag hinaus“, findet Strauhaar.
      Der Ökonom weiß aber auch, dass Geschichte so oder so gemacht werden kann. Denn wer zu spät vom System abspringt, den trifft die nächste Woge mit voller Wucht – „und nicht immer schön gemütlich, allmählich, auch wenn wir uns das ganz fest eingeredet haben. Auch bei uns ist ein Implosionseffekt vorstellbar, wie der, der die DDR innerhalb weniger Wochen zerstörte.“
      Zumindest die Wahl, die der schumpetersche Politiker dabei treffen kann, wäre damit klar.
      Entweder Held. Oder Honecker.__//
      Avatar
      schrieb am 30.06.04 22:59:22
      Beitrag Nr. 2 ()
      Also dann - auf gehts !

      Packen wir´s an !:laugh:
      Avatar
      schrieb am 01.07.04 00:29:07
      Beitrag Nr. 3 ()
      Sehr schön beschrieben und auch wahr :eek:

      Nur ob sich bei unserem Filz noch was tut :confused:

      :cry::cry::cry:

      Ist ja keiner mit Mumm da der sich fressen lassen will, nur Weicheier die sich als Mahlzeit verschieben lassen wollen :mad::cry::mad::cry:


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