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    Gute Nacht, Deutschland - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 16.09.05 22:52:46 von
    neuester Beitrag 26.09.05 13:43:18 von
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      schrieb am 16.09.05 22:52:46
      Beitrag Nr. 1 ()
      weil es zum Phantom-Schmerz Thread passt:

      ROGER WILLEMSEN
      Gute Nacht, Deutschland!, Quelle: espace.ch
      Deutschland wird vor den morgigen Neuwahlen nur noch durch die politische Brille wahrgenommen. Sieht man so das wahre Deutschland?

      Es gibt sie noch die schönen deutschen Landschaften, aber der Plattenbau erschwert die Suche nach ihnen. / Keystone

      Der Autor und Fernsehmann Roger Willemsen ist auf der Suche nach der deutschen Seele monatelang durch die Provinz bis zu den Menschen an Deutschlands Rändern gereist. Sein Befund: die Deutschen leiden an «Mentalverstimmung» und trotziger Arbeitsmoral.

      Herr Willemsen, kann man derzeit über Deutschlands Lage reden, ohne über Politik zu sprechen?

      Roger Willemsen: Im Augenblick bildet sich das Land ein, es sei hochpolitisiert. Aber das ist eher ein Strohfeuer. Der Deutsche giesst momentan das Missbehagen, das er generell an der Welt und an ihrer Einrichtung hat, in lauter politische Formeln. Aber ich bin nicht ganz sicher, ob die Politik bei den Leuten so tief geht, wie es gegen aussen deklariert wird.

      Deutschland wird derzeit ausschliesslich durch die politische oder wirtschaftliche Brille wahrgenommen. Ist das ein verengter Blick, dem vieles entgeht?

      Zum ersten Teil ihrer Frage: Es charakterisiert Deutschland, – und zwar auf eine wenig sympathische Weise –, dass es Wirtschaftsfragen, Wachstumsraten oder die Staatsverschuldung gerne zu Fragen der seelischen Gesundheit erhebt. In Deutschland hat sich eine Art Neokonservatismus durchgesetzt, bis ins Geistesleben. Es gibt in Berlin ein geradezu schickes Lebensgefühl des Konservatismus, das sich auf die Familie, die Schönheit der deutschen Fahne und die Harmonie der Nationalhymne bezieht. Wir befinden uns in einer Phase, in der linksliberales Denken aus der Öffentlichkeit verschwindet und amerikanische Verhältnisse Raum greifen.

      Unter dem konservativen Deckel gibt es offenbar noch ein anderes Deutschland. Wo findet man es?

      Ich glaube, dass man das Land an seinen eigentlichen Lebensbedingungen erkunden muss. Man muss also reisen. In den Osten, in Schlachthöfe und Arbeitsämter. Solche Erkundungen würden dem Lande ganz gut tun. Denn der politische Diskurs war schon lange nicht mehr so weit weg von der Lebenswirklichkeit der Menschen.

      Sie sind in die deutsche Provinz gereist und haben darüber das Buch «Deutschlandreise» geschrieben. Haben Sie das wahre Deutschland gefunden?

      Das «wahre Deutschland» tönt etwas naiv und romantisch. Wir glauben ja zu wissen, dass wir das Land kennen, in dem wir leben. In Wirklichkeit nehmen wir es auf durch unsere soziale Gruppierung oder die Zeitungen, die wir lesen. Ich habe auf meiner Reise versucht, mich treiben zu lassen und möglichst vorurteilslos reine Anschauung zu sammeln.

      Das erinnert an den Blick, dem im Ausland nationale Insignien auffallen: die etwas anderen Fensterrahmen, Strassenlampen, Haarschnitte. Was für typisch deutsche Insignien fielen Ihnen auf?

      Das lackierte Täfelchen in der Gaststube, auf dem eine Lebensweisheit oder ein Scherz steht. Wenn man in der Provinz durch eine gut bürgerliche Siedlung geht, fallen einem viele Indizien für ein Sicherheitsbestreben auf: Zäune, Scheinwerfer, Sicherheitsanlagen. Gleichzeitig ist Deutschland ein hoch designtes Land. Der Wohlstand wird offensiv demonstriert. Die Leute staffieren sich mit technischen Geräten aus und tragen Kleider von teuren Labels. Bei den jungen Deutschen fallen mir die Tätowierungen auf, die ihnen offenbar etwas Verruchtes geben sollen. Dem Tattoo über dem Becken sagt man mittlerweile «Arschgeweih». Im Geweih ist das Spiessige drin, das die Tätowierung inzwischen bekommen hat. Auf meiner Reise habe ich mich auch gefragt, wie viel Heiterkeit zu beobachten ist, wie viel die Menschen miteinander reden und über welche Themen.

