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    Der Papst der Wall Street - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 30.10.04 23:52:33 von
    neuester Beitrag 31.10.04 11:09:31 von
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      schrieb am 30.10.04 23:52:33
      Beitrag Nr. 1 ()
      Der Papst der Wall Street

      John Slade ist 96 Jahre alt und arbeitet immer noch vier Tage in der Woche. Früher hieß er Hans Schlesinger. Doch dann kamen die Nazis, und der Jude mußte fliehen

      von Peter Herkenhoff

      Ein alter Mann sitzt in einem Großraumbüro, inmitten von Computern und knapp 300 jungen Männern. Er starrt auf einen Monitor, über den Börsenkurse und Finanznachrichten laufen, so wie auch bei den anderen. Mit einem Unterschied: Die Schrift auf dem Monitor des alten Mannes ist größer. John Slade sieht nicht mehr so gut. Im Mai ist er 96 Jahre alt geworden.
      Heute morgen ist Slade um halb sechs aufgestanden und hat eine halbe Stunde auf dem Trimmrad gestrampelt. Anschließend ist er zur Arbeit gegangen, zu Fuß, 20 Blocks. Das macht sonst kaum jemand in New York. Slades Büro ist in der Madison Avenue, in der Zentrale des Wall-Street-Handelshauses Bear Stearns. Viermal pro Woche kommt er, jeweils von neun bis zwei. Länger nicht, das hat er seiner Frau Marianne versprochen. Slade ist "Ehrengeschäftsführer" bei Bear Stearns, früher leitete er das internationale Wertpapier- und Arbitragegeschäft. Sie nennen ihn den "Papst der Wall Street". Nach New York kam er 1936, ein paar Jahre später änderte er seinen Namen. Da wurde Hans Schlesinger, deutscher Jude aus Frankfurt am Main, zu John Slade, amerikanischer Staatsbürger.
      Ab und zu trifft sich John, wie ihn hier alle nennen, mit Journalisten im sechsten Stock zum Mittagessen im feinen Executive Restaurant. Slade nimmt stets am selben Tisch Platz. Von Genießen kann keine Rede sein. Hastig ißt er den Salat, auch die Hauptspeise kaut er im Eiltempo. Zwischendurch erzählt er aus seinem Leben. Episoden, Mosaiksteine. Lieber würde er vor seinem Monitor sitzen. So oft hat er seine Geschichte erzählt, hat sie für die inzwischen eingestellte Emigrantenzeitschrift "Aufbau" auch aufgeschrieben. Daß er in den Gaskammern ermordet worden wäre, hätte er Deutschland nicht rechtzeitig den Rücken gekehrt. Wie er sich an der Wall Street hochgearbeitet hat. Daß er in seinem Leben vor allem eins hatte: Glück. Nach einer dreiviertel Stunde steht Slade auf, zieht sich den Nadelstreifenanzug zurecht und verabschiedet sich. Er müsse pünktlich zurück zur Arbeit.
      Als Slade noch Schlesinger hieß, galt er als einer der besten Hockeyspieler Deutschlands, war Torwart beim SC Frankfurt. Wie gern wäre der damals 27jährige bei den Olympischen Spielen in Berlin dabeigewesen. Doch mit der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten im Januar 1933 platzt dieser Traum. Kurze Zeit später weigert sich die Mannschaft des HC Heidelberg, gegen Schlesingers SC anzutreten. Man spiele nicht gegen einen Juden, heißt es zur Begründung. Statt sich hinter "Schleo" zu stellen, läßt der Club seinen Torwart fallen. Der tritt sofort aus dem Verein aus, mit dem er zuvor Turniere in England und Frankreich bestritten hatte.
      Als Schlesinger Anfang 1936 im Radio hört, daß Juden nach Inkrafttreten der Nürnberger Rassegesetze verhaftet werden, wenn sie ein "arisches" Mädchen küssen, packt er seinen Koffer. Oscar Oppenheimer gibt ihm ein Empfehlungsschreiben auf die Reise. Bei der Oppenheimer-Bank in Frankfurt ist Schlesinger 1926, gleich nach dem Abitur am Goethe-Gymnasium, in die Lehre gegangen. Einen Tag nach der Ankunft in New York hat er schon den ersten Job. Ein Neffe von Oppenheimer, Winfried, arbeitet bei dem damals noch kleinen Brokerhaus Bear Stearns und heuert ihn an. Als "Runner" verdingt er sich auf dem Parkett. Von den 15 Dollar, die er pro Woche als Laufbursche verdient, kann man aber schon damals in New York nicht leben. Der gelernte Bankkaufmann weiß, daß vor allem das Kommissionsgeschäft lukrativ ist. Ende der 30er Jahre geht er oft zum Hafen, schaut sich die Passagierlisten an und sucht unter den Hunderten Flüchtlingen, die jeden Tag nach New York strömen, nach deutsch klingenden Namen. Bald hat er sich einen kleinen Kundenstamm aufgebaut und betreut fortan Schweizer Konten von deutschsprachigen Immigranten
