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    Anti-Utopien sowie deren Totalitarismus- und Realitätsbezug - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 18.06.03 13:15:08 von
    neuester Beitrag 18.08.03 16:42:57 von
    Beiträge: 177
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      Avatar
      schrieb am 18.06.03 13:15:08
      Beitrag Nr. 1 ()
      Da heute gerade zufällig der 18. Juni 2003 im Kalender steht, gestern der 50. Jahrestag eines untergegangenen Feiertags der deutschen Geschichte begangen wurde (17. Juni 1953, falls das Datum irgendjemandem irgendetwas sagen sollte) und morgen ein Feiertag begangen wird, der vermutlich bald untergehen wird, wenn unser amüsanter Staatshaushalt nicht "schöner" werden sollte, dachte ich mir, daß ein solcher Thread doch ganz hervorragend in diese Zeit passen würde.
      Man könnte ja mal die Anti-Utopien der Literatur des 20. Jahrhunderts (insbesondere von Zamjatin, Huxley und Orwell) danach durchforsten, inwieweit deren fiktive Gesellschaften in der Realität Wirklichkeit geworden sind, waren oder noch zu werden drohen.
      Bei etwaigen Ähnlichkeiten in Bezug auf untergegangene, gegenwärtige oder noch kommende Staats- und Gesellschaftssysteme könnte man darüber diskutieren, welche Ähnlichkeiten am langlebigsten, erschreckendsten oder gefährlichsten sein könnten.
      Zum Zweck unserer hoffentlich und wie hier unter "Wallstreet-Online " schon gewohnt hochintellektuellen politischen Diskussionen werde ich erst mal eine Definition der wichtigsten Begriffe hineinkopieren, dann eine Kurzfassung der drei wesentlichsten Anti-Utopien des 20. Jahrhunderts, in die die geneigten Diskussionsteilnehmer sich erst mal bis Freitag einlesen können, um informiert zu sein, damit sie danach Ihrer geschätzten und ungebremsten Begeisterung durch Ihre ekstatischen Postings Ausdruck verleihen können.
      ;)
      Aufgrund des vielfach geäußerten Wunsches von Mirabellchen (Zitat: "`Anti-Utopien des 20. Jahrhunderts mit ihren speziellen Totalitarismus-Theorien und deren möglichen Implikationen in den politischen Systemen der Realität` empfände ich als durchaus dem hiesigen Leserkreis adäquates Thema." [!!!])
      und meiner bescheidenen Wenigkeit erkläre ich hiermit diesen neuen Thread einstimmig für eröffnet.
      Avatar
      schrieb am 18.06.03 13:22:13
      Beitrag Nr. 2 ()
      Wichtige staatstheoretische und literaturtheoretische Begriffe zum Verständnis der Begriffe

      Anarchie/Anarchismus: politische Ideologie und Bewegung, die auf Beseitigung jeder Autorität und jeden Rechtszwanges, insbesondere des Staates, abzielt und größte Ausdehnung der persönlichen Freiheit im freien, jederzeit lösbaren Zusammenschluß der Individuen erreichen will.
      Der kollektivistisch-kommunistische oder föderalistische Anarchismus erstrebt eine staaten- und klassenlose Kollektivordnung; die Grenzen zum Sozialismus und Kommunismus können fließend sein.
      Kollektivismus: Weltanschauung, in der der Einzelmensch nur noch als unselbständiges Glied der Gesellschaft (Masse) betrachtet und letztlich verneint wird. Als Antithese auf den radikalen Liberalismus und Individualismus des 19. Jh. zu deuten. Das Personale wird verneint, der Einzelmensch nur noch als Akzidens einer anonymen Masse; gesellschaftl. Gliederungen werden nivelliert, Privateigentum, Selbständigkeit abgeschafft, persönliche Arbeit durch Gruppenarbeit ersetzt.
      Oligarchie: (griech. oligoi = wenige, archein = herrschen). Bezeichnung für die Herrschaft einer kleinen Gruppe, vor allem dann, wenn mit dieser Herrschaft Mißstände verbunden sind. In der griechischen Staatstheorie wurde unter Oligarchie eine Entartung der Aristokratie verstanden.
      Utopie: (griech. u = nicht, topos = Ort / Nirgendland) nach dem Titel von Thomas Morus Vernunftsstaatsfiktion "De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia" (1516) gebildete Bezeichnung für einen nur in gedanklicher Konstruktion erreichbaren, praktisch nicht zu verwirklichenden Idealzustand von Staat und Gesellschaft. Ihre Grundform bleibt daher der teils mehr kommunistische, teils mehr aristokratische oder freiheitliche Ziele verfolgende Staatsroman.

      Utopie und Gegenutopie (bzw. "Anti-Utopie" )
      Mit der Bezeichnung "Utopie", die 1516 von Thomas Morus geprägt wurde, wurden zunächst Romane und andere literarische Werke bezeichnet, die eine vollkommene Gemeinschaft schildern. Dichter und Propheten, Visionäre und Revolutionäre träumten von Gesellschaften oder Kulturen, in denen der Mensch restlos glücklich wäre.
      (aus: Lindken, Hans-Ulrich: Erläuterungen zu George Orwells 1984, Hollfeld 1979, S. 31)

      Im heutigen Sprachgebrauch haben die Wörter `Utopie` und `utopisch` jedoch oft eine negative Bedeutung. Mit der Wendung "Das ist doch die reinste Utopie!" kritisieren z. B. Politiker Reformpläne eines politischen Gegners, die ihrer Auffassung nach nicht verwirklicht werden können. Utopien in diesem Sinne sind `Träumereien`, `Hirngespinste`, phantastische Vorstellungen von zukünftigen Welten, die `nie` Wirklichkeit werden können. Ebenso hat auch das Adjektiv `utopisch` häufig die Bedeutung `phantastisch`, `unmöglich`, `unglaubwürdig`.
      Daneben ist in philosophischen, politologischen oder literaturwissenschaftlichen Abhandlungen auch eine positive Bedeutung von `Utopie` und `utopisch` anzutreffen. Utopie bezeichnet in solchen Texten häufig ein ideales Staatsgebilde, die bestmögliche Form eines Gemeinwesens, wie sie z. B. Plato in seinem "Staat" bereits zu entwerfen versuchte. Eine Utopie in diesem Sinne wird meist als eine für das politische und soziale Handeln notwendige oder empfehlenswerte regulative Idee betrachtet, und in vielen Fällen gehen die Verteidiger einer Utopie davon aus, daß ein derartiges Staatsgebilde zwar nie völlig verwirklicht werden könne, als Ziel aber ständig präsent sein müsse, andernfalls werde das politische Leben seine geistige Dynamik einbüßen und einer restaurativen Stagnation ausgeliefert sein. Wie bei allen vielgebrauchten Begriffen des politischen Lebens, aber auch der Literatur- und Geistesgeschichte empfiehlt es sich, auch bei dem Begriff Utopie nach seinem Ursprung zu fragen. Er wurde 1516 von Thomas Morus geprägt, der damit einen "ou-topos", einen Nicht-Ort, ein Nirgendwo bezeichnete, genauer: eine fiktive Insel, die angeblich von einem (fiktiven) Reisegefährten des Amerigo Vespucci entdeckt wurde, der dort ein ideales Staatswesen vorgefunden haben will. Dementsprechend kündigt Morus in dem Titel seines Werkes an, daß er "de optimo rei publicae statu" handeln werde, und das Oxford English Dictionary führt als erste Bedeutung unter dem Stichwort "Utopia" an: "An imaginary island, depicted by Sir Thomas More as enjoying a perfect social, legal and political system."
      In der eigenwilligen erzählerischen Darbietungsweise des Thomas Morus ist die Utopie zwischen Fiktion und Realität angesiedelt: Sie ist ein erfundenes Gebilde; zugleich wird ihr ein bestimmter Realitätsbezug zugesprochen: der fiktive Reisende Hythlodeus mißt an dieser Norm die politischen Verhältnisse in Europa. Ob die Utopie, die Beschreibung eines fiktiven Gemeinwesens mit seinen politischen und sozialen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Einrichtungen, als die beste aller möglicher Welten zu verstehen ist (wie der Titel nahelegt) oder nur als eine zwar vorbildliche, aber heidnische Lebensordnung, die von den christlichen Völkern Europas noch übertroffen werden sollte, ist bis heute umstritten. Fest steht, daß Thomas Morus dieses Staatsgebilde in räumlicher Koexistenz zu den damaligen Staaten Europas sah und dieses Gemeinwesen mit einer humanistischen Freude am gelungenen, geistreichen Einfall ausmalte, ohne seine Schrift als ein Programm für die politischen Tageskämpfe in England zu verstehen. Im Hinblick auf spätere literarische Utopien empfiehlt es sich, bei der Charakterisierung der ersten Utopie den Begriff "Raum-Utopie" einzuführen oder auch von einem "Wunsch-Raum" zu sprechen.`
      Vergleicht man ein Buch wie William Morris` "News from Nowhere" mit Morus` Utopia, so wird deutlich, daß das Werk des 19. Jahrhunderts dadurch charakterisiert ist, daß das ideale Staatswesen in das 21. Jahrhundert datiert wird. Bereits Bacon hatte mit seiner New Atlantis (um 1624) eine Utopie entworfen, die "die ungeheuren Möglichkeiten des durch empirisch-wissenschaftliche Methoden erzielten Fortschritts" illustriert. Der erste Autor, der eine Zeit-Utopie (oder eine "Wunsch-Zeit" ) beschrieb, war der Franzose Louis Sébastien Mercier, der 1770 L`An 2440 veröffentlichte. Mit der französischen Revolution, die eine neue Lebensund Gesellschaftsordnung durch einen gewaltsamen Umsturz zu verwirklichen versuchte, und mit den Geschichtsphilosophien des 19. Jahrhunderts, die in zunehmendem Maße die Idee der Höherentwicklung, des zivilisatorischen Fortschritts in den Mittelpunkt rückten, gewann das utopische Denken und damit auch die literarische Form der Utopie ein neues Gepräge. Die Utopie wurde nicht mehr nur als eine aus einem fremden Raum geholte Norm verstanden, die der Kritik an zeitgenössischen Verhältnissen zugrunde gelegt werden konnte, sondern - ähnlich wie schon in James Harringtons Oceana aus dem Jahre 1656 - als ein konkretes Ziel, auf das alles politische Handeln auszurichten sei.
      Es ist verständlich, daß bei Morris die Utopie als der beste Weltzustand erscheint, der mit der Anstrengung einiger Generationen in absehbarer Zukunft erreicht werden könne. Mit dieser Vorstellung ist unweigerlich der Gedanke gekoppelt, daß die Utopie sich aufhebt, wenn sie von der historischen Entwicklung eingeholt wird.
      In der Geschichte des Utopie-Begriffes macht sich im 19. Jahrhundert insofern ein wesentlicher Wandel bemerkbar, als Friedrich Engels sich in seiner Schrift "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" (1882) in einer für spätere Marxisten paradigmatischen Weise von den herkömmlichen Utopien und Utopisten distanzierte. Sowohl die erzählerische Darstellung utopischer Zustände in Werken der Renaissance und der Aufklärung wie die theoretischen Abhandlungen der Frühsozialisten lassen - wie er darlegt - eine wissenschaftliche Analyse der Gegenwart und darauf gründende Anweisungen zum politischen Handeln in der unmittelbaren Gegenwart vermissen. Deshalb sind utopische Werke für Engels und seine Gesinnungsfreunde überholt. Die moderne negative Bedeutung Utopie = `Hirngespinst`, von der wir ausgingen, dürfte durch die Engels`sche Polemik gegen die traditionellen Utopien mitbeeinflußt sein. Es muß allerdings sogleich hinzugefügt werden, daß konservative Realpolitiker - freilich aus anderen Gründen - zum gleichen Urteil über die literarischen Utopien und die politischen Utopisten gelangen können.
      In der kritischen Auseinandersetzung mit dem Utopie-Begriff und der Tradition utopischen Denkens lassen sich in der Gegenwart dementsprechend verschiedene Schulen unterscheiden. So stellt Arnhelm Neusüss in seinem Buch Begriff und Phänomen des Utopischen (1968) den marxistischen Utopie-Kritikern eine liberalistische und eine konservative gegenutopische Kritik gegenüber. Er bemerkt dabei über die liberalistische gegenutopische Kritik: "So gibt es liberale Weisen des Kampfes gegen Utopie, die sich, den utopischen Versprechungen des Liberalismus eingedenk, durchaus als `progressiv` verstehen und in der Tat über der Kritik an der Utopie keineswegs vergessen, Kritisches auch gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit vorzubringen. Und zur konservativen Utopiekritik führt er aus: "Die konservative Utopiekritik folgt entweder der Betonung des machtvoll Faktischen, das als das Normative selber ausgegeben wird, oder sie gehorcht der Furcht vor der sozialen und politischen Wirkmächtigkeit utopischer Impulse, je nachdem, welche Affektlage die Zeitumstände nahelegen, meist aber beidem zugleich."
      Die kritische Gegenbewegung gegen das utopische Denken, als dessen Exponent zu Beginn des 20. Jahrhunderts in weiten Kreisen H. G. Wells galt, und gegen die literarische Darstellung utopischer Gesellschaftszustände führte zur Entstehung der "Anti-Utopie", als deren bedeutendste Ausprägungen in der englischen Literatur des 20. Jahrhunderts Aldous Huxleys Brave New World und George Orwells Nineteen Eighty-Four anzusehen sind. Huxley kritisiert die Übersteigerung naturwissenschaftlichen Denkens und die (möglichen) Einflüsse dieses Denkens auf die Umgestaltung der sozialen und politischen Verhältnisse; Orwell dagegen ist stärker mit der politischen Entwicklung der Gegenwart befaßt: Seine Anti-Utopie zielt auf die Auswirkungen des technokratischen Denkens im Faschismus und Kommunismus (stalinistischer Prägung). In der Kritik an den in naher Zukunft möglichen Entwicklungen schwingt bei beiden Autoren die Furcht mit, daß im Streben nach einer Perfektionierung des Staates die humane Würde des Menschen ausgetilgt werde. Wenngleich Huxley und Orwell von unterschiedlichen geistigen und politischen Überzeugungen ausgehen - Huxley ist dem Liberalismus, Orwell dem englischen Sozialismus verpflichtet -, neigen beide zu einer Apologie des Bestehenden: Die Kritik an den Auswirkungen utopischen Denkens droht utopisches Denken überhaupt in Frage zu stellen. Dennoch ist bei beiden Autoren zu bemerken, daß sie einer solchen Aufhebung der utopischen Tradition nicht das Wort reden möchten; so hat Huxley allen geistigen und politischen Krisen zum Trotz sein Lebenswerk mit einer Utopie, dem Roman Island, abgeschlossen, und Orwell hat darauf hingewiesen, daß er durch das Schreckbild einer möglichen Zukunft die Kräfte stärken möchte, die ein menschenwürdiges Dasein für alle Völker erstreben. Wenn gegenwärtig nicht mehr in der unbekümmert-spielerischen Weise Utopien entworfen werden wie in der Renaissance, so ist die utopische Intention im politischen Denken der Menschen nicht verkümmert. Utopisches Denken hat es jedoch angesichts der politischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert und der Auswirkungen zweier Weltkriege schwer, sich zu behaupten. "Realpolitik" scheint utopisches Denken ebenso Lügen zu strafen wie die bedrohlichen Auswirkungen der Naturwissenschaften. Dazu kommt, daß alle Versuche, eine literarische Utopie zu schreiben, mit jener Art des utopischen Denkens konkurriert, die sich im philosophischen Essay niederschlägt und im Bunde mit der Soziologie, der Politologie und Psychologie um wissenschaftliche Gegenwartsanalyse und Zukunftsprognose bemüht ist.
      Schließlich ist nicht zu verkennen, daß die Utopie, je stärker sie sich als literarische Gattung an den jeweils gegenwärtigen Moment und dessen spezifische politische Gegebenheiten bindet, Gefahr läuft, allzu schnell zu veralten. Sie ist überholt, sobald die besondere Situation überholt ist, auf die sie sich bezieht. Je größer der imaginative Spielraum ist, den sich die Utopie als literarische Gattung selbst schafft, um so größer ist die Möglichkeit, daß die utopischen Verhältnisse, die geschildert werden, als imaginative und nicht primär politologische Modelle über den einmaligen, konkreten historischen Anlaß hinaus wirken und in der Phantasie und Reflexion des Lesers auf Zusammenhänge angewandt werden können, die der Autor einer literarischen Utopie sich nicht vorstellen konnte, als er sein Werk konzipierte und niederschrieb.