      Und was ist Ihr Befund?

      Dass das Land an einer grossen Mentalverstimmung leidet. Die Menschen debattieren mehrheitlich über ihr Leiden an Gebühren und Tarifen. Man kann tagelang durch Deutschland fahren, ohne in einem Kneipen- oder Zugsgespräch den Namen eines Films oder eines Buches zu hören. In den Randzonen Deutschlands hatte ich das Gefühl, es finde ein Übergang von der Zivilisation zur Natur statt.

      Wie sieht das konkret aus?

      Am Stadtrand von Frankfurt an der Oder, direkt an der polnischen Grenze, trifft man auf Menschen, die von Hand in der dreckigen Oder Fische fangen wollen. Oder mit der Handkante Kaninchen jagen. Sie sind aus dem System der Sozialfürsorge, der Erziehung und Unterhaltung rausgefallen und haben sich auf eine vollkommene Verwahrlosung eingestellt. In Frankfurt sieht man am Morgen Menschen mit asthmatischen Hunden am Kiosk stehen, ein Dosenbier trinken und über die Ausländergefahr reden. Wenn man dann über die Oderbrücke ins polnische Slubice fährt, trifft man dort auf eine freundliche, reinliche Ortschaft mit einem regen Stadtleben. Es ist eine verkehrte Welt. Slubice ist so, wie man sich eigentlich Deutschland vorstellt, Frankfurt aber so, wie einst Polen war.

      Deutschland hat Löcher und Ränder, wo die Menschen abstürzen?

      Ja. Ich bin im Osten Deutschlands Menschen begegnet, die sagen: Gottseidank kommt niemand her und beschönigt unsere Situation. Es gibt dieses konservative Klischee der blühenden ostdeutschen Landschaften, das einst Helmut Kohl erfand und das mittlerweile auch Gerhard Schröder beschwört. Das ist bizarr, wenn man weiss, dass immer mehr Leute im Osten von einer Art Verelendung bedroht sind. Ganze Ortschaften überaltern. Es gibt Städte, die seit der Wiedervereinigung 100 000 Einwohner verloren haben. Die Hälfte ihrer Gebäude steht leer.

      Schriftsteller haben sich immer schon für die Provinz und die Ränder interessiert. Weil man dort kommende Erschütterungen spürt?

      Ja. Das zeigt sich gut in den Städten. In ihren Zentren verschwinden immer mehr Läden, weil sie die Mieten nicht mehr zahlen können. Es bleiben dort vor allem kapitalstarke Unternehmen – Finanzpaläste und Fastfoodketten –, die wenig Gemütlichkeit und Leben ausstrahlen. Die Stadtzentren verfallen gewissermassen von innen und verlieren ihr soziales Leben. An den Stadträndern aber entstehen Supermärkte, die die neuen Zentren und Herzen der Trabantenstädte werden. Um sie herum bewegt sich eine neue Gemengelage aus Zugezogenen, Hängengebliebenen und marginalisierten Existenzen.

      Sie stossen in Ihrem Buch immer wieder auf falsche, forcierte oder erkaltete Gefühle: An Stammtischen, in Sexshops, Striptease-Bars. Ist das ein gesamtdeutscher Befund des Lieblosigkeit?

      Das ist ein gutes Wort. Mir fiel auf, dass die zwecklosen Beziehungen zuerst verfallen. Rücksichtnahme, das Eingehen auf die Lebensgeschichten der anderen, das Zuhören. Dafür gibt es immer mehr digitale Kommunikation mit schnellen Ja-Nein-Impulsen. Deutschland ist sehr pragmatisch und unsentimental geworden. Es werden Ansprüche durchgesetzt und Verteilungskämpfe ausgetragen. Kürzlich flog ich nach Frankfurt, da erlitt jemand an Bord einen Herzanfall und starb. Die Maschine erhielt dann eine sofortige Landeerlaubnis. Da sagte mein Sitznachbar zu mir: «Endlich müssen wir mal nicht lange kreisen und kommen pünktlich nach Frankfurt.» Das ist ziemlich roh.