      Slade hat seine letzten Kunden 1990 abgegeben. Heute kümmert er sich nur noch um sein eigenes Depot. Dort schlummern etwa 200 000 IBM- und 350 000 Bear-Stearns-Aktien. Heutiger Papierwert: rund 50 Mio. Dollar. Der "ewige Optimist" hält aber auch viel von alternativen Geldanlagen. In seiner Wohnung in der Park Avenue hängen 25 Gemälde von Picasso und Marc Chagall. Nebenher gibt er einen Börsenbrief heraus, ein Wochenrückblick zum Auf und Ab an den Finanzmärkten. "John Speaking" heißt er. Mr. Slade spricht nur noch Englisch. Seine Muttersprache ist zwar dank des hessischen Akzents noch immer herauszuhören, doch in der Öffentlichkeit spricht er kein Deutsch mehr.
      Im Jahr 1941 entschied sich Schlesinger für den amerikanischen Allerweltsnamen Slade. Seine Arbeitgeber fürchten, daß Schlesingers deutscher Name bei potentiellen Kunden Ressentiments hervorrufen könnte. Anfang der 40er Jahre floriert der Handel mit in Dollar notierten Unternehmensanleihen aus Europa. Viele Amerikaner wollen ihr Geld in Sicherheit bringen und verkaufen ihre Bonds aus Norwegen, Dänemark oder Estland. Schlesinger macht sich als "Shortseller" einen Namen: Er leiht sich Anleihen, verkauft sie in der Erwartung, daß der Kurs fällt - und kauft sie dann billig zurück. Die Differenz streicht er für seine Bank als Gewinn ein. Sein bestes Geschäft macht er im Frühjahr 1941. Am 9. April bietet er der Norske Bank in Oslo für 200 000 Dollar norwegische Staatsanleihen zum Nominalwert von 100 Punkten an. Die Papiere sind mit einem Zinskupon von sechs Prozent versehen und werden 1944 fällig. Am nächsten Morgen bestätigt die Bank telegrafisch den Handel. Noch am selben Tag marschiert die Wehrmacht in Norwegen ein. Die Kurse der Anleihen stürzen ab und Slade kauft die Papiere beim Kurs von 60 zurück.
      Das Geschäft bringt Bear Stearns einen Gewinn von 80 000 Dollar ein - und dem Händler eine Standpauke von seinem Chef, Winfried Oppenheimer. Denn bei einem anderen Handel hat Schlesinger gleichzeitig 400 Dollar verloren. Er versteht die Welt nicht mehr und kündigt. Das bekommt Ted Low mit, ein anderer Bear-Stearns-Manager. Der bietet ihm daraufhin an, als stellvertretender Chef in der neuen Abteilung "Risikoarbitrage" anzufangen. Damals werden gerade Teile des New Yorker Eisenbahn- und U-Bahnnetzes verstaatlicht. Schlesinger managt die Transaktion: Die Aktionäre des Schienennetzes bekommen zum Ausgleich Kommunalanleihen von New York City.
      Nach dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 wird sein Chef zur US-Armee eingezogen - und Slade steigt zum Abteilungsleiter auf. Er verdient genug Geld, um seine Eltern, seine Schwester, seinen Bruder und Schwager vor den Nazis zu retten. Der väterliche Betrieb Israel Schmidt Söhne, eine der größten Immobilienfirmen im Deutschen Reich mit Niederlassungen in Frankfurt und Berlin, hat da schon den Besitzer gewechselt, sie gehört heute zu Dröll & Scheuermann in Frankfurt. Auf eine Entschädigung hat Slade verzichtet: Lorenz Scheuermann hatte die Firma von Slades Vater 1939 im Zuge der "Arisierung" übernommen, Slades Eltern aber auch falsche Papiere besorgt und die Flucht nach Übersee arrangiert.
      Manches aus seinem Leben spart Slade aus. Was er nicht erzählt: 1942 meldete er sich freiwillig zur US-Armee. "Wenn Jungs aus Missouri, die nicht wissen, wer Hitler ist, zum Wehrdienst eingezogen werden, muß ich es erst recht tun", hat er einmal gesagt. In Deutschland verhörte er deutsche Kriegsgefangene. Und überredete kurz vor Kriegsende eine SS-Hundertschaft, freiwillig aus ihrem Versteck in einem bayerischen Schloß herauszukommen. Damit verhindert er ein Blutbad. Zurück in den USA wird ihm dafür der "Bronze Star" verliehen, für Tapferkeit vor dem Feind. Slade verschweigt auch, daß er nach der Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 ein Kriegsgefangenenlager im bayerischen Eggenfelden übernahm. 1972 schrieb ihm ein Rechtsanwalt aus Mannheim nach New York. In dem Brief bedankte sich der Mann im Namen einer Reihe von Kriegsgefangenen für die stets korrekte und ordentliche Behandlung.