      Die Analyse der literarischen Utopien und Anti-Utopien hat deshalb immer zweierlei zu leisten: die literarischen Techniken zu analysieren, deren sich ein Autor bedient, und die Intentionen zu ermitteln, die sich sowohl in den imaginativ gestalteten wie in den expositorisch-abstrakten Passagen eines Werkes enthalten sind. Dabei sind die Wechselbeziehungen zwischen den beiden Darstellungsweisen ständig zu berücksichtigen. Erzählerische Partien wirken auf die expositorischen, und umgekehrt wirkt die Reflexion zurück auf das dichterisch Gestaltete. Utopie bewegt sich immer im Grenzbereich zwischen Literatur und Philosophie, zwischen dichterischer Anschauung und politischer Reflexion.
      Fragt man, ob in der bisherigen Forschung bei der Analyse der literarischen Utopien bereits allgemeine Gattungsmerkmale herausgearbeitet wurden, so wird man zum einen auf die Arbeit von Hubertus Schulte-Herbrüggen, Utopie und Anti-Utopie: Von der Strukturanalyse zur Strukturtypologie (Bochum-Langendreer, 1960) und zum anderen auf das Buch von Raymond Ruyer, L`Utopie et les Utopies (Paris 1950) verwiesen. Schulte-Herbrüggen vertritt im Anschluß an seine Interpretation der Utopia des Thomas Morus die These, daß Isolation, Selektion und Idealität die charakteristischen Formprinzipien einer Utopie sind. Die Isolation zeigt sich bei Morus "in geographischer Hinsicht: die Insellage; in staatspolitischer: der souveräne Nationalstaat; außenpolitisch: die Bündnisfreiheit; wirtschaftlich: die Autarkie; im Außenhandel: der absolute Exportüberschuß; militärisch: die eigene Überlegenheit und Unangreifbarkeit; bevölkerungspolitisch: die Kolonisationsmöglichkeit je nach Bedarf." Die Selektion sieht Schulte-Herbrüggen in der vernunftgemäßen Integrität der Bewohner und in der kommunistischen Lebensform gegeben; die Idealität in der prästabilierten Harmonie der utopischen Welt.
      Die Kategorien, die Raymond Ruyer in seinem Buch L`Utopie et les Utopies (bereits zehn Jahre zuvor) herausarbeitete, überschneiden sich teilweise mit den Kategorien von Schulte-Herbrü`ggen oder sind in dessen Erläuterungen zu den drei Grundkategorien mit enthalten. Nach Raymond Ruyer weist eine Utopie folgende Hauptmerkmale auf: symétrie, uniformité, croyance en l`éducation, hostilité à la nature, dirigisme, collectivisme, les choses mises à l`envers (= verkehrte Welt), autarchie et isolement, ascétisme, eudémonisme collectif, humanisme, prosélytisme, prétention prophétique. Insgesamt fällt auf, daß Raymond Ruyer sich vor allem auf jene Begriffe konzentriert, die geeignet sind, die Utopie als Gattung thematisch festzulegen; besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang: der Glaube an die Erziehbarkeit des Menschen, die humanistisch-eudämonistische Einstellung, der Kollektivismus und Dirigismus und schließlich der prophetisch-missionarische Anspruch, der der Utopie inhärent ist. Es empfiehlt sich, einen derartigen Kriterienkatalog nicht als eine dogmatische Norm, sondern als eine Hilfskonstruktion, als ein idealtypisches Modell zu begreifen und sowohl bei der Analyse einer einzelnen Utopie wie bei der kritischen Überprüfung neuerer und neuester Definition des Begriffes Utopie zu fragen, ob alle von Schulte-Herbrüggen und Raymond Ruyer genannten Kriterien zutreffen oder ob sie auf Grund der Beschaffenheit der vorliegenden literarischen Texte modifiziert werden müssen.

      Im heutigen Sprachgebrauch haben die Wörter `Utopie` und `utopisch` jedoch oft eine negative Bedeutung. Mit der Wendung "Das ist doch die reinste Utopie!" kritisieren z. B. Politiker Reformpläne eines politischen Gegners, die ihrer Auffassung nach nicht verwirklicht werden können. Utopien in diesem Sinne sind `Träumereien`, `Hirngespinste`, phantastische Vorstellungen von zukünftigen Welten, die `nie` Wirklichkeit werden können. Ebenso hat auch das Adjektiv `utopisch` häufig die Bedeutung `phantastisch`, `unmöglich`, `unglaubwürdig`.
      Daneben ist in philosophischen, politologischen oder literaturwissenschaftlichen Abhandlungen auch eine positive Bedeutung von `Utopie` und `utopisch` anzutreffen. Utopie bezeichnet in solchen Texten häufig ein ideales Staatsgebilde, die bestmögliche Form eines Gemeinwesens, wie sie z. B. Plato in seinem "Staat" bereits zu entwerfen versuchte. Eine Utopie in diesem Sinne wird meist als eine für das politische und soziale Handeln notwendige oder empfehlenswerte regulative Idee betrachtet, und in vielen Fällen gehen die Verteidiger einer Utopie davon aus, daß ein derartiges Staatsgebilde zwar nie völlig verwirklicht werden könne, als Ziel aber ständig präsent sein müsse, andernfalls werde das politische Leben seine geistige Dynamik einbüßen und einer restaurativen Stagnation ausgeliefert sein. Wie bei allen vielgebrauchten Begriffen des politischen Lebens, aber auch der Literatur- und Geistesgeschichte empfiehlt es sich, auch bei dem Begriff Utopie nach seinem Ursprung zu fragen. Er wurde 1516 von Thomas Morus geprägt, der damit einen "ou-topos", einen Nicht-Ort, ein Nirgendwo bezeichnete, genauer: eine fiktive Insel, die angeblich von einem (fiktiven) Reisegefährten des Amerigo Vespucci entdeckt wurde, der dort ein ideales Staatswesen vorgefunden haben will. Dementsprechend kündigt Morus in dem Titel seines Werkes an, daß er "de optimo rei publicae statu" handeln werde, und das Oxford English Dictionary führt als erste Bedeutung unter dem Stichwort "Utopia" an: "An imaginary island, depicted by Sir Thomas More as enjoying a perfect social, legal and political system."
      In der eigenwilligen erzählerischen Darbietungsweise des Thomas Morus ist die Utopie zwischen Fiktion und Realität angesiedelt: Sie ist ein erfundenes Gebilde; zugleich wird ihr ein bestimmter Realitätsbezug zugesprochen: der fiktive Reisende Hythlodeus mißt an dieser Norm die politischen Verhältnisse in Europa. Ob die Utopie, die Beschreibung eines fiktiven Gemeinwesens mit seinen politischen und sozialen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Einrichtungen, als die beste aller möglicher Welten zu verstehen ist (wie der Titel nahelegt) oder nur als eine zwar vorbildliche, aber heidnische Lebensordnung, die von den christlichen Völkern Europas noch übertroffen werden sollte, ist bis heute umstritten. Fest steht, daß Thomas Morus dieses Staatsgebilde in räumlicher Koexistenz zu den damaligen Staaten Europas sah und dieses Gemeinwesen mit einer humanistischen Freude am gelungenen, geistreichen Einfall ausmalte, ohne seine Schrift als ein Programm für die politischen Tageskämpfe in England zu verstehen. Im Hinblick auf spätere literarische Utopien empfiehlt es sich, bei der Charakterisierung der ersten Utopie den Begriff "Raum-Utopie" einzuführen oder auch von einem "Wunsch-Raum" zu sprechen.`
      Vergleicht man ein Buch wie William Morris` "News from Nowhere" mit Morus` Utopia, so wird deutlich, daß das Werk des 19. Jahrhunderts dadurch charakterisiert ist, daß das ideale Staatswesen in das 21. Jahrhundert datiert wird. Bereits Bacon hatte mit seiner New Atlantis (um 1624) eine Utopie entworfen, die "die ungeheuren Möglichkeiten des durch empirisch-wissenschaftliche Methoden erzielten Fortschritts" illustriert. Der erste Autor, der eine Zeit-Utopie (oder eine "Wunsch-Zeit" ) beschrieb, war der Franzose Louis Sébastien Mercier, der 1770 L`An 2440 veröffentlichte. Mit der französischen Revolution, die eine neue Lebensund Gesellschaftsordnung durch einen gewaltsamen Umsturz zu verwirklichen versuchte, und mit den Geschichtsphilosophien des 19. Jahrhunderts, die in zunehmendem Maße die Idee der Höherentwicklung, des zivilisatorischen Fortschritts in den Mittelpunkt rückten, gewann das utopische Denken und damit auch die literarische Form der Utopie ein neues Gepräge. Die Utopie wurde nicht mehr nur als eine aus einem fremden Raum geholte Norm verstanden, die der Kritik an zeitgenössischen Verhältnissen zugrunde gelegt werden konnte, sondern - ähnlich wie schon in James Harringtons Oceana aus dem Jahre 1656 - als ein konkretes Ziel, auf das alles politische Handeln auszurichten sei.
      Es ist verständlich, daß bei Morris die Utopie als der beste Weltzustand erscheint, der mit der Anstrengung einiger Generationen in absehbarer Zukunft erreicht werden könne. Mit dieser Vorstellung ist unweigerlich der Gedanke gekoppelt, daß die Utopie sich aufhebt, wenn sie von der historischen Entwicklung eingeholt wird.
      In der Geschichte des Utopie-Begriffes macht sich im 19. Jahrhundert insofern ein wesentlicher Wandel bemerkbar, als Friedrich Engels sich in seiner Schrift "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" (1882) in einer für spätere Marxisten paradigmatischen Weise von den herkömmlichen Utopien und Utopisten distanzierte. Sowohl die erzählerische Darstellung utopischer Zustände in Werken der Renaissance und der Aufklärung wie die theoretischen Abhandlungen der Frühsozialisten lassen - wie er darlegt - eine wissenschaftliche Analyse der Gegenwart und darauf gründende Anweisungen zum politischen Handeln in der unmittelbaren Gegenwart vermissen. Deshalb sind utopische Werke für Engels und seine Gesinnungsfreunde überholt. Die moderne negative Bedeutung Utopie = `Hirngespinst`, von der wir ausgingen, dürfte durch die Engels`sche Polemik gegen die traditionellen Utopien mitbeeinflußt sein. Es muß allerdings sogleich hinzugefügt werden, daß konservative Realpolitiker - freilich aus anderen Gründen - zum gleichen Urteil über die literarischen Utopien und die politischen Utopisten gelangen können.
      In der kritischen Auseinandersetzung mit dem Utopie-Begriff und der Tradition utopischen Denkens lassen sich in der Gegenwart dementsprechend verschiedene Schulen unterscheiden. So stellt Arnhelm Neusüss in seinem Buch Begriff und Phänomen des Utopischen (1968) den marxistischen Utopie-Kritikern eine liberalistische und eine konservative gegenutopische Kritik gegenüber. Er bemerkt dabei über die liberalistische gegenutopische Kritik: "So gibt es liberale Weisen des Kampfes gegen Utopie, die sich, den utopischen Versprechungen des Liberalismus eingedenk, durchaus als `progressiv` verstehen und in der Tat über der Kritik an der Utopie keineswegs vergessen, Kritisches auch gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit vorzubringen. Und zur konservativen Utopiekritik führt er aus: "Die konservative Utopiekritik folgt entweder der Betonung des machtvoll Faktischen, das als das Normative selber ausgegeben wird, oder sie gehorcht der Furcht vor der sozialen und politischen Wirkmächtigkeit utopischer Impulse, je nachdem, welche Affektlage die Zeitumstände nahelegen, meist aber beidem zugleich."
      Die kritische Gegenbewegung gegen das utopische Denken, als dessen Exponent zu Beginn des 20. Jahrhunderts in weiten Kreisen H. G. Wells galt, und gegen die literarische Darstellung utopischer Gesellschaftszustände führte zur Entstehung der "Anti-Utopie", als deren bedeutendste Ausprägungen in der englischen Literatur des 20. Jahrhunderts Aldous Huxleys Brave New World und George Orwells Nineteen Eighty-Four anzusehen sind. Huxley kritisiert die Übersteigerung naturwissenschaftlichen Denkens und die (möglichen) Einflüsse dieses Denkens auf die Umgestaltung der sozialen und politischen Verhältnisse; Orwell dagegen ist stärker mit der politischen Entwicklung der Gegenwart befaßt: Seine Anti-Utopie zielt auf die Auswirkungen des technokratischen Denkens im Faschismus und Kommunismus (stalinistischer Prägung). In der Kritik an den in naher Zukunft möglichen Entwicklungen schwingt bei beiden Autoren die Furcht mit, daß im Streben nach einer Perfektionierung des Staates die humane Würde des Menschen ausgetilgt werde. Wenngleich Huxley und Orwell von unterschiedlichen geistigen und politischen Überzeugungen ausgehen - Huxley ist dem Liberalismus, Orwell dem englischen Sozialismus verpflichtet -, neigen beide zu einer Apologie des Bestehenden: Die Kritik an den Auswirkungen utopischen Denkens droht utopisches Denken überhaupt in Frage zu stellen. Dennoch ist bei beiden Autoren zu bemerken, daß sie einer solchen Aufhebung der utopischen Tradition nicht das Wort reden möchten; so hat Huxley allen geistigen und politischen Krisen zum Trotz sein Lebenswerk mit einer Utopie, dem Roman Island, abgeschlossen, und Orwell hat darauf hingewiesen, daß er durch das Schreckbild einer möglichen Zukunft die Kräfte stärken möchte, die ein menschenwürdiges Dasein für alle Völker erstreben. Wenn gegenwärtig nicht mehr in der unbekümmert-spielerischen Weise Utopien entworfen werden wie in der Renaissance, so ist die utopische Intention im politischen Denken der Menschen nicht verkümmert. Utopisches Denken hat es jedoch angesichts der politischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert und der Auswirkungen zweier Weltkriege schwer, sich zu behaupten. "Realpolitik" scheint utopisches Denken ebenso Lügen zu strafen wie die bedrohlichen Auswirkungen der Naturwissenschaften. Dazu kommt, daß alle Versuche, eine literarische Utopie zu schreiben, mit jener Art des utopischen Denkens konkurriert, die sich im philosophischen Essay niederschlägt und im Bunde mit der Soziologie, der Politologie und Psychologie um wissenschaftliche Gegenwartsanalyse und Zukunftsprognose bemüht ist.
      Schließlich ist nicht zu verkennen, daß die Utopie, je stärker sie sich als literarische Gattung an den jeweils gegenwärtigen Moment und dessen spezifische politische Gegebenheiten bindet, Gefahr läuft, allzu schnell zu veralten. Sie ist überholt, sobald die besondere Situation überholt ist, auf die sie sich bezieht. Je größer der imaginative Spielraum ist, den sich die Utopie als literarische Gattung selbst schafft, um so größer ist die Möglichkeit, daß die utopischen Verhältnisse, die geschildert werden, als imaginative und nicht primär politologische Modelle über den einmaligen, konkreten historischen Anlaß hinaus wirken und in der Phantasie und Reflexion des Lesers auf Zusammenhänge angewandt werden können, die der Autor einer literarischen Utopie sich nicht vorstellen konnte, als er sein Werk konzipierte und niederschrieb.