      Aber vielleicht ein Ausnahmefall?

      Mag sein. Was ich jedenfalls spüre, ist eine harte Grundstimmung, die lautet: Wir müssen mehr arbeiten. Damit kommt man in Deutschland immer an: Trauerarbeit, Liebesarbeit, den Urlaub abarbeiten, Lebenszeit absitzen… Dieses Prinzip der Effizienz wird auf alle Lebensbereiche übertragen, was sie natürlich zerstören kann.

      Hat es mit einer gewissen Unfreiheit in Deutschland zu tun? Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie sich seit der Wiedervereinigung die Freiheit in einen Freizeit-, Konsum- und Erlebniszwang verwandelt hat.

      Die Deutschen haben in keiner Phase ihrer Geschichte ein besonders leidenschaftliches Verhältnis zum errungenen Liberalen und demokratischen gehabt. Die Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten, die Innenminister Otto Schily seit dem 11. September 2001 erliess, hätte keiner seiner Vorgänger so leicht durchsetzen können. Die Deutschen haben das erstaunlich klaglos hingenommen.

      Spüren Sie eine traditionelle deutsche Obrigkeitsgläubigkeit, einen Gehorsam?

      Es ist schon so, dass der Deutsche gerne selber Behördencharakter annimmt. Der Gehorsam wird aber dadurch relativiert, dass man sich privat renitent findet. Im Stil: «Die da oben haben ja keine Ahnung mehr, wie wir leben.»

      Sie stossen in Ihrem Buch auf «Heimweh ohne Heimat». Ist Deutschland irgendwie die Seele abhanden gekommen?

      Zu den freundlichen Eigenschaften der Deutschen gehört das metaphysisch aufgewühlte Sehnen. Die Fähigkeit, sich zu entwerfen und im Konjunktiv zu denken. Das Gefühl des Heimwehs geht über jeden konkreten Ort hinaus. Das ist eine nationale Eigentümlichkeit der Deutschen. Heimat an konkreten Orten zu finden, wird aber immer schwieriger. Ich habe auf meiner Reise den Ort meiner Jugend besucht, ein früheres Bauerndorf bei Bonn. Was sagt einer, der vor sein Elternhaus tritt und dort eine Autobahnbrücke vorfindet? Sagt er dann noch, das ist meine Heimat?

      In der Literaturgeschichte gilt Deutschland als seelenvolles Land. Die deutschen Romantiker beschwörten die Seele in der Landschaft. Wo ist denn die deutsche Seele hingegangen?

      Die Seele ist heute ein untergeordnetes und unpraktisches Phänomen. Die Leute sagen: «Wir haben im Moment keine Zeit für sie.»

      Aber es gibt doch noch wunderschöne deutsche Landschaften, die durchaus beseelt aussehen.

      Es gibt noch romantische Landschaften, die wirklich Wallungen auslösen: das Rheintal, die schwäbische Alb oder die Insel Rügen. Aber es gibt in Deutschland auch eine Verlegenheit vor dem Schönen. Urdeutsche Schönheiten sind ja von den Nazis und schon vor ihnen politisch missbraucht worden. Vor allem in Westdeutschland wird die schöne Natur deshalb kritisch beäugt. In Ostdeutschland spüre ich eine unbefangenere Naturwahrnehmung. Überhaupt scheinen mir dort soziale Formen wie die Herzlichkeit stärker entwickelt als in den westlichen Städten.

      Das tönt pessimistisch. Sind die Deutschen nüchterne Skeptiker?

      Ich habe auf meiner Reise ein Experiment gemacht, weil ich mir selber nicht traute. Ich hielt in einer Innenstadt zu jedem Gesicht, das mir begegnete, das erste Adjektiv fest, das mir einfiel. Ich sagte innerlich dauernd: bitter, enttäuscht, missmutig…

      Die Deutschen leiden. Woran?

      Sie scheinen seit jeher unterwegs zu sein zu einer Erfahrung des Glücks, in dem sie aufgehoben und versorgt wären. Sie haben eine Vorstellung vom guten Hausvater, der sie an der Hand nimmt. Es ist ein grosses Sehnen nach Behütung.

      Sind die Deutschen nicht ganz erwachsen geworden?