      Slade ("Arbeite hart, sei ehrlich und loyal!") ist länger als sonst jemand bei Bear Stearns. Im Laufe der vergangenen 68 Jahre ist ihm ein halbes Dutzend besser bezahlter Jobs angeboten worden. Die hat er jedoch stets dankend abgelehnt. Seine Treue zu seinem Arbeitgeber hat sich ausgezahlt. All die Firmen, die Slade anheuern wollten, sind längst wieder vom Markt verschwunden. Bear Stearns dagegen, Slade sagt es voller Stolz, hat sich von einem 50-Mann-Broker zu einem Konzern mit mehr als 10 000 Mitarbeitern entwickelt.
      Auf dem Schreibtisch in seinem Büro stehen Pokale und Auszeichnungen, Urkunden und Orden hängen an der Wand. Das wiedervereinigte Deutschland hat ihm im Februar 1990 das "Bundesverdienstkreuz 1. Klasse" verliehen. Weil er die Wiedervereinigung unterstützt hat. Und weil er in den Nachkriegsjahren einige Hundert Banker von überall auf der Welt zur Ausbildung an die Wall Street geholt hat, darunter auch viele Deutsche. Der frühere deutsche Generalkonsul Leopold Bill von Bredow lobt, daß Slade seine Herkunft nie verleugnet habe, obwohl er gezwungen worden sei, seine Heimat zu verlassen. Vor fünf Jahren hat ihn der Frankfurter Sportclub zum Ehrenmitglied ernannt. Schon in den 50er Jahren hatte Slade wieder Kontakt aufgenommen zu dem Verein, bei dem er früher im Tor stand. Wer nachträglich mit so viel Lob überschüttet wird, ruft natürlich auch Neider auf den Plan. Anonyme Kritiker haben Slade vereinzelt vorgeworfen, daß es ihm in den Nachkriegsjahren weniger um Versöhnung gegangen sei als vielmehr ums Geschäft. Seine Freunde und Bewunderer wollen davon freilich nichts wissen. Zuletzt verbeugte sich sogar die New Yorker Börse vor ihrem dienstältesten Broker. Anläßlich seines 95. Geburtstags am 30. Mai 2003 läutete die lebende Wall-Street-Legende John Slade um 16 Uhr Ortszeit in New York die Schlußglocke.
      Doch der stolzeste Moment seines Lebens, sagt John Slade, war im Sommer 1948, in London. Slade war 40 Jahre alt und einer der ältesten Olympia-Teilnehmer. Für die Hockey-Nationalmannschaft der USA stand er im Tor. Und 120 000 Menschen sahen zu, wie er verlor. Nicht ein Spiel gewannen die Amerikaner damals im Wembley-Stadion, Slade trug zudem eine Kopfverletzung davon. Aber den Jubel der Leute, sagt Slade, den werde er nie vergessen.

      Artikel erschienen am Sa, 30. Oktober 2004



      Grüssels
      Tippgeber;)
      Avatar
      schrieb am 31.10.04 11:09:31
      Beitrag Nr. 2 ()
      Respekt und Hut ab.


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