      Die Analyse der literarischen Utopien und Anti-Utopien hat deshalb immer zweierlei zu leisten: die literarischen Techniken zu analysieren, deren sich ein Autor bedient, und die Intentionen zu ermitteln, die sich sowohl in den imaginativ gestalteten wie in den expositorisch-abstrakten Passagen eines Werkes enthalten sind. Dabei sind die Wechselbeziehungen zwischen den beiden Darstellungsweisen ständig zu berücksichtigen. Erzählerische Partien wirken auf die expositorischen, und umgekehrt wirkt die Reflexion zurück auf das dichterisch Gestaltete. Utopie bewegt sich immer im Grenzbereich zwischen Literatur und Philosophie, zwischen dichterischer Anschauung und politischer Reflexion.
      Fragt man, ob in der bisherigen Forschung bei der Analyse der literarischen Utopien bereits allgemeine Gattungsmerkmale herausgearbeitet wurden, so wird man zum einen auf die Arbeit von Hubertus Schulte-Herbrüggen, Utopie und Anti-Utopie: Von der Strukturanalyse zur Strukturtypologie (Bochum-Langendreer, 1960) und zum anderen auf das Buch von Raymond Ruyer, L`Utopie et les Utopies (Paris 1950) verwiesen. Schulte-Herbrüggen vertritt im Anschluß an seine Interpretation der Utopia des Thomas Morus die These, daß Isolation, Selektion und Idealität die charakteristischen Formprinzipien einer Utopie sind. Die Isolation zeigt sich bei Morus "in geographischer Hinsicht: die Insellage; in staatspolitischer: der souveräne Nationalstaat; außenpolitisch: die Bündnisfreiheit; wirtschaftlich: die Autarkie; im Außenhandel: der absolute Exportüberschuß; militärisch: die eigene Überlegenheit und Unangreifbarkeit; bevölkerungspolitisch: die Kolonisationsmöglichkeit je nach Bedarf." Die Selektion sieht Schulte-Herbrüggen in der vernunftgemäßen Integrität der Bewohner und in der kommunistischen Lebensform gegeben; die Idealität in der prästabilierten Harmonie der utopischen Welt.
      Die Kategorien, die Raymond Ruyer in seinem Buch L`Utopie et les Utopies (bereits zehn Jahre zuvor) herausarbeitete, überschneiden sich teilweise mit den Kategorien von Schulte-Herbrü`ggen oder sind in dessen Erläuterungen zu den drei Grundkategorien mit enthalten. Nach Raymond Ruyer weist eine Utopie folgende Hauptmerkmale auf: symétrie, uniformité, croyance en l`éducation, hostilité à la nature, dirigisme, collectivisme, les choses mises à l`envers (= verkehrte Welt), autarchie et isolement, ascétisme, eudémonisme collectif, humanisme, prosélytisme, prétention prophétique. Insgesamt fällt auf, daß Raymond Ruyer sich vor allem auf jene Begriffe konzentriert, die geeignet sind, die Utopie als Gattung thematisch festzulegen; besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang: der Glaube an die Erziehbarkeit des Menschen, die humanistisch-eudämonistische Einstellung, der Kollektivismus und Dirigismus und schließlich der prophetisch-missionarische Anspruch, der der Utopie inhärent ist. Es empfiehlt sich, einen derartigen Kriterienkatalog nicht als eine dogmatische Norm, sondern als eine Hilfskonstruktion, als ein idealtypisches Modell zu begreifen und sowohl bei der Analyse einer einzelnen Utopie wie bei der kritischen Überprüfung neuerer und neuester Definition des Begriffes Utopie zu fragen, ob alle von Schulte-Herbrüggen und Raymond Ruyer genannten Kriterien zutreffen oder ob sie auf Grund der Beschaffenheit der vorliegenden literarischen Texte modifiziert werden müssen.
      b) Erzgräber, Willi: Utopie und Anti-Utopie, München 1980, S. 13-18.

      Wichtige staatstheoretische und literaturtheoretische Begriffe zum Verständnis der Begriffe

      Anarchie/Anarchismus: politische Ideologie und Bewegung, die auf Beseitigung jeder Autorität und jeden Rechtszwanges, insbesondere des Staates, abzielt und größte Ausdehnung der persönlichen Freiheit im freien, jederzeit lösbaren Zusammenschluß der Individuen erreichen will.
      Der kollektivistisch-kommunistische oder föderalistische Anarchismus erstrebt eine staaten- und klassenlose Kollektivordnung; die Grenzen zum Sozialismus und Kommunismus können fließend sein.
      Kollektivismus: Weltanschauung, in der der Einzelmensch nur noch als unselbständiges Glied der Gesellschaft (Masse) betrachtet und letztlich verneint wird. Als Antithese auf den radikalen Liberalismus und Individualismus des 19. Jh. zu deuten. Das Personale wird verneint, der Einzelmensch nur noch als Akzidens einer anonymen Masse; gesellschaftl. Gliederungen werden nivelliert, Privateigentum, Selbständigkeit abgeschafft, persönliche Arbeit durch Gruppenarbeit ersetzt.
      Oligarchie: (griech. oligoi = wenige, archein = herrschen). Bezeichnung für die Herrschaft einer kleinen Gruppe, vor allem dann, wenn mit dieser Herrschaft Mißstände verbunden sind. In der griechischen Staatstheorie wurde unter Oligarchie eine Entartung der Aristokratie verstanden.
      Utopie: (griech. u = nicht, topos = Ort / Nirgendland) nach dem Titel von Thomas Morus Vernunftsstaatsfiktion "De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia" (1516) gebildete Bezeichnung für einen nur in gedanklicher Konstruktion erreichbaren, praktisch nicht zu verwirklichenden Idealzustand von Staat und Gesellschaft. Ihre Grundform bleibt daher der teils mehr kommunistische, teils mehr aristokratische oder freiheitliche Ziele verfolgende Staatsroman.

      Utopie und Gegenutopie (bzw. "Anti-Utopie" )
      Mit der Bezeichnung "Utopie", die 1516 von Thomas Morus geprägt wurde, wurden zunächst Romane und andere literarische Werke bezeichnet, die eine vollkommene Gemeinschaft schildern. Dichter und Propheten, Visionäre und Revolutionäre träumten von Gesellschaften oder Kulturen, in denen der Mensch restlos glücklich wäre.