      Vielleicht. Aber dann hätten sie den Charme des Pubertierenden oder des Unreifen. Die Deutschen sind aber nicht kindlich. Eher früh alt geworden. Es fehlt ihnen das Temperament, Glück zu empfinden. Freunde in Italien haben mir gesagt, dass die Restaurants dort nach den Attentaten des 11. Septembers geboomt haben, weil sich die Italiener sagten: «Jetzt gehen wir erst mal was essen.» In Deutschland aber gingen die Lokale nach dem 11. September flächendeckend ein. Die Katastrophe wurde beantwortet mit Selbstbeschränkung. Und deshalb wundert es einen nicht, dass die Parteien im Wahlkampf nun versprechen, die schwache Konsumlust anzukurbeln.

      Jetzt sind wir doch wieder bei der Politik gelandet.

      Aber vorher ist es uns doch ganz gut gelungen, nicht nur über Politik zu sprechen.

      Sie ärgern sich in Ihrem Buch, dass die Politik und die Demokratie in Deutschland auf die Stufe des einstimmig klatschende Saal- und TV-Publikums abgesunken sei. Das tönt nach Volksschelte.

      Ich bin allergisch auf rhythmisches Klatschen. Es ist ein kleiner Kollektivrausch der blinden Zustimmung. Allerdings klatschen nicht nur die Deutschen im Takt. Und ich kritisiere eher die Verführer als die Verführten. Mit den richtigen Verführungsinstrumenten kann man jedes Volk in seiner Meinung bewegen. In Deutschland geschieht das derzeit insbesondere durch die Zeitungen. Die meisten bewegen sich auf CDU-Kurs. Obwohl eine Mehrheit der Deutschen Schröder als Kanzler wiederwählen würde. Noch selten wurde eine Wahl in den Medien so unisono und gegen die Meinung des Volkes durchgepeitscht. Die Medien produzieren eine Art Kollektivstimmung über das, was man jetzt machen und denken muss. Ich finde, die Journalisten machen in dieser Wahl eine schlechtere Figur als die Kandidaten. Im TV-Duell Schröder-Merkel gab es für meinen Geschmack eine hohe Informationsdichte und hohen Sachverstand bei beiden Kandidaten. Die Journalisten aber schrieben wenig über die Inhalte, dafür umso mehr über Fragen der Inszenierung oder der Kleiderordnung. Gewisse Dinge haben sie schon gar nicht mehr zu sagen getraut: Etwa, dass zwischen Wachstum und Arbeit noch kein garantierter Zusammenhang besteht, dass also der Kapitalismus nicht einfach Arbeitsplätze schafft. Obwohl das beide Grossparteien versprechen.

      Sind parteiische Medien und wirklichkeitsferne Politiker schuldig an der viel beschworenen Politabstinenz der Deutschen?

      Ich würde in Frage stellen, ob es die Politabstinenz überhaupt gibt. Das Land ist in dem Sinn hochpolitisiert, als die Einschaltquoten für politische Sendungen glänzend sind. Ich rechne mit einer hohen Wahlbeteiligung. Ich glaube, dass es zum deutschen Nationalcharakter gehört, dass das Wählen zur Pflicht erhoben wird. Ich wundere mich allerdings über die entgrenzten Gesichter der Menschen, die Angela Merkel zuklatschen, als wäre sie Robbie Williams. Sie tun so, als würde sich ihr ganzes Leben verändern, wenn dieselben Verhältnisse wie vor sieben Jahren wiederhergestellt würden.

      Die Menschen bemühen sich zwar um die Politik, aber um eine falsche, die ihnen gar nichts nützt?

      Wir erleben eine Art Entfremdung von der Politik, wenn wir unter Politik die Gestaltung von Lebensverhältnissen verstehen. Denn es wird in der Politik mehr über Fragen des kosmetischen Erscheinens gesprochen als über Inhalte. Die Leute fragen gar nicht mehr: Was will ich? Welche Politik bringt mir etwas? Stattdessen überlegen sie: verstehen die sich da oben? Kommt die Koalition zustande? Kann Westerwelle Aussenminister werden, obwohl er schwul ist?
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      schrieb am 25.09.05 18:08:30
      Beitrag Nr. 2 ()
      Du bist Deutschland, Quelle: Junge Welt