      Im heutigen Sprachgebrauch haben die Wörter `Utopie` und `utopisch` jedoch oft eine negative Bedeutung. Mit der Wendung "Das ist doch die reinste Utopie!" kritisieren z. B. Politiker Reformpläne eines politischen Gegners, die ihrer Auffassung nach nicht verwirklicht werden können. Utopien in diesem Sinne sind `Träumereien`, `Hirngespinste`, phantastische Vorstellungen von zukünftigen Welten, die `nie` Wirklichkeit werden können. Ebenso hat auch das Adjektiv `utopisch` häufig die Bedeutung `phantastisch`, `unmöglich`, `unglaubwürdig`.
      Daneben ist in philosophischen, politologischen oder literaturwissenschaftlichen Abhandlungen auch eine positive Bedeutung von `Utopie` und `utopisch` anzutreffen. Utopie bezeichnet in solchen Texten häufig ein ideales Staatsgebilde, die bestmögliche Form eines Gemeinwesens, wie sie z. B. Plato in seinem "Staat" bereits zu entwerfen versuchte. Eine Utopie in diesem Sinne wird meist als eine für das politische und soziale Handeln notwendige oder empfehlenswerte regulative Idee betrachtet, und in vielen Fällen gehen die Verteidiger einer Utopie davon aus, daß ein derartiges Staatsgebilde zwar nie völlig verwirklicht werden könne, als Ziel aber ständig präsent sein müsse, andernfalls werde das politische Leben seine geistige Dynamik einbüßen und einer restaurativen Stagnation ausgeliefert sein. Wie bei allen vielgebrauchten Begriffen des politischen Lebens, aber auch der Literatur- und Geistesgeschichte empfiehlt es sich, auch bei dem Begriff Utopie nach seinem Ursprung zu fragen. Er wurde 1516 von Thomas Morus geprägt, der damit einen "ou-topos", einen Nicht-Ort, ein Nirgendwo bezeichnete, genauer: eine fiktive Insel, die angeblich von einem (fiktiven) Reisegefährten des Amerigo Vespucci entdeckt wurde, der dort ein ideales Staatswesen vorgefunden haben will. Dementsprechend kündigt Morus in dem Titel seines Werkes an, daß er "de optimo rei publicae statu" handeln werde, und das Oxford English Dictionary führt als erste Bedeutung unter dem Stichwort "Utopia" an: "An imaginary island, depicted by Sir Thomas More as enjoying a perfect social, legal and political system."
      In der eigenwilligen erzählerischen Darbietungsweise des Thomas Morus ist die Utopie zwischen Fiktion und Realität angesiedelt: Sie ist ein erfundenes Gebilde; zugleich wird ihr ein bestimmter Realitätsbezug zugesprochen: der fiktive Reisende Hythlodeus mißt an dieser Norm die politischen Verhältnisse in Europa. Ob die Utopie, die Beschreibung eines fiktiven Gemeinwesens mit seinen politischen und sozialen, ökonomischen, kulturellen und religiösen Einrichtungen, als die beste aller möglicher Welten zu verstehen ist (wie der Titel nahelegt) oder nur als eine zwar vorbildliche, aber heidnische Lebensordnung, die von den christlichen Völkern Europas noch übertroffen werden sollte, ist bis heute umstritten. Fest steht, daß Thomas Morus dieses Staatsgebilde in räumlicher Koexistenz zu den damaligen Staaten Europas sah und dieses Gemeinwesen mit einer humanistischen Freude am gelungenen, geistreichen Einfall ausmalte, ohne seine Schrift als ein Programm für die politischen Tageskämpfe in England zu verstehen. Im Hinblick auf spätere literarische Utopien empfiehlt es sich, bei der Charakterisierung der ersten Utopie den Begriff "Raum-Utopie" einzuführen oder auch von einem "Wunsch-Raum" zu sprechen.`
      Vergleicht man ein Buch wie William Morris` "News from Nowhere" mit Morus` Utopia, so wird deutlich, daß das Werk des 19. Jahrhunderts dadurch charakterisiert ist, daß das ideale Staatswesen in das 21. Jahrhundert datiert wird. Bereits Bacon hatte mit seiner New Atlantis (um 1624) eine Utopie entworfen, die "die ungeheuren Möglichkeiten des durch empirisch-wissenschaftliche Methoden erzielten Fortschritts" illustriert. Der erste Autor, der eine Zeit-Utopie (oder eine "Wunsch-Zeit" ) beschrieb, war der Franzose Louis Sébastien Mercier, der 1770 L`An 2440 veröffentlichte. Mit der französischen Revolution, die eine neue Lebensund Gesellschaftsordnung durch einen gewaltsamen Umsturz zu verwirklichen versuchte, und mit den Geschichtsphilosophien des 19. Jahrhunderts, die in zunehmendem Maße die Idee der Höherentwicklung, des zivilisatorischen Fortschritts in den Mittelpunkt rückten, gewann das utopische Denken und damit auch die literarische Form der Utopie ein neues Gepräge. Die Utopie wurde nicht mehr nur als eine aus einem fremden Raum geholte Norm verstanden, die der Kritik an zeitgenössischen Verhältnissen zugrunde gelegt werden konnte, sondern - ähnlich wie schon in James Harringtons Oceana aus dem Jahre 1656 - als ein konkretes Ziel, auf das alles politische Handeln auszurichten sei.
      Es ist verständlich, daß bei Morris die Utopie als der beste Weltzustand erscheint, der mit der Anstrengung einiger Generationen in absehbarer Zukunft erreicht werden könne. Mit dieser Vorstellung ist unweigerlich der Gedanke gekoppelt, daß die Utopie sich aufhebt, wenn sie von der historischen Entwicklung eingeholt wird.
      In der Geschichte des Utopie-Begriffes macht sich im 19. Jahrhundert insofern ein wesentlicher Wandel bemerkbar, als Friedrich Engels sich in seiner Schrift "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" (1882) in einer für spätere Marxisten paradigmatischen Weise von den herkömmlichen Utopien und Utopisten distanzierte. Sowohl die erzählerische Darstellung utopischer Zustände in Werken der Renaissance und der Aufklärung wie die theoretischen Abhandlungen der Frühsozialisten lassen - wie er darlegt - eine wissenschaftliche Analyse der Gegenwart und darauf gründende Anweisungen zum politischen Handeln in der unmittelbaren Gegenwart vermissen. Deshalb sind utopische Werke für Engels und seine Gesinnungsfreunde überholt. Die moderne negative Bedeutung Utopie = `Hirngespinst`, von der wir ausgingen, dürfte durch die Engels`sche Polemik gegen die traditionellen Utopien mitbeeinflußt sein. Es muß allerdings sogleich hinzugefügt werden, daß konservative Realpolitiker - freilich aus anderen Gründen - zum gleichen Urteil über die literarischen Utopien und die politischen Utopisten gelangen können.
      In der kritischen Auseinandersetzung mit dem Utopie-Begriff und der Tradition utopischen Denkens lassen sich in der Gegenwart dementsprechend verschiedene Schulen unterscheiden. So stellt Arnhelm Neusüss in seinem Buch Begriff und Phänomen des Utopischen (1968) den marxistischen Utopie-Kritikern eine liberalistische und eine konservative gegenutopische Kritik gegenüber. Er bemerkt dabei über die liberalistische gegenutopische Kritik: "So gibt es liberale Weisen des Kampfes gegen Utopie, die sich, den utopischen Versprechungen des Liberalismus eingedenk, durchaus als `progressiv` verstehen und in der Tat über der Kritik an der Utopie keineswegs vergessen, Kritisches auch gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit vorzubringen. Und zur konservativen Utopiekritik führt er aus: "Die konservative Utopiekritik folgt entweder der Betonung des machtvoll Faktischen, das als das Normative selber ausgegeben wird, oder sie gehorcht der Furcht vor der sozialen und politischen Wirkmächtigkeit utopischer Impulse, je nachdem, welche Affektlage die Zeitumstände nahelegen, meist aber beidem zugleich."
      Die kritische Gegenbewegung gegen das utopische Denken, als dessen Exponent zu Beginn des 20. Jahrhunderts in weiten Kreisen H. G. Wells galt, und gegen die literarische Darstellung utopischer Gesellschaftszustände führte zur Entstehung der "Anti-Utopie", als deren bedeutendste Ausprägungen in der englischen Literatur des 20. Jahrhunderts Aldous Huxleys Brave New World und George Orwells Nineteen Eighty-Four anzusehen sind. Huxley kritisiert die Übersteigerung naturwissenschaftlichen Denkens und die (möglichen) Einflüsse dieses Denkens auf die Umgestaltung der sozialen und politischen Verhältnisse; Orwell dagegen ist stärker mit der politischen Entwicklung der Gegenwart befaßt: Seine Anti-Utopie zielt auf die Auswirkungen des technokratischen Denkens im Faschismus und Kommunismus (stalinistischer Prägung). In der Kritik an den in naher Zukunft möglichen Entwicklungen schwingt bei beiden Autoren die Furcht mit, daß im Streben nach einer Perfektionierung des Staates die humane Würde des Menschen ausgetilgt werde. Wenngleich Huxley und Orwell von unterschiedlichen geistigen und politischen Überzeugungen ausgehen - Huxley ist dem Liberalismus, Orwell dem englischen Sozialismus verpflichtet -, neigen beide zu einer Apologie des Bestehenden: Die Kritik an den Auswirkungen utopischen Denkens droht utopisches Denken überhaupt in Frage zu stellen. Dennoch ist bei beiden Autoren zu bemerken, daß sie einer solchen Aufhebung der utopischen Tradition nicht das Wort reden möchten; so hat Huxley allen geistigen und politischen Krisen zum Trotz sein Lebenswerk mit einer Utopie, dem Roman Island, abgeschlossen, und Orwell hat darauf hingewiesen, daß er durch das Schreckbild einer möglichen Zukunft die Kräfte stärken möchte, die ein menschenwürdiges Dasein für alle Völker erstreben. Wenn gegenwärtig nicht mehr in der unbekümmert-spielerischen Weise Utopien entworfen werden wie in der Renaissance, so ist die utopische Intention im politischen Denken der Menschen nicht verkümmert. Utopisches Denken hat es jedoch angesichts der politischen Entwicklungen im 20. Jahrhundert und der Auswirkungen zweier Weltkriege schwer, sich zu behaupten. "Realpolitik" scheint utopisches Denken ebenso Lügen zu strafen wie die bedrohlichen Auswirkungen der Naturwissenschaften. Dazu kommt, daß alle Versuche, eine literarische Utopie zu schreiben, mit jener Art des utopischen Denkens konkurriert, die sich im philosophischen Essay niederschlägt und im Bunde mit der Soziologie, der Politologie und Psychologie um wissenschaftliche Gegenwartsanalyse und Zukunftsprognose bemüht ist.
      Schließlich ist nicht zu verkennen, daß die Utopie, je stärker sie sich als literarische Gattung an den jeweils gegenwärtigen Moment und dessen spezifische politische Gegebenheiten bindet, Gefahr läuft, allzu schnell zu veralten. Sie ist überholt, sobald die besondere Situation überholt ist, auf die sie sich bezieht. Je größer der imaginative Spielraum ist, den sich die Utopie als literarische Gattung selbst schafft, um so größer ist die Möglichkeit, daß die utopischen Verhältnisse, die geschildert werden, als imaginative und nicht primär politologische Modelle über den einmaligen, konkreten historischen Anlaß hinaus wirken und in der Phantasie und Reflexion des Lesers auf Zusammenhänge angewandt werden können, die der Autor einer literarischen Utopie sich nicht vorstellen konnte, als er sein Werk konzipierte und niederschrieb.

      Die Analyse der literarischen Utopien und Anti-Utopien hat deshalb immer zweierlei zu leisten: die literarischen Techniken zu analysieren, deren sich ein Autor bedient, und die Intentionen zu ermitteln, die sich sowohl in den imaginativ gestalteten wie in den expositorisch-abstrakten Passagen eines Werkes enthalten sind. Dabei sind die Wechselbeziehungen zwischen den beiden Darstellungsweisen ständig zu berücksichtigen. Erzählerische Partien wirken auf die expositorischen, und umgekehrt wirkt die Reflexion zurück auf das dichterisch Gestaltete. Utopie bewegt sich immer im Grenzbereich zwischen Literatur und Philosophie, zwischen dichterischer Anschauung und politischer Reflexion.
      Fragt man, ob in der bisherigen Forschung bei der Analyse der literarischen Utopien bereits allgemeine Gattungsmerkmale herausgearbeitet wurden, so wird man zum einen auf die Arbeit von Hubertus Schulte-Herbrüggen, Utopie und Anti-Utopie: Von der Strukturanalyse zur Strukturtypologie (Bochum-Langendreer, 1960) und zum anderen auf das Buch von Raymond Ruyer, L`Utopie et les Utopies (Paris 1950) verwiesen. Schulte-Herbrüggen vertritt im Anschluß an seine Interpretation der Utopia des Thomas Morus die These, daß Isolation, Selektion und Idealität die charakteristischen Formprinzipien einer Utopie sind. Die Isolation zeigt sich bei Morus "in geographischer Hinsicht: die Insellage; in staatspolitischer: der souveräne Nationalstaat; außenpolitisch: die Bündnisfreiheit; wirtschaftlich: die Autarkie; im Außenhandel: der absolute Exportüberschuß; militärisch: die eigene Überlegenheit und Unangreifbarkeit; bevölkerungspolitisch: die Kolonisationsmöglichkeit je nach Bedarf." Die Selektion sieht Schulte-Herbrüggen in der vernunftgemäßen Integrität der Bewohner und in der kommunistischen Lebensform gegeben; die Idealität in der prästabilierten Harmonie der utopischen Welt.
      Die Kategorien, die Raymond Ruyer in seinem Buch L`Utopie et les Utopies (bereits zehn Jahre zuvor) herausarbeitete, überschneiden sich teilweise mit den Kategorien von Schulte-Herbrü`ggen oder sind in dessen Erläuterungen zu den drei Grundkategorien mit enthalten. Nach Raymond Ruyer weist eine Utopie folgende Hauptmerkmale auf: symétrie, uniformité, croyance en l`éducation, hostilité à la nature, dirigisme, collectivisme, les choses mises à l`envers (= verkehrte Welt), autarchie et isolement, ascétisme, eudémonisme collectif, humanisme, prosélytisme, prétention prophétique. Insgesamt fällt auf, daß Raymond Ruyer sich vor allem auf jene Begriffe konzentriert, die geeignet sind, die Utopie als Gattung thematisch festzulegen; besonders hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang: der Glaube an die Erziehbarkeit des Menschen, die humanistisch-eudämonistische Einstellung, der Kollektivismus und Dirigismus und schließlich der prophetisch-missionarische Anspruch, der der Utopie inhärent ist. Es empfiehlt sich, einen derartigen Kriterienkatalog nicht als eine dogmatische Norm, sondern als eine Hilfskonstruktion, als ein idealtypisches Modell zu begreifen und sowohl bei der Analyse einer einzelnen Utopie wie bei der kritischen Überprüfung neuerer und neuester Definition des Begriffes Utopie zu fragen, ob alle von Schulte-Herbrüggen und Raymond Ruyer genannten Kriterien zutreffen oder ob sie auf Grund der Beschaffenheit der vorliegenden literarischen Texte modifiziert werden müssen.
      (aus: Erzgräber, Willi: Utopie und Anti-Utopie, München 1980, S. 13-18.)
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      schrieb am 18.06.03 13:43:02
      Beitrag Nr. 3 ()
      Hoppala, da trat in Posting #2 eine ungewollte Dopplung eines Textteils auf, die ich zu entschuldigen bitte.
      Aber jetzt zu den Anti-Utopien, die in vielen deutschen Bundesländern in den jeweiligen Lehrplänen in den Fächern Deutsch, Geschichte und sogar auch in Englisch zumindest in Teilen als Pflichtlektüre vorkommen:
      Inhaltsangaben (Gang der Handlung)
      (nach Kindlers Literaturlexikon)

      NINETEEN EIGHTY-FOUR (engl.; Ü: 1984). Roman von George ORWELL (d. i. Eric Blair, 1903-1950), erschienen 1949. - Orwells letzter Roman zeigt die Welt aufgespalten in drei Supermächte, Ozeanien, Eurasien und Ostasien, die einander in Herrschaftsstruktur und Ideologie gleichen. Der permanente Scheinkrieg, den sie gegeneinander führen, dient ihnen als Alibi für Gewaltmaßnahmen im eigenen Machtbereich. Was Orwell am Beispiel Ozeaniens und seiner Hauptstadt London, dem Schauplatz des Geschehens, darstellt, trifft also auch auf die beiden anderen Machtblöcke zu. Ozeanien wird von einer Partei-Oligarchie beherrscht. Die Partei selbst ist in eine "innere" und eine "äußere" unterteilt, deren Mitglieder an ihren schwarzen bzw. blauen Overalls zu erkennen sind. An der Spitze dieses Herrschaftsapparates steht der "Große Bruder", ein fiktiver Parteiführer, dessen Bildnis von allen Wänden starrt und dessen Augen dem Betrachter immer und überallhin zu folgen scheinen - Symbol des allgegenwärtigen Staates ("Der Große Bruder sieht dich an!" ). Mittels technischer Apparate, z.B. des Tele-Auges, überwacht und beeinflußt die Partei das Leben ihrer Mitglieder bis in die Intimsphäre. Ihr Ziel ist die totale Vernichtung des individuellen Bewußtseins. Recht, Freiheit, Wahrheit, Wissen, menschliche Empfindungen, Träume, Ideale werden in ihr Gegenteil verkehrt. Dementsprechend lauten die Leitsätze der Partei: "Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke." An die Stelle des echten Sozialismus ist die Parteidiktatur getreten. Nur die "Proles" (das gemeine Volk, das 85 Prozent der /Bevölkerung ausmacht) sind von der unablässigen Bespitzelung ausgenommen. Sie werden in geistiger Unmündigkeit gehalten und mit Hilfe eines von der Partei gezüchteten primitiven Nationalismus an jeder Art von Aufsässigkeit gehindert. In dieser totalitären Welt gibt es auch keine historische Faktizität mehr. Durch eine ungeheure Propagandamaschinerie wird das menschliche Gedächtnis ständig neu programmiert, die Geschichte wird im "Wahrheitsministerium" je nach Bedarf umoder neu geschrieben, die gegenteiligen Belege werden vernichtet. Der Gleichsetzung von Wahrheit und Lüge dient auch das neue, durch Reduktion der überkommenen Sprache entstandene Idiom ("Newspeak" -"Neusprache`), das, wie Orwell in einer beigefügten "Grammatik" erklärt, nicht nur Ausdrucksmittel für die Parteiideologie ist, sondern auch "jede Art anderen Denkens ausschalten soll". Als schwerstes Vergehen gilt daher das "Gedankenverbrechen".
      Am Schicksal des kleinen Angestellten Winston Smith, der im "Wahrheitsministerium" mit unzähligen anderen Mitgliedern der "äußeren" Partei an der systematischen Verfälschung der Geschichte arbeitet, zeigt Orwell die Unmöglichkeit, in dieser Alptraumwelt als Individuum zu existieren. Während sich Smith, um dem Argwohn der Gedankenpolizei zu entgehen, nach außen hin loyal verhält, lehnt er sich in Gedanken gegen das autoritäre System auf. In einer Art innerem Monolog versucht er, sich die Welt seiner Kindheit ins Gedächtnis zu rufen, doch da die Partei die historische Wirklichkeit manipuliert hat, bleiben die Erinnerungen, die er in seinem Tagebuch festhalten will, unscharf, halluzinatorisch, bruchstückhaft, ohne faktische Evidenz. Seine Rebellion erschöpft sich, da ihm die Vision einer besseren Welt unmöglich ist, in einem ziellosen Haß auf die Partei. Auch Julia, wie er Mitglied der "äußeren" Partei, vermag ihm nicht zu helfen. Ihr Aufbegehren besteht darin, daß sie insgeheim einem hemmungslosen Hedonismus frönt -ein todeswürdiges Verbrechen in den Augen der Partei, die von ihren Mitgliedern einen rigorosen Puritanismus verlangt und Sexualität nur als notwendiges Übel zur "Erhaltung der Art" duldet. So vollziehen Smith und Julia die körperliche Vereinigung geradezu als einen gegen die Partei gerichteten politischen Akt. Ihre heimlichen Begegnungen sind für die beiden Oasen des Glücks in einer Schreckenswelt. Doch Smith weiß, daß es nur ein Glück auf Zeit sein kann. Um wirksamer gegen die Partei zu rebellieren, sucht er Anschluß an die legendenumwobene Untergrundbewegung Emmanuel Goldsteins. Der Verbindungsmann O`Brien entpuppt sich jedoch als Funktionär der Gedankenpolizei und Goldstein selbst als ein Popanz, den die Partei benutzt, um dem unterdrückten Aggressionstrieb ihrer Mitglieder ein Ventil zu verschaffen. Smith wird verhaftet, gefoltert, entwürdigt. Wie bei allen ihren Gegnern geht es der Partei nicht darum, ihn "auszulöschen", sondern sein Bewußtsein zu "reinigen" und umzupolen. Mittels sadistischer Torturen wird er schließlich dazu gebracht, Julia zu verraten und vor der Partei zu Kreuz zu kriechen. Als er aufgehört hat, als Individuum zu existieren, läßt man ihn frei. "Er hatte den Sieg über sich selbst errungen. Er liebte den Großen Bruder." Der Roman entstand unter dem Eindruck des Nazismus, des Stalinismus und der Wirtschaftspolitik der Industriestaaten während des Zweiten Weltkriegs. Noch pessimistischer und grimmiger als in Animal Farm (1945) kommt darin Orwells Überzeugung zum Ausdruck daß die Machtstruktur einer Gesellschaft auch durch Revolution nicht grundlegend verändert werden kann und daß die Zerstörung d Menschen durch eine perfektionierte Staatsmaschinerie unaufhaltsam ist. Das gibt seiner düsteren Zukunftsvision einen beklemmenden Wirklichkeitsbezug. Trotz mancher, vom literarkritischen Standpunkt berechtigten Einwände gegen die flache Charakterzeichnung und den journalistischen Stil, konnte sich Orwells Roman neben Zamjatins My (Wir) und Huxleys Brave New World einen festen Platz unter den großen Anti-Utopien der modernen Literatur sichern.
      [Kindlers Literatur Lexikon im dtv. Bd. 16, München: Deutsch Taschenbuch Verlag 1974, S. 6755 - 6756]

      Inhaltsangaben der Romane "My" von Zamjatin und ?Brave New World" von Aldous Huxley
      MY (russ.; Ü: Wir). Roman von Evgenij I. Zamjatin (1884.-1937), entstanden 1920, erschienen in tschechischer, englischer und französischer Ubersetzung 1924, in einer russischen Kurzfassung 1927; die vollständige russische Ausgabe erschien 1952.-Zamjatin schrieb sein bedeutendstes, in der Sowjetunion nicht verlegtes Werk nach eingehender Beschäftigung mit den Utopien von H.G. Wells. Es stellt die Vision eines totalitären "Einheitsstaates" dar und führt in eine Welt der "quadratischen Harmonie graublauer Marschblöcke", in der ein "Wohltäter" das Glück der "Nummern" - individuelle Namen sind abgeschafft -durch die maximale Normierung ihres Tagesablaufs und hermetische Abriegelung gegen die Wildnis "Jenseits der grünen Mauer" gewährleistet: "Ist die Freiheit des Menschen gleich Null, so begeht er keine Verbrechen. Das einzige Mittel, den Menschen vor dem Verbrechen zu bewahren, ist, ihn vor der Freiheit zu bewahren." Unter dem Einfluß seiner (nicht genehmigten) Geliebten I-330 wird der Raketentechniker D-503 unheilbar krank: Er bekommt eine ?Seele" und schließt sich der mit den Wilden verbündeten Opposition des Einheitsstaates an, welche auf den "glücksfeindlichen" Einfall verfällt, am "Tag der Einstimmigkeit" sich gegen die Wiederwahl des Wohltäters zu erheben. Der Aufstand wird durch Verrat zunichte. D-503 wird durch eine von der Regierung verordnete eugenische Behandlung chirurgisch vom "Splitter Phantasie" befreit. Die letzte seiner vierzig "Eintragungen", in denen er seine Geschichte erzählt, berichtet gleichgültig-glücklich, er habe der Folterung der Geliebten beigewohnt, welche am folgenden Morgen die "Maschine des Wohltäters", den überdimensionalen elektrischen Stuhl des Einheitsstaates, besteigen wird: "Die Vernunft muß siegen!"
      Zamjatins Roman hat die bekanntesten Sozialutopien der Moderne, A. Huxleys Brave New World und G. Orwells 1984 vorweggenommen. Zumindest Huxleys direkte literarische Abhängigkeit von diesem Werk ist sehr wahrscheinlich; der Handlungsverlauf in Brave New World deckt sich bis in Einzelheiten mit der des russischen Vorbildes. Den Mathematismus Zamjatins, der seinen Niederschlag nicht allein in der Art der dargestellten Denknormen, sondern ebenso in einer kontinuierlich mathematisch-physikalischen Metaphorik des Stils findet, ersetzt Huxley durch den Biologismus des sog. "Bokanovsky-Verfahrens". Ist Brave New World auf die kapitalistische Massengesellschaft, 1984 auf den Stalinismus gemünzt, so gibt sich Zamjatins Roman als eine unspezifische Fiktion des Endstadiums eines wie auch immer gearteten Terrors. Er erscheint als allgemeingültige Prophetie zu einer Zeit, da Gaskammern, uniforme Bewußtseinsgleichschaltung und gelenkte Eugenik höchstens angstgeträumte Zukunftsvisionen darstellten.
      Zamjatin, der zunächst ganz auf der Seite der Revolution stand, schrieb in seiner kritisch-publizistischen Schrift O literature, revoljucii, èntropii i o procem, 1924 (Über Literatur, Revolution, Entropie und über anderes), in der er ähnliche Gedanken wie in dem Roman My äußerte, über die Notwendigkeit des Ketzertums: "Ketzer sind die einzige (bittere) Medizin gegen die Entropie des menschlichen Denkens." In der literarischen Tradition Leskovs, Remizovs und insbesondere Gogols stehend, vertrat er einen dem herkömmlichen Realismusbegriff entgegengesetzten "Neorealismus": "Der Realismus, der nicht primitiv sein will - nicht realia, sondern realiora - liegt in der Verschiebung, in der Entstellung, in der Krümmung, in der Nichtobjektivität." - Verständlicherweise stieß Zamjatin mit solchen Ansichten auf eine ablehnende Haltung der sowjetischen Kritik, die den unhistorischen, außergesellschaftlichen Standort des Romans bemängelte. Auch mußte die Veröffentlichung des Werks in der Prager Emigrantenzeitschrift ,Volja Rossii` (Die Freiheit Rußlands) - die dort erschienene Kurzfassung wurde,um den bis 1931 in der Sowjetunion lebenden Autor nicht zu gefährden, als Rückübersetzung aus dem Tschechischen ausgegeben - als Angriff auf den jungen Sowjetstaat empfunden werden.- Zu Unrecht hat man dem Roman jedoch den Vorwurf des heimlichen Trotzkismus gemacht. Zamjatins These der "unendlichen Zahl der Revolutionen" ist nicht identisch mit dem Prinzip der "permanenten Revolution". Es liegt ihr vielmehr ein dialektisches Weltverständnis zugrunde, die Idee vom ewigen Widerspiel von "Entropie" und "Energie", deren Antagonismus notwendig Revolutionen in unaufhörlicher Folge produziert: "Es gibt zwei Kräfte in der Welt, Entropie und Energie. Die eine schafft selige Ruhe und glückliches Gleichgewicht, die andere führt zur Zerstörung des Gleichgewichts, zu qualvoll-unendlicher Bewegung." Dieser Aspekt verleiht auch dem "Einheitsstaat", jener unvermeidlichen, einseitigen Anmaßung "Gottes, des größten aller Skeptiker", seine geschichtliche Relativität.
      [Kindlers Literatur Lexikon im dtv. Bd. 15. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1974, S. 6535/36]

      Wackere neue Welt: (Brave New Worid). Roman von Aldous HUXLEY. Erstausgabe London 1932; Übs. von H. E. Herlitschka 1950, auch u. d. T. Schöne neue Weit, 1953
      Die in ihrer Zynik an Swift und Voltaire erinnernde satirische Anti-Utopie von einer enthumanisierten Menschheit "im Jahre 632 nach Ford" ist eine Antwort auf H. G. Wells` Fortschrittsoptimismus und die Zukunftsvisionen in Dostojevskijs Legende vom Großinquisitor und Zamjatins Wir. Mit unheimlicher Logik entwickelt sich das Bild einer erbbiologisch und psychologisch ab ovo konditionierten, total manipulierten Wohlstandsgesellschaft, deren Axiome Überbevölkerung, Überproduktion und Überkonsum sind. Ford, Freud und Marx sind die heilige Trinität dieser Welt. Angewandte Naturwissenschaft und eine totalitäre Oligarchie haben ein Utopia geschaffen, in dem Menschen nach Rezept und aufs präziseste hierarchisch genormt in Fließband-Retorten gezüchtet werden, und in dem die schrankenlose sexuelle Promiskuität aller Fortpflanzungsaufgaben entledigt und unterschiedslos in den ansehnlichen Katalog staatlich garantierter Vergnügen eingeordnet ist. Luxus ist für alle da, Unruhe, Elend und Unsauberkeit sind ausgerottet. Auf der Strecke geblieben sind ferner: Freiheit, Religion, Kunst, Imagination. Synthetisches Glück wird allen gleichermaßen beschert, Individualismus gilt als asoziales Delikt; Hypnopädie und Massensuggestion haben dieses Delikt allerdings praktisch unmöglich werden lassen. Jedes Individuum ist ersetzbar; man stirbt ohne Altersleid, und der Toten Asche wird zwecks Neuverwendung chemisch erschlossen. Das Bild dieser vollkommen "formierten" Gesellschaft wird von drei rebellischen Außenseitern gestört, die von den Entdeckungsreisenden der utopischen Tradition die romantechnische Funktion des ironischen Perspektivenwechsels übernommen haben: Bernard Marx, der in der Retorte einem Fabrikationsfehler zum Opfer gefallen ist und deshalb "wie in der guten alten Zeit" lieben möchte; Helmholtz Watson, der wegen seines sträflichen Hanges zum Schreiben ins Exil muß; und ein wider alle Regeln natürlich geborener (aber durchaus nicht "edler" ) "Wilder" aus einem Indianerreservat, der in der besten aller Welten am wenigsten heimisch wird. Von Krankheit geplagt, schmutzig, masochistisch, atavistisch an Gott glaubend und Shakespeare zitierend, begeht er Selbstmord und wird posthum zu einer Touristenattraktion. - 27 Jahre nach dem Erscheinen seiner Zukunftsvision, die zu einem Welterfolg wurde, veröffentlichte Huxley einen Essayband Dreißig Jahre danach (Brave New World Revisited); unter dem Eindruck der zweiten industriellen Revolution und der Fortschritte in der Technik der Gehirnwäsche und der psychologischen Manipulation des abendländischen Wohlstandsbürgers durch Massenmedien und Reklame argumentierte er, daß seine grausigen Vorhersagen auf dem besten Wege seien, sich in einem bescheidenen Bruchteil der veranschlagten Zeitspanne zu verwirklichen.
      [Lexikon der Weltliteratur. Hrsg. von Gero von Wilpert, Bd. 11, Stuttgart, Kröner 1968, S. 1131]
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      schrieb am 18.06.03 13:56:01
      Beitrag Nr. 4 ()
      Es ist erwähnenswert, daß sich im Laufe der Zeit die Auffassungen von Utopien wandeln. Heute erscheint uns die Utopie des Thomas Morus eher als eine Dystopie, denn es wird dort ein nach unserer Ansicht totalitärer Staat beschrieben.

      Oft sind die Utopien sehr stark geregelte Gesellschaften, weil die Schöpfer der Utopien immer gerade die Mißstände abschaffen wollen, die sie gerade am meisten stören, und dafür scheint ihnen dann oft jedes Mittel recht. Streng genommen ist auch das Zukunftsbild des Marxismus eine Utopie, die menschenfreundlich gemeint war, aber unter dem Wunsch leidet, die "gerechte" Gesellschaft durch machtvolle Eingriffe zu erzwingen - was den realen Marxismus zur Dystopie macht.

      Wer Huxleys Utopie kennen lernen möchte, muß "Moksha" lesen, wo er eine verquaste Form des Buddhismus auf einer Insel vorfindet, wo dann natürlich die Menschen zufriedener und reifer leben. H.G.Wells hat seine Utopie in "Menschen Göttern gleich" veröffentlicht, wo ein modifizierter Sozialismus vorgetragen wird. Gemein ist all diesen Entwürfen neben den massiven Eingriffen in Eigentum, Freiheit und Selbstbestimmung auch, daß ohne weitere Begründung angenommen wird, daß die Utopien funktionieren, was nach unserer Erfahrung wohl in keinem Fall zutreffen wird.
      Avatar
      schrieb am 18.06.03 14:11:42
      Beitrag Nr. 5 ()
      So, und damit es jetzt gleich noch einiges zu diskutieren gibt, kommen jetzt noch kleine "intellektuelle Vorschlaghammer-Texte" aus "Neis, Edgar: Erläuterungen zu George Orwell `Farm der Tiere` (Animal Farm), S. 74-85", über die sich hier irgendjemand sicherlich aufregen können müßte:

      AUFSÄTZE ZUM VERSTÄNDNIS DER PROBLEMATIK

      George Orwell -- Fürsprecher der Unterdrückten
      (Wilhelm Hortmann, Englische Literatur im 20. Jahrhundert, Bern/München 1965, S.111)

      "George Orwells Spanienbericht "Homage to Catalonia" (1938), nach seiner schweren Verwundung im Bürgerkrieg entstanden, zeigt ihn als englischen Sozialisten, jedoch auch schon als erbitterten Gegner des Kommunismus. Als solcher wurde er weitesten Kreisen durch seine berühmte Satire "Animal Farm" (1945; dt. Die Farm der Tiere, 1958) bekannt, jener vernichtenden Fabel über die Revolution der Tiere, in der die Schweine ihre Macht über die anderen Tiere mit stalinistischer Heuchelei und Skrupellosigkeit ausbeuten. Die 1949 folgende Utopie "1984" (dt. 1950) erweitert und detailliert die Anklage gegen den Totalitarismus und zeigt die zynische Zerstörung der physischen und geistigen Freiheit in einem totalitären Regime, das auch die sogenannte innere Emigration durch die Gedankenpolizei ahndet. Ebenso wie in seinen Romanen machte sich Orwell auch in vielen Kurzgeschichten und Essays zum Fürsprecher für die von der Gesellschaft oder vom Staat Unterdrückten. Sein Eintreten für Freiheit und Menschenwürde geschieht in einer unbedingten Ehrlichkeit und Geradheit, die sich keine literarische Ornamentik mehr erlaubt. Demzufolge ist auch sein Stil direkt, ein Muster an plastischer Konzentration, und geht, allen Phrasen feind, auf kürzestem Weg seine Ziele an."