      Wissen Sie, was Sie sind? Sie sind Deutschland. Moment, kein Grund, beleidigt zu sein! Wir können nichts dafür. Das haben die 25 größten Medienkonzerne der BRD beschlossen. Denen war nämlich zuviel schlechte Stimmung im Land, und deshalb haben sie die Kampagne »Du bist Deutschland« ins Leben gerufen. Die soll »einen Bewußtseinswandel für mehr Selbstvertrauen und Motivation anstoßen«. Ziel der Hurra-Deutschland-Aktion, an der unter anderen Bertelsmann, Gruner + Jahr und das ZDF beteiligt sind, ist eine »Bewegung für mehr Zuversicht und Eigeninitiative«. Die beteiligten Medien stellen dafür Sendezeiten bzw. Anzeigenplatz im Wert von über 30 Millionen Euro zur Verfügung. Herzstück der Kampagne ist ein zweiminütiger Fernsehspot, in dem Prominente und Nichtprominente gemeinsam ein »Manifest für Deutschland« verlesen. Für solch einen guten Zweck haben dann auch alle Mitwirkenden (Reinhold Beckmann, Sarah Connor, Harald Schmidt u. a.) auf ihr Honorar verzichtet. Denn dieses Land ist schon knorke, wir sehen’s bloß nicht: »Deutschland redet sich selbst schlecht«, erklärte Bernd Kundrun, Vorstandsvorsitzender von Gruner + Jahr, auf der offiziellen Pressekonferenz am Freitag. »Dagegen wollen wir einen Impuls setzen und einen Bewußtseinswandel für mehr Selbstvertrauen und Motivation anstoßen.«

      Und deshalb sind wir ab 1. Oktober alle Deutschland. Aber grämen Sie sich nicht. Endlich wird mal was getan! Denn hier geht’s ja wohl den Bach runter. Hohe Arbeitslosigkeit, miserable Wirtschaftslage, und nicht mal auf einen Kanzler kann man sich einigen. Die Leute hier haben einfach die falsche Einstellung. Sie wissen anscheinend nicht mal, daß sie Deutschland sind. Jetzt endlich die »gemeinsame Kampagne für eine neue Aufbruchsstimmung«. Weg mit den Zweifeln! Deutschland: Du schaffst es! Wir sind ja schließlich auch Papst, wieso können wir dann nicht auch Deutschland sein? »Wir müssen Schluß machen mit Unsicherheit und Verzagtheit!« meinte auch Peter Frey, Leiter des ZDF-Hauptstadtbüros. Wir brauchen einfach mehr Selbstvertrauen! Und mehr Ausrufezeichen!
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      schrieb am 25.09.05 18:21:30
      Beitrag Nr. 3 ()
      Der Willemsen lebt mental noch in den 80ern.
      Das Menschen, die um ihren Wohlstand bangen nicht vornehmlich in Bussen und Bahnen den neuen Grass rezensieren, begreift dieser "Schöngeist" offenbar nicht.
      Un in Anbetracht eines über 50%igen Wählervotums für linke Parteien, von einem Mangel linksliberalen Denkens zu sprechen, läßt einen nur verwundert zurück.
      Avatar
      schrieb am 25.09.05 19:26:42
      Beitrag Nr. 4 ()
      Ein Kinderloser Single wie Roger Willemsen hat das wirkliche Leben nie gelebt, sondern nur beobachtet. Sein süßes Dauerlächeln macht mich mißtrauisch.
      Avatar
      schrieb am 26.09.05 13:43:18
      Beitrag Nr. 5 ()
      Alles falsch, Quelle: Die Zeit

      Roger Willemsen verzweifelt an Deutschland

      Tobias Gohlis

      Wer glaubt, Willemsen würde Deutschland anders als Willemsen durchreisen, sieht sich getäuscht. Rastlos, Notizblock griffbereit, ist der fernsehmüde Moderator im vergangenen Jahr durch Deutschland geeilt, unterbrach hier für ein Gespräch, dort für eine Beobachtung und fand, womit er gerechnet hatte.

      Zum Beispiel Trier: „Erst das ,Tiefkühlparadies’, drei Häuser weiter die Matratzenfabrik, dann ein Plakat mit dem Schädel Roman Herzogs und dem Slogan: ‚Durch Deutschland muss ein Ruck gehen.‘ Der geht durch Deutschland genau gegenüber. ,Zum Hühnerstall‘ heißt das Eroscenter und hat auf seiner Schauseite die Imitationen alter Fresken mit Nackten in zweideutigen Positionen, die man im Eroscenter vermutlich nicht wiedersieht. Dann das Wasserbettenzentrum, ‚Lifestyle in Langsur‘, ‚Faszination Glaskunst‘ und keine Lebensmittel, aber Wellness. Zuletzt echte Alleen, echter Mischwald.“ Oder die „Verlierer der Einheit“ in Frankfurt/Oder: „Alles, was sie konservieren, ist die Kioskkultur. An dieser niedrigsten gastronomischen Form lagern sich die Leute an wie in einer chemischen Verbindung mit freien Wertigkeiten.“ Aperçus, wie von Willemsen.

      Kreuz und quer ist er herumgefahren, von Sylt bis zur Wieskirche. In Sankt Paulis „Ritze“ stößt er auf „menschliches Strandgut“ und am Bahnhof Zoo auf Deutschlandmerkmal Nummer eins, den Service. In der Universität Rostock nimmt er Namensschilder ab: „Vor dem Zimmer von Prorektor Erbguth und der Altertumswissenschaftlerin Frau Frühauf flucht eine Studentin leise über einem Stapel schwarzer Fotokopien.“

      Mich reizt es, Willemsens Verfahren zu rekonstruieren. Ein Anruf in Rostock. Frau Frühauf von der Fachbibliothek der Altertumswissenschaft: „Mit einem Professor Erbguth habe ich nichts zu tun, die Juristen sitzen doch ganz woanders, und Altertumswissenschaftlerin bin ich auch nicht.“ Sie ist Bibliothekarin, „und ein Herr Willemsen hat sich hier nicht vorgestellt“. – „So funktioniert Literatur. Willemsen hat sich halt sprechende Namen zusammengesucht.“ – „Die hätte er auch aus dem Internet haben können.“

      Willemsen fuhr durch Deutschland und suchte Zeichen. Hin und wieder entstehen aus den Kaleidoskopbildern seiner Eindrücke feine Miniaturen. Doch: „Weh dem, der Symbole sieht!“, seufzt er wissend am Potsdamer Platz. Und hat selten was anderes gesehen.

      Am liebsten hat er Deutschland von ferne, da schaut es noch schön aus. Geht Willemsen nah ran, wächst sein Missmut und entlädt sich in Pointengewittern. Bravourös: Die Menschen, die er auf dem Flur des Naumburger Arbeitsamts trifft, nennt er „designierte Arbeitnehmer“. Das lässt aus ganzen Hartz-Kommissionen die Luft raus. Im Frankfurter Bankenviertel bemerkt er: „Hier zwischen den Hochbauten ist gewissermaßen das Unterholz der Dekadenz.“ Was kann man da noch sagen? Glänzend mischt er Heine- mit Eichendorff-Ton: „Das eigentliche Gedächtnis des Ostens, das sind die Paläste der Industriearchitektur, von Ranken, wilden Malven umflochten, die Ruinen von Scharfgarbe und Holunderdolden umflort, wie auf den Vignetten von Märchenbüchern. Nachdem ein Betrieb nach dem anderen eingeschläfert wurde, entsteht hier eine Wiedervereinigungs-Vegetation…“

      Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts, von Willemsen gesehen: Das ist ein Konglomerat von Einkaufszentren, falschen Versprechen und Hässlichkeit. Wohin er auch fährt, ihm widerfährt immer das Gleiche. Magdeburg: „Wo ich die Stadt vermutete, türmen sich Waren auf und hinter Waren neue Waren.“ In Konstanz riecht der Rezeptionist aus dem Mund nach gegrilltem Hähnchen. Im Zug am Schwarzwaldrand löffelt er Jogurt: „Ist das Vanille? Nein, es sind naturidentische Aromen. Ist das da draußen ein Wald oder eine naturidentische Baum-Ansammlung?“ Willemsen eilt durch Deutschland wie ein Nomade auf Suche nach frischem Wasser und macht uns zu Komplizen seines Verdurstens.

      Manchmal, zu selten, verlangsamt er den Sauseschritt. Dann ist im Kernschatten, den er wirft, ein Erzähler zu erkennen. Am nachhaltigsten bleiben die Passagen in Erinnerung, die aus einem Innehalten entstanden sind: längere Gespräche mit einer Mitreisenden auf Rügen, ein pointenfreier Nachmittag am Rheinufer.