      Absolute Voraussetzungen des Kommunismus
      (Leszek Kolakowski, Professor der Philosophie in Oxford, Interview mit Rheinischer Merkur, 28.8.1980)

      "Als absolute Voraussetzungen schließt das kommunistische System solche Institutionen ein wie strenge Zensur, vollkommene Zentralisierung aller politischen, wirtschaftlichen und militärischen, also auch polizeilichen Gewalt, ferner totale Kontrolle über alle Sphären des Lebens, Ausschluß der Bürger von jeder Partizipation am politischen Entscheidungsprozeß und so weiter. Wird also Kommunismus als streng totalitäre Macht aufgefaßt, dann ist mehr Freiheit, mehr Teilnahme und weniger Unterdrückung, im Hinblick auf das Regime revolutionär.
      Ist es auch richtig, den Kommunismus historisch und ideologisch so zu begreifen, so stellt sich doch heraus, daß er sich nicht durchsetzen kann, wenn er starr und unbeweglich an seinen Prinzipien festhält.
      Ich bin sicher, daß der Totalitarismus sein Ende finden wird. Wir sind nur durch die Möglichkeit beunruhigt, daß er in einer Explosion zusammenbricht, welche die gesamte Menschheit gefährdet. Es muß im Interesse der betroffenen Länder wie des Westens liegen, daß sich das System durch interne Erschöpfung ändert, nicht durch eine Katastrophe."


      Was ist links - UND totalitär?
      (Erik von Kuehnelt-Leddihn, Links steht die Intoleranz, Rheinischer Merkur Nr. 36 vom 7. September 1979)

      "Wie sieht es nun im ideologischen Bereich der Linken aus (oder auch der nationalsozialistischen "Rechten" )? Nun, links ist vor allem der Materialismus: "Der Mensch ist was er ißt" (Feuerbach). Daher handelt der Verbrecher nur unter dem Einfluß "innerer Säfte" (Sade) und eines gesellschaftlichen Drucks, ist also eine willenlose, unschuldige Maschine.
      "Alle Menschen sind gleich", aber "manche sind gleicher als andere", setzte Orwell ironisch in "Animal Farm" in Bezug auf die "Schweine" hinzu, die die Farm für die Tiere von den Menschen erobert hatten. Diese elitär "Gleicheren" haben kollektiv eine messianische Mission, eine Erlöserrolle: das Bürgertum das Proletariat, nordische Menschen, spezifische Nationen, an deren Wesen die Welt genesen soll. Ihnen gegenüber stehen "Untermenschen", die den Tieren oder den Degenerierten zugerechnet werden müssen.
      Dieses Prinzip der Gleichheit (égalité ), gegen das nur verteufelte Minderheiten verstoßen, fördert einen staatlichen Zentralismus, denn was gleich ist kann man über einen Leisten schlagen. Lokale Autonomien, Rechte und Privilegien werden abgeschafft. In der Theorie wird der Staat nicht verherrlicht, sondern nur Klasse, Volk, Rasse, ja man hofft sogar (naiv oder heuchlerisch) auf sein endgültiges Verschwinden. In der Praxis aber wird der Staat zum Leviathan, denn er hat alles zu verändern und zu kontrollieren.
      Das führt zum Totalitarismus und zur Gleichschaltung auf allen Ebenen der menschlichen Existenz. Der absolute Konformismus ist eisernes Gesetz. Jede ideologische, rassische, ethnische, parteiliche Abweichung von der Norm wird gerügt, bestraft oder blutig verfolgt.
      Pate steht für diese Haltung die Französische Revolution, die nicht nur die russische Revolution sondern auch die deutsche Revolution (wie Goebbels rühmend hervorhob) inspiriert hatte. Vom Schlagwort der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit des Jahres 1789 blieb im Verlauf der Revolution allein die Gleichheit übrig. Nur der Sturz Robespierres hatte verhindert, daß man alle Franzosen und Französinnen in Uniformen steckte, die Kirchtürme als "undemokratisch" abtrug und die Elsässer ausrottete, denn sie "bedienten sich nicht der republikanischen Sprache". Von der Guillotine ging der Weg geradewegs zu den Galgen, Gaskammern, Genickschüssen und Gulags.
      Regiert wird im rein-linken Bereich durch Gewalt, die Angst und Schrecken verbreitet, denn nur höchster Druck kann die unnatürlichen Vorstellungen der Linken verwirklichen. Gleichheit und Freiheit widersprechen sich.
      Um die weltanschauliche Nämlichkeit herzustellen, darf nur e i n e Partei herrschen, die auch "einstimmig" gewählt wird. Parteien, die nicht die "Wahrheit" vertreten, haben keine moralische Existenzberechtigung.
      Nicht nur die Massenmedien, sondern auch das Erziehungswesen stehen ausnahmslos im Dienste des Einparteienstaates. "Staatsfeindliche Elemente" werden zum höheren Studium nicht zugelassen, da man an ihrer erfolgreichen Indoktrinierung zweifelt.
      Der Akzent liegt aber schon deswegen auf der staatlichen Erziehung, weil man im Grunde familienfeindlich eingestellt ist, auch dann, wenn man aus außenpolitischen Machtgründen von hohen Geburtenziffern träumt. Die Familie ist eine "intime" und exklusive Einheit, die die Mißgunst und den Verdacht des ideologisch profilierten Einparteienstaates herausfordert. Die Kinder sollen den Eltern entfremdet werden; der linke Totalstaat verfolgt jede Loyalität, die nicht ihm gilt.
      Dieser linke "Allstaat" ist natürlich ein Versorgungsstaat, nicht zuletzt auch deswegen, weil seine sozio-politische Struktur die totale Kontrolle der ganzen Bevölkerung materiell und praktisch möglich
      macht. Alles und alle sollen ausnahmslos vom Staat abhängen Mussolinis "Alles für den Staat, alles durch den Staat, nichts gegen den Staat."
      Der Einparteienstaat ist nicht nur ideologisch eindeutig festgelegt, sondern er arbeitet auch mit einem konkreten Feindbild. Der Feind ist immer ein Gruppenfeind, also ein Klassenfeind, Rassenfeind, Nationalfeind: Juden, "Kosmopoliten", Adelige, Plutokraten, "Pfaffen", esoterische Künstler, "Intellektuelle", Zigeuner, aber auch ideologische Dissidenten und andere "Verräter". Die Bevölkerung wird gegen alle "Schädlinge" mobilisiert und womöglich in einen Zustand der Massenhysterie versetzt.
      Verherrlicht wird ein statistisches Mittelmaß, verdächtigt der außerordentliche Mensch. Natürlich ächtet, assimiliert gewaltsam, exiliert oder ermordet man "Minderheiten". Das demokratische Prinzip der Mehrheitsherrschaft wird zur äußersten Konsequenz getrieben. Wirkliche Eliten sind unerwünscht, außer man erklärt die Mehrheit zur Elite und verfolgt die Minderheit als "minderwertig"
      Das alles harmoniert mit einem Plebejismus, also mit der Doppelbedeutung des Wortes "Volk": So kommt es dann zu Volksdemokratien, Volksempfängern, Volkswagen, Volksgerichten, Volksgefängnissen, Volksarmeen, Volkspolizisten, Volkskammern, Volksstürmen und Volkseigenen Betrieben. Selbstverständlich beruft man sich zu Recht oder Unrecht auf die Demokratie ("Volksherrschaft" ) und verhimmelt den anonymen "Mann aus der Doppelreihe".
      Hand in Hand geht damit ein "Antimonarchismus", da sich ja der Monarch auf das Vaterprinzip stützt. Die Linke aber hat keine Väter und keine Herrscher, sondern an der Spitze einen Mann, der sich höchst bescheiden "Führer" (duce, woshdj, caudillo, conducator) nennt. Dieser ist ein Mann, der nicht Vater, sondern höchst antihierarchisch "Genosse" beziehungsweise "Bruder" sein will, der dann im Endeffekt Orwells "Big Brother" wird.
      Das hängt auch mit dem antivertikalen Horizontalismus der Linken zusammen. Der "Führer" steht nicht für das Land: Er verkörpert das Volk, wobei dieser Terminus wiederum enthnologisch oder soziologisch ausgelegt werden kann. Daß die Tyrannei des "Großen Bruders" bedeutend beschämender und erniedrigender sein kann als die eines Vaters, liegt wohl auf der Hand.
      Damit sind wir beim Sozialismus-Kommunismus angelangt, der als geistig-psychische Folgeerscheinung der Französischen Revolution der heutigen Linken eine spezifische Prägung gegeben hat: Hier ist auch der Sozialmaterialismus mitsamt dem Ökonomismus organisch gut eingebaut. Das Gegenteil des Sozialismus (am besten mit "Gesellschaftswahn" übersetzt) wäre (schon aus sprachlichen Gründen) nicht der Individualismus, sondern ein "Personalismus". Jegliche Doktrin, die die Einmaligkeit des einzelnen Menschen in Abrede stellt, steht automatisch links. Natürlich kann sich jeder Sozialismus (es gibt selbstverständlich auch nicht-marxistische) mit anderen Sozialismen synthetisch verbinden: so zum Beispiel ein klassenbetonter Sozialismus mit einem völkischen Sozialismus wie im "Deutschen Nationalsozialismus", ein völkischer mit einem rassischen oder auch ein völkischrassischer mit einem klassenbewußten. Der Grundton bleibt immer die Feststellung: "Du bist ein Niemand - die Kollektivgruppe ist alles."
      Die Dynamik der Linken ist besonders gut entwickelt, wenn der Neid eingesetzt wird und die fremdrassige, fremdvölkische oder elitäre Minderheit dank der Zufälle, historischen Gegebenheiten oder spezifischen Qualitäten eine privilegierte (zumeist materielle) Ausnahmestellung besitzt. Dann kann nicht nur mit außerordentlichen Steuern, brutalen Enteignungen, sondern auch mit Massenexilierungen und im Notfall selbst mit einer Massenausrottung gegen sie vorgegangen werden. Die bitteren Anschuldigungen: "Du dünkst dich besser, du glaubst, du bist gescheiter, du hast mehr als ich und verdienst müheloser", sind linke Grundmotive. Dabei wird das Alibi der "Sozialgerechtigkeit" (lies: Gleichheit und Nämlichkeit) vorgebracht.
      Mit Rechtlichkeit haben diese Tendenzen nichts zu tun, denn die Linke denkt revolutionär (d. h. rechtslos) und dabei utilitaristisch. "Recht ist, was dem deutschen Volke nutzt" (Hans Frank). Das ist aber nichts anderes als das Prinzip von Lenins Ruf nach "Parteilichkeit", die alle Gesetzlichkeit relativiert und den sittlichen Charakter der Wahrheit gewollt übersieht. Selbstverständlich wird der Privatbesitz radikal und total abgeschafft. Besitz verschafft Freiheit, und Freiheit ist verdächtig.
      Durch viele dieser Säkulardogmen und Charakterzüge wird die Linke im scharfen Gegensatz zu den großen monotheistischen Religionen gebracht, denn diese sehen im Menschen kein immanentes, sondern ein transzendentes Wesen - und kein verstaatlichtes Säugetier. (Mit dieser Immanenz ist auch der tierische Ernst und die Humorlosigkeit der Linken in Bezug auf klassenlose Gesellschaften und Revolutionen tiefst verbunden.)
      Zweifelsohne sind dann Kirchen ein Hindernis für den "Fortschritt", und diese können entweder vernichtet (Albanien) oder als Staatskirchen (Tschechoslowakei, Rumänien, China) versklavt werden. In einem echtsozialistischen, totalitären Staat ist eine unabhängige Kirche ein "kapitalistisches Überbleibsel", ein Anachronismus, der früher oder später aus der Welt geschafft werden muß. Selbstverständlich verherrlicht die Linke stets ihre die Vergangenheit bewältigende Revolution (oder ihren "Umbruch" ) als große Tat, was auch mit ihrer Geschichtsfeindlichkeit zu tun hat. Die "Internationale" versprach, mit der Vergangenheit "reinen Tisch` zu machen. Man hat den Blick chiliastisch auf eine nie zu verwirklichende Utopie gerichtet: Ein "Edenismus" will ein Paradies auf Erden schaffen, das vom Menschen "gemacht" wird. ("Alles ist machbar" für die Linke.) Die Erde ist für sie kein Tal der Tränen, die Erbsünde ein klerikales Hirngespinst, das Glück "aller" kann durch Medizin, Technik, Abbau von "Vorurteilen" und soziale Einrichtungen erzielt werden. Es gibt für sie keine Grenzen der Perfektibilität. Wenn keine Träne mehr fließt wird auch die Religion mit ihren Bindungen und Tröstungen überflüssig.
      Nicht unerwartet hat "links" in allen Sprachen eine negative Bedeutung. Im Italienischen ist das am prägnantesten. "Il sinistro" ist der Unfall, "La sinistra" = "die Linke."


      Die Gefahren der Diktatur
      (Eugène Ionesco, Von der Notwendigkeit, den Materialismus zu überwinden, Rede in St. Gallen, übersetzt von Lore Kornell, Süddeutsche Zeitung Nr. 184 vom 11. August 1979)

      "Tatsächlich gibt es keine Ideologie mehr, keine Philosophie, keine Kunst ja selbst die Wissenschaft ist in den totalitären Ländern der Politik unterworfen, Wissen und Kreation ebenfalls. Wenn wir sagen, es gibt weder Ideologie noch Philosophie, so meinen wir, daß keinerlei freies Denken von der Politik mehr gestattet wird. Jedwede Politik sollte eine Perspektive anvisieren, die über sie hinausgeht. Doch die Religion ist tot, oder sie schläft. Der Marxismus war eine ganzheitliche Doktrin, die mittels politischen Handelns zur Befreiung von Mensch und Geist und in aller Freiheit zur philosophischen oder wissenschaftlichen Erkenntnis führen sowie der Suche nach unserem Endzweck dienlich sein sollte. Aber statt zur erhofften Befreiung ist sie zu fanatischer, stumpfer Bindung geworden, die jede Kritik und jede Infragestellung ablehnt.
      Wir wissen sehr wohl, daß die Kader der Ostländer und ihre Führer nicht mehr an den Marxismus glauben. Absoluter Zynismus und eine starke biologische Vitalität ist alles, was von ihrem revolutionären Glauben übriggeblieben ist und sie in ihrem Kampf um die Weltherrschaft antreibt: um das imperium mundi, gemäß der prophetischen Definition Spenglers. Demnach geht es allein um die Verführung der Macht um der Macht willen. Ganz primitiv! Der Stärkste zu sein, um der Stärkste zu, sein, ein grimmiger Kampf, der skrupellos geführt wird, denn Ideologien und moralische Begründungen sind verschwunden, sie sind dem nackten Kampf um die Eroberung des Planeten und seiner materiellen Reichtümer gewichen, sei es in Asien, im Vorderen Orient, in Afrika oder sonstwo. Freilich sprechen die marxistischen Zyniker von einer marxistischen Eschatologie, von einer utopischen Gesellschaft, die sie verwirklichen werden, von der Beherrschung aller Naturkräfte durch
      den Menschen und davon, daß schließlich die so erreichte Freiheit und Brüderlichkeit in der Welt herrschen werde. Lesen wir die Bücher all der sowjetischen Dissidenten, des Samisdat, wenden wir uns an diejenigen, die noch in ihrer Heimat sind und zu uns reden können, wie Sacharow und viele andere, lesen wir die Bücher jener, die fliehen konnten und hier bei uns sind, und wir werden erfahren daß die westlichen Gesellschaften ihnen vielleicht mißfallen, daß aber die Gesellschaften, die sie verlassen haben, tausendmal abscheulicher sind. Die Revolutionen sind gescheitert. Ein Buch ein ungarischer "Samisdat", ist letzthin in Ungarn erschienen. Darin fragt eine ungarische Journalistin dreißig der bedeutendsten ungarischen Schriftsteller, ob sie noch an den Marxismus glauben. Die Antworten sind einstimmig negativ. Wir wissen alle, daß es in unseren Ländern soziale Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten gibt. Aber bei uns kann man protestieren und Forderungen stellen. Ungleichheiten, Ungerechtigkeiten sowie enorme Privilegien und härteste soziale Hierarchien wuchern in den Ländern, die sich sozialistisch nennen und in denen Opposition, Proteste und Forderungen seit langem verboten sind. Majakowskij und Jessenin, die Dichter, die Künstler der Oktoberrevolution von 1917 haben nahezu sämtlich Selbstmord begangen. Hunderte, Tausende anderer wurden eingesperrt, ermordet oder moralisch vernichtet. Die letzten schweigen oder haben. ihr Talent verkauft.
      Solschenizyn und seine Freunde sind nicht die einzigen, die die Wahrheit bezeugten und nach Freiheit riefen. Viele andere taten es und mußten mit ihrer persönlichen Freiheit oder ihrem Leben dafür bezahlen.
      Es kann kein Leben, kein kulturelles Leben, ohne Metaphysik und Spiritualität geben. Für die Kultur müßten Metaphysik und Spiritualität den Brennpunkt bilden, und wenn auch die Biologen Gott und die Beschäftigung mit den Letzten Dingen abgeschafft haben: die großen Physiker haben sie nicht verleugnet. Und selbst unter den Ärzten und Biologen gibt es Leute wie den großen Jean Bernard, der zu Gott betete, damit er ihm bei seinen Forschungen über die Blutkrankheiten beistehe; das hat er bei einer Rundfunksendung ("radioscopie" ) Chancel gegenüber gestanden. Louis de Broglie, einer der Begründer der modernen Physik, ist gläubiger Katholik; Einstein war überzeugt, daß eine höhere göttliche Macht die Welt leite. Im Zusammenspiel und in der Entwicklung der kosmischen Kräfte glaubte er, wirke ein göttlicher Plan. Weder Heisenberg noch Plank waren Atheisten. Leprince Ringuet von der Académie Francaise, ein außergewöhnlicher Physiker auch er, ist Christ. Nur die Journalisten, die Literaten, die Ideologen, die Philosophen zehnten Ranges spotten Gottes und meinen, der Glaube an Gott sei eine verwerfliche Schwäche.
      Ich betone, daß die Politik, so wie sie betrieben wird, nur ein Zeitvertreib ist, ein dramatischer oder tragischer Zeitvertreib, ein grausamer auch, den man sich leistet, ohne wirklich daran zu glauben. Die Leute stellen sich vor, es sei die einzige Zerstreuung, die uns trotz allem erlaubt, zu leben. In Wirklichkeit stirbt man an der Politik. In Wirklichkeit ist die Politik selbst tot, da, wie wir sagten, die Ideologien und die Philosophien, von denen sie zu stammen vorgibt, tot sind. Ich fasse zusammen, was ich bisher gesagt habe: Wir leben in einem Chaos, mit dem niemand zufrieden ist, in dem subrationale, niedrigste, rein materialistische, in ihrer Verblendung unheilvolle Mächte wirken. Wir sind in einem außer Rand und Band geratenen Räderwerk gefangen.
      Wenn Gott nicht existiert, sagt jemand bei Dostojewski, dann ist alles erlaubt. Wir sind jetzt auf der Suche nach den ewigen Verhaltensgrundlagen, die die Politik moralisieren und sogar der Metaphysik zuwenden könnten. Andernfalls gehen wir dem Untergang der Menschheit entgegen, den die französischen Ideologen mit einer Art finsterer Freude oder mit enttäuschtem, unglücklichem Zynismus verkünden. Wenn wir nicht zu unseren Grundlagen zurückfinden, dann droht sehr bald eine Rückentwicklung des Individuums, eine Rückentwicklung der Menschheit. Die Krise ist fundamental. Wir schreiten auf einem gespannten Seil wie Artisten, jeden Augenblick in Gefahr abzustürzen. Worum es geht? Um welches Ziel geht es? Es geht ganz einfach um das Problem des Seins, des Überlebens des menschlichen Wesens in der Weit.
      Die Menschheit lebt nur durch die Kultur. Sie ist der Garant der menschlichen Existenz in der Welt.
      In seinem Buch "Utopischer Sozialismus" meint Martin Buber, der Sozialismus hätte den Weg zur Kultur ebnen können. Doch er führte zu einem Zerfall, zu einer Zertrümmerung wie sie schlimmer weder die kapitalistische noch sonst eine Gesellschaft je hätte bewirken können. Es gibt in der Welt ein Übermaß an Bösem; einer der Aspekte dieses Übermaßes an Bösem, um den Ausdruck Philippe Memos zu gebrauchen, ist der Staat. Der liberale Staat, der manchmal mild, manchmal schwach war, ist, wie wir wissen, von einem
      anderen, von einem gewalttätigen, unerhört unduldsamen Staat, abgelöst worden. Die Konzentration der Macht, der ungehemmte, unterjochende Staat, ist der Tod des Menschen. Eine gerechte Ordnung ist ohne Barmherzigkeit und ohne Liebe nicht möglich. Ich weiß, diese beiden Worte sind verfemt, und ich bitte Sie, nicht darüber zu lächeln, daß ich sie ausgesprochen habe. Der Staat ist eine enorme Maschine geworden, die das Individuum zermalmt.
      Etwas Schlimmeres - wenn es Schlimmeres geben könnte - ist im Werden: Diese enormen Maschinerien, als die diese monströsen Staaten sich erweisen, prallen aufeinander. Sie werden aneinander zerbrechen. Vielleicht wird sich dann die Humanität und das unumgängliche Gleichgewicht zwischen dem Menschen und der Gesellschaft wiederfinden lassen. Die Staaten bestehen nur weiter durch ein Übermaß an Gewalt, durch bänden Druck; doch die Gewalt, die sie gegeneinander ausüben, ist bereits Zeichen ihrer Zersetzung. Übrigens sind die Utopien, auf die ich hinwies, längst entmystifiziert, das Übel ist diagnostiziert, die aufgeklärten Geister wissen und verkünden es. Doch es braucht noch seine Zeit, bis die offensichtlichen Wahrheiten all jenen Leuten klar werden, die heute noch die Massen, die Mengen bilden. Wir brauchen die Mengen nicht. Der monopolisierende Staat schafft sie. Bald, so hoffen wir, werden diese Mengen jedoch wieder zu vielfältigen Vereinigungen freier Menschen werden, zu immer unterschiedlicheren, immer selbständigeren, immer persönlicheren freien Menschen innerhalb der Einheit ihrer Gesellschaft, der Gesellschaft.
      "


      Druck aus Angst vor dem eigenen Volk
      (Hans Heigert, Die Angst vor dem Volk, Süddeutsche Zeitung Nr. 242 vom 19.10.1980.)

      "Diktatoren und ihre Funktionärskader haben eine schon fast panische Angst, daß ihnen das eigene Volk innerlich und äußerlich davonlaufen könnte. Was also machen sie? Sie greifen in die ältesten Kisten der Unterdrückungswerkzeuge: sie verstärken die Repression, grenzen ab, schließen die Schotten, und machen sich selbst mit allerhand Drohgebärden Mut. Primitive Feindbilder werden aufgebaut, und seien sie noch so abgegriffen, damit dem eigenen Volk "Schuldige" dargeboten werden, notfalls auch einschlägige "Agenten" dingfest gemacht und aller Welt mit großem Palaver vorgeführt werden können. Was da verfügt wird, ist wirklich die phantasielose Reaktion der Angst. Was macht der Gefängniswärter, wenn ihm die Eingeschlossenen auszubrechen drohen? Er zieht den Stacheldraht noch höher.
      Aber Kritik und Zweifel am eigenen System verstärken sich trotzdem, dazu kommen wirtschaftliche Krisen, die den ohnehin kargen Lebenszuschnitt wieder reduzieren und die Hoffnung auf Besserung versickern lassen. Dies alles führt zum Zusammenbruch der sozialistischen Ideologie. ?Sozialismus" wird noch befohlen, juristisch verabreicht, von Kreisleitern exekutiert und allüberall ritualisiert - doch geglaubt wird er nicht mehr: weder als System der "Befreiung" noch als Synonym für "Gleichheit" oder "Gerechtigkeit".
      Die Verweser der Macht, die ihrerseits längst keine politischen Führer, etwa gar "Arbeiterführer" mehr sind, wissen das. Aber beschränkt, wie ihr innerer und äußerer Spielraum ist, fällt ihnen kein anderer Ausweg aus dem Dilemma ein als eben mehr Druck, mehr Zensur, mehr "Daumen drauf". Jahre extensivster ideologischer Erziehung und Indoktrination haben offenbar nichts genutzt. Dem Volk ist einfach nicht zu trauen... Solche Regime können sich mitunter lange halten, doch sie überleben nicht in der Geschichte."

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      Avatar
      schrieb am 18.06.03 14:21:10
      Beitrag Nr. 6 ()
      Meine volle Zustimmung für Posting # 4 und nun wünsche ich allen Lesern für morgen einen schönen und sonnenreichen Feiertag und verabschiede mich erst mal bis mindestens zum Freitag.
      Tschüß,
      Auryn
      Avatar
      schrieb am 18.06.03 14:28:03
      Beitrag Nr. 7 ()
      Anti-Utopien sind keine Utopien, sondern in Machtgesellschaften Realität. Daher nehmen alle "Sozialromatiker" ihre Kraft, sie wissen, dass die wirklich Welt eben gerade nicht OK ist wie sie ist.

      Interessant in diesem Zusammenhang der Hinweis auf den Hedonismus in 1984 zur Überwindung der Macht oder als Flucht - aus matriarchaler Sichtweise eine ganz neue Deutung!
      Avatar
      schrieb am 18.06.03 16:51:48
      Beitrag Nr. 8 ()
      Also Auryn, das ist ja stark: erst einem einen Haufen Text vor den Latz knallen (sozusagen: "Nun seid schön brav und lest das mal." ) und dann bis Freitag verduften ... :mad:
      Avatar
      schrieb am 18.06.03 16:56:04
      Beitrag Nr. 9 ()
      Die langen Texte sind schwer komplett zu beantworten - vielleicht solltest du sie künftig ein wenig "choppen"?
      Zur Utopie an sich: Warum redest du über Orwell und nicht unverschleiert über die Väter des Kommunismus?
      Avatar
      schrieb am 18.06.03 17:23:23
      Beitrag Nr. 10 ()
      das hier werde ich mir mal merken und wenn ich zeit habe davon etwas lesen!
      Avatar
      schrieb am 18.06.03 17:26:16
      Beitrag Nr. 11 ()
      Auryn,
      ist es deine Absicht, hast du ihn vergessen, oder habe ich ihn überlesen:
      Theodor Herzl, Auslöser des Begriffs "Zionismus" mit seiner Idee vom Judenstaat

      "Ist das, was ich sage, heute noch nicht richtig? Bin ich meiner Zeit voraus? Sind die Leiden der Juden noch nicht gross genug?
      Wir werden sehen.
      Es haengt also von den Juden selbst ab, ob diese Staatsschrift vorlaeufig nur ein Staatsroman ist. Wenn die jetzige Generation noch zu dumpf ist, wird eine andere, hoehere, bessere kommen. Die Juden, die wollen, werden ihren Staat haben und sie werden ihn verdienen."
      (Theodor Herzl in seiner Vorrede zum "Judenstaat" )"

      (www.jafi.org/il/education/100/german/people/Theodor_Herzl.html)

      Ist das Staatskonstrukt "Israel" die Anti-Utopie zu Herzls Idee? Ist überhaupt Anti-Utopie die Negation von Utopie, also "Realität"?
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 16:43:51
      Beitrag Nr. 12 ()
      Hm, O.K., sieht so aus, als hätte ich Euch vorgestern mit Text erschlagen. Naja, ich dachte eben, meine Profs machten das früher genauso und da hat`s auch immer interessante Diskussionen in den Tagen nach der Text-Austeilung gegeben, aber ich vergesse immer wieder, daß Ihr ja keine guten Noten haben wollt.
      :D
      Egal, ich beantworte jetzt alle wenigen aufgelaufenen Postings in chronologischer Reihenfolge:

      @ LostLilith (Posting # 7)
      Ich wäre mit der aus Deinem Posting anzunehmenden Schlußfolgerung sehr vorsichtig, denn der Hedonismus (wenn nicht schon die Promiskuität) Julias ist in diesem Roman nichts Erstrebenswertes, sondern nur das Gegenteil dessen, das die Partei für ihre Mitglieder in diesem Roman propagiert. Dieses Gegenteil in Form von Promiskuität ist eine verzweifelte Form des Protests und des persönlichen Aufbegehrens, aber nichts, was in dieser Welt von "1984" als "Ziel" zu befürworten wäre.
      Selbst die Hauptfigur Winston Smith sagt desillusioniert mal zu Julia: "You are only a rebel from your waist downwards."
      Die Sexualität ist - wie das meiste bei Orwell - eine "Sache" mit zwei Gesichtern und doppeltem Boden:
      Zu "weich" für die Partei in "1984" ist derjenige, der zu irgend etwas Zuneigung empfindet, deswegen ist auch jeglicher Geschlechtsverkehr verachtenswert; er ist nur untervöllig unromantischen und entwürdigenden Bedingungen zugelassen. O`Brien versichert Winston, daß die Neurologen der Partei darüber nachsinnen, wie man den Orgasmus beseitigen könne. So besteht einerseits die Sicherheit, daß niemand persönliche Bindungen entwickeln kann, die auf irgend eine Weise die völlige Unterwerfung des einzelnen unter den Staat verändern könnten, andererseits schafft sexuelle Frustration einen Zustand von Hysterie, welcher der Partei nützlich ist. Jegliche Handlung eines jeglichen Untertans wird auf dem Bildschirm beobachtet und bespitzelt. Privatleben jeder Art ist verboten.
      Eine totalitäre Gesellschaft muß offensichtlich ihrer Art nach traditionelle Grundsätze von Liebe und Ehe -die stärksten Kräfte eines Fundamentes jenseits der Macht des Staates - bekämpfen. Die einfachste Art, Romantik, Liebe und Ehe zu vernichten, liegt in der Überbetonung des mechanischen Vorgangs innerhalb des Geschlechtsaktes, um ihn so weit wie möglich von der Vorstellung der Zeugung zu trennen, um dann den Sexualhunger wie jeglichen physischen Hunger zu behandeln, der gestillt werden kann, so wie man den Appetit nach Würstchen stillt - brutal, ohne Zögern und ohne Zuneigung.
      (Zit. n. Lindken, Hans-Ulrich: Erläuterungen zu George Orwells "1984", S. 11)
      In "1984" dient der "Puritanismus" der Partei im Hinblick auf die Sexualität nur zur Erzeugung sexueller Frustration, die die Partei zur Erzeugung von Aggressionen und politischer Hysterie gegenüber den "Staatsfeinden" nutzt. Die große Masse der unpolitischen Bevölkerung (die "Proles" ) hingegen soll ihre sexuellen Neigungen und Regungen ungehemmt ausleben, um möglichst unpolitsch zu bleiben, was mit der staatlichen Erzeugung und Verteilung von Massen-Pornographie noch gesteigert wird: "Proles and animals are free!"
      Der eigentliche Feind der Staatsführung in "1984" ist daher weder "freie Sexualität", noch deren Hemmung. Der gefährlichste Feind des Staates ist die Familie mit ihren privaten Erziehungsmöglichkeiten und ihren emotionalen Bindungen und dieser Feind wird durch totale Überwachung ausgeschaltet.
      Genau dies entsprach auch - unglaublich, aber wahr - der Realität im Stalinismus, denn Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre gab es einen Jungen, der in der ganzen Sowjetunion den parteilichen Jugendorganisationen von der Propaganda als Vorbild präsentiert wurde: Er hatte seinen Lehrern gemeldet, daß seine Eltern versucht hatten, andere Bauern vom Eintritt in Sowchosen abzuhalten und überhaupt gläubige, orthodoxe Christen waren. Die Eltern wurden tatsächlich als "Volksfeinde" hingerichtet und der 11jährige Junge wurde unter Stalin ein rußlandweit gefeierter Komsomolze mit "erstklassiger Staatserziehung", dem in allen Schulen als großes Vorbild gehuldigt wurde.
      Hübsch, gell?
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 16:55:50
      Beitrag Nr. 13 ()
      @ Mirabellchen (Posting # 9):
      a)Ich werde das "choppen" versuchen.
      b) Weil der "theoretische Totalitarismus" nicht zwangsläufig nur im "Kommunismus" zu finden sein muß.
      Die "Schöne neue Welt" von Aldous Huxley ist zweifelsohne "totalitär", aber sie ist nicht wirklich "kommunistisch", denn es ist eine enthumanisierte Wohlstands-Gesellschaft, deren Ziel das "größtmögliche Glück" für alle Menschen ist, wobei diese seit ihrer Geburt durch Züchtung und Klonung in verschiedene Arbeitsklassen eingeteilt sind.
      Es gibt anders als im "Glück des Kommunismus" eine Menge verschiedener "Klassen", aber diese sind schon seit vor ihrer Geburt genau darauf hin programmiert, ihre Klassen toll zu finden und diese niemals zu verlassen.
      Noch besser: Obwohl die "Brave new World" Huxleys zweifellos "totalitär" ist, treffen auf sie die meisten Kennzeichen des politologischen Totalitarismus-Schemas nach Hannah Arendt gar nicht zu !
      Warum sollte ich also "unverschleiert" über die "Väter des Kommunismus" sprechen?
      Totalitarismus muß nicht unter allen Umständen ein "kommunistisches Gesicht" haben, obwohl dies in unserer realen Welt das bisher einzige offen erkennbare "Gesicht" war.
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 17:11:39
      Beitrag Nr. 14 ()
      Es ist zwar wirklich nur ein Randaspekt der Geschichte, aber nur weil Julia gut im Organisieren von Fressalien ist von Hedonismus zu reden, halte ich für völlig überzogen.
      Und wenn Winston durch Julia anstelle von Muggefuck mal zu einem richtigen Kaffe kommt, ist das wohl kein Luxus- und Konsumrausch.
      Ausserdem betrachte ich es eher als Protesthaltung denn Hedonismus den Inner Party Membern gegenüber, denen diese Güter zur Verfügung stehen, aber dem Rest wird es vorenthalten.

      By the way, Orwell feiert gerade 100 jährigen Geburtstag und in der Zeit ist dem Anlass gemäss eine wunderbare Kurzbiographie über ihn zu lesen.

      http://www.zeit.de/2003/26/A-Orwell
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 17:13:23
      Beitrag Nr. 15 ()
      Ach, Auryn, es gibt einige Unterschiede zwischen der Universität und dem W: O-Board! :rolleyes:
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 17:15:27
      Beitrag Nr. 16 ()
      @ Mirabellchen (Posting # 11):
      Mir ist im Moment der Zusammenhang Deiner Frage mit meinem Thema über "Anti-Utopie" & "Totalitarismus" & "Realität" leider nicht ganz klar. Wo genau ist bei Deiner Frage außer der Realität der Existenz Israels der Zusammenhang mit den zwei Themenbereichen "Anti-Utopie" und "Totalitarismus"?
      Industrieller Massenmord im Nazi-Totalitarismus als notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung der Herzl`schen "Utopie" nach dem Untergang des spezifisch rassisch-völkischen Totalitarismus?
      Ja, könnte sein.

      Herzl hat mit seiner Schrift zu Gründung eines jüdischen Staates nach meinem Verständnis eher eine Utopie (= in diesem Zusammenhang eine Verwirklichung fordernde Zukunftsvision), aber keine Anti-Utopie geschrieben.
      In Posting # 467 in Thread: Internationale Politik, Moral und monokausale Historien-Malerei hatte ich Dich schon auf ein Verständnisproblem hingewiesen:
      Eine "Anti-Utopie" ist im literarischen Sprachgebrauch mitnichten das Gegenteil einer "Nicht-Realität" und damit die Darstellung einer Realität.
      Die "Utopie" ist im literarischen Sprachgebrauch die Bezeichnung einer literarischen Beschreibung einer fiktiven "vollkommenen, idealen Gesellschaft"!
      Die "Anti-Utopie" ist davon abgeleitet die literarische Beschreibung einer ebenfalls (noch) fiktiven "nicht-idealen, und meist erschreckenden Gesellschaft", vor deren Verwirklichung in der Realität der Autor der Anti-Utopie meist warnen möchte!

      Israels Existenz oder der frühere Wunsch zu seiner Gründung ist aus meiner Sicht im literarischen Sinne weder so richtig das eine noch das andere. Man könnte Herzls Schrift in ihrer Zeit eher als "politische Utopie" betrachten, von der niemand geglaubt hätte, daß sie jemals Wirklichkeit werden könnte.
      Ich kann mir persönlich auch wünschen, in einem Insel-Staat nach Thomas Morus` Vorbild zu leben, in dem nur evangelisch-lutheranische Deutsche aus Osteuropa Staatsbürger werden dürfen, aber ich hätte große Zweifel, ob das eine Utopie wäre und ob sie Wirklichkeit werden könnte.
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 17:22:45
      Beitrag Nr. 17 ()
      @ ODDLOT (Posting # 14):
      Vielen Dank für den Link!
      Aber hast Du bei Deinem Gesamtposting nicht irgendetwas übersehen?
      Wo geht es denn bei Julias Hedonismus allein um Fressalien?
      Es geht hier um wirklich wichtige Sachen (oder wie Marcel Reich-Ranicki sagen würde):
      "Ef geht natürlich nur um daf eine: FEXf, FEXf und nochmal FEXf !!!"
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 17:25:03
      Beitrag Nr. 18 ()
      P.S.: Um Posting # 17 wirklich zu verstehen, ist es natürlich notwendig, in Posting # 12 meine Antwort an "LostLilith" zu lesen.
      ;)
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 17:31:14
      Beitrag Nr. 19 ()
      Ich schreibe hier mal den Klappentext aus Steven Bellers (Jahrgang 58) Buch "Theodor Herzl" (1996) auf:

      Für viele ist Theodor Herzl heute eine historische Figur, die nach der Shoa kaum begreifbar ist. Sein oft wüster Antisemitismus, sein deutscher Nationalismus scheinen unvereinbar mit seiner Rolle als Begründer des politischen Zionismus und "Vater des Staates Israel".
      Aber indem Steven Beller hier das ungeschminkte Bild einer komplexen Persönlichkeit zeichnet, die lebenslang auf der Suche nach der Lösung der "Judenfrage" und nach seiner eigenen Identität war, gelingt ihm eine schlüssige, überraschende neuinterpretation einer der großen Gstalten derneueren Geschichte.
      Herzl kommt aus der Haskalah, der jüdischen Aufklärung, und mit seinen stark westeuropäisch geprägten Ideen nimmt er einen bestimmenden Einfluß auf jüdisches Denken und jüdische Identität und damit auf das moderne Denken und die gesamte Moderne überhaupt.
      Theodor Herzl hat uns noch viel zu sagen: speziell der Bewegung, die er schuf, und dem Staat Israel. In einer Zeit, in der soviel über Charakter undZukufnt Israels diskutiert wird, bietet Herzl eine liberale und tolerante Vision jüdischer Identität und des jüdischen Staates, die - so Beller - gerade heute wichtiger ist als je zuvor.
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 17:38:20
      Beitrag Nr. 20 ()
      Schön, schön, Mirabellchen. Ja, und?
      Es gibt da an der Bundeswehr-Hochschule in München einen Professor Dr. Michael Wolffssohn, der von sich sagt, er sei etwas "sehr aus der Mode gekommenes": "Ein jüdisch-deutscher Patriot, von denen es wegen der unseligen deutschen Geschichte nur noch sehr wenige gibt."
      Wenn es 2003 noch solche seltenen Exemplare gibt, was ist dann an Herzl im 19. Jahrhundert so besonders und worauf willst Du eigentlich hinaus?
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 17:40:42
      Beitrag Nr. 21 ()
      Auryn, die paarmal wo die beiden wegen der absoluten Überwachung und mangels Gelegenheit die Möglichkeit haben es zu treiben, da kann wohl nur ein Asket von Hedonismus reden.

      Und die wenigen Szenen, bei denen es dann zum Sex kommt, werden dann durch anwesende Ratten und anderes Ungeziefer auch noch gewaltig vermiest.
      Von Hedonismus ist nicht die geringste Spur zu erkennen.
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 17:41:16
      Beitrag Nr. 22 ()
      P.S.: Ich glaube, er sagte sogar "deutsch-jüdischer Patriot".
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 17:43:18
      Beitrag Nr. 23 ()
      @ ODDLOT:
      Ja, aber Du vergißt, daß beide Mitglieder der äußeren Partei sind und ein solches Treffen für jene einem "staatsfeindlichen Verbrechens-`Akt`" gleichkommt, das normalerweise mit dem Tode bestraft wird oder werden kann.
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 17:52:49
      Beitrag Nr. 24 ()
      Noch`n P.S. für ODDLOT (Posting# 21):
      Die entstehende Liebe zwischen Julia und Winston hat immerhin so weitgehende Bedeutung, daß beide äußerlich nach ihren Treffen von physischen Leiden genesen: Julia trug anfangs noch den Arm in einer Binde und Winston litt unter einem Krampfaderekzem. Die entstehende Liebe schafft im Roman für sie gleichsam eine "heile" Welt auch in einem rein physischen Sinn.
      (Schließlich arbeitet Julia nicht umsonst im "Fiction Department", in dem pornographische Literatur hergestellt wird, aber zu Büchern im allgemeinen hat sie zu Winstons Enttäuschung kein besonderes Verhältnis, weshalb er ja auch "You are only a rebel from the waist downwards" zu ihr sagt.)
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 17:54:51
      Beitrag Nr. 25 ()
      Ups, ich sehe gerade, daß ich für heute wieder weg muß. Tschüß und vielen Dank!
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 17:54:53
      Beitrag Nr. 26 ()
      Totalitarismus muß nicht unter allen Umständen ein "kommunistisches Gesicht" haben, obwohl dies in unserer realen Welt das bisher einzige offen erkennbare "Gesicht" war.

      deutlicher als auryn selbst, kann man das verengte blickfeld seiner eigentümlichen welt nicht beschreiben. wenns nicht so traurig wäre - für einen gelernten politologen stellt er sich dazu noch ein ausserordentliches armutszeugnis aus - dann könnte man in heftiges :laugh::laugh::laugh: ausbrechen, ob solcher wissenschaftlich verbrämten einfaltspinselei.
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 17:59:41
      Beitrag Nr. 27 ()
      Auryn, du findest also Herzl weniger wichtig als die literarische Unterleibsrebellin Julia. Nun ja, er war ja auch nur der Schöpfer der Idee eines zionistischen Staates. Das wird sicher nicht so wichtig genommen wie z. B. eine Schlagzeile aus der Literatenpresse der 60er, die da lautet: Ich liebe wen ich will! und die Betthupferlgeschichten einer weiblichen Person dem falschen Publikum nahelegt.