      Einmal, in der Mitte der Deutschlandreise, erzählt Willemsen die Geschichte einer Heimkehr. Nach einer Abiturfeier seiner Schule schlendert der Schlaflose über den Busbahnhof, entdeckt dort einen ehemaligen Klassenkameraden, einen Eingeschlossenen im Kartenschalter. Willemsen begrüßt ihn nicht, doch aus dem Gedächtnis taucht die Erinnerung an einen verkorksten Bordellbesuch mit jenem Schlottke auf. Er wiederholt den Besuch im Bordell. „Mein Prostitut“ Nadine, die Wäsche erinnert ihn an „das braune Transparentpapier von Pralinen-Verpackungen“, kopiert „nicht schlecht“, was man ihr im Fernsehen „als Lust vorgespielt hat“. Doch Un-Freier W. schaut nicht sie, sondern TV, wo gerade Werbung für ein Enthaarungsmittel läuft. Das Debakel endet in eiliger Flucht. Eine Anekdote, verbarrikadiert mit unausgesprochenen Verneinungen. Willemsen erzählt sie, um zu zeigen, was falsch läuft in Deutschland. „Nichts ist Gefühl, alles Gefühle.“ Ihm geht es mit Deutschland nicht anders als mit Nadine: Die Signalschleier aus TV-Posen und Mediensprech machen ein Durchkommen unmöglich.

      Erich Loest, auch ein Deutschlandgeschlagener, kennt das Gefühl, aus dem Willemsen beobachtet und schreibt. Er hat es „Zorn des Schafes“ genannt. Es ist die Wutscham, die entsteht, wenn man etwas in der Hoffnung tut, das Vorausgesehene werde wider Vernunft und Erwarten nicht eintreten; es ist die enttäuschte Sehnsucht nach einem Wunder. Wie alle anderen an Deutschland Leidenden schreibt Willemsen aus Liebe zu Deutschland. Doch seine Liebe ist nicht vergeblich, sondern von vornherein unmöglich.

      Man könnte es sich einfach machen und sagen, das Deutschland, das Wil-lemsen sucht, will er ja gar nicht finden. Sonst würde er eine Reisemethode wäh-len, die ihn offen werden lässt, statt ihn hinter den Wortkaskaden seiner Einfälle gegen jedes Erstaunen und jede Erschütterung zu verpanzern. Willemsen riecht nur Übles, hört selten, schmeckt gar nichts, und wenn er die Augen öffnet, erblickt er Phrasen: Slogans oder in die Menschen eingedrungene TV-Gesten. Willemsen kann nicht offen sein, weil er „Offenheit“ bereits vor dem Aufstehen als Verblendungszusammenhang identifiziert hat, als Uneigentlichkeitskommando aus dem allfälligen, übermächtigen Psychogeschwätz der Medien.

      Die Bemerkung Tucholskys, dass eine „Reisebeschreibung in erster Linie für den Beschreiber charakteristisch ist, nicht für die Reise“, gilt auch für die Deutschlandreise. Den Medien-Ekel, der den Fernsehmann Willemsen befallen hat, projiziert der Intellektuelle auf die vergeblich gesuchte Ursprünglichkeit. Doktrinär und narzisstisch wie nur je ein Kind der fünfziger Jahre, erhebt er seine Haltung zur generellen Maxime: „Vermutlich würde es den Menschen das Sprechen über ihr Land erleichtern, wenn sie sich alle als Heimatvertriebene erkennen wollten, davongejagt aus künstlichen Paradiesen. Von der Heimat lohnt es sich nur zu sprechen als von einem Mangel, dem Inbegriff des Verlorenen.“ Das ist es: Aus künstlichen Paradiesen kann man nicht verjagt werden, man kann nur den Glauben daran verlieren. In den Jahren nach Adorno schien alles dem Ideologieverdacht anheimgefallen, für Willemsen unterliegt alles dem Falschheitsverdacht. Es gibt kein richtiges Deutschland im Falschen. Und echter Mischwald ist auch selten.

      Dass hinter dem menschenzugewandten Lächeln des Moderators das Weinen eines einsamen klugen Kindes verborgen ist, hat man ahnen können; in der Deutschlandreise wird seine Verzweiflung deutlich als grandiose Wut. Willemsens Deutschland-Collage nimmt sich in manchem aus wie Terry Pratchetts Science-Fiction-Konstruktion einer zweidimensionalen Scheibenwelt: keine Geschichte, kaum Tiefe, grandiose Fläche, beschränkt und doch genial entworfen. Dem Erzähler Willemsen möchte man raten: Schreib’s auf, Roger! Und Deutschland: Bessere dich.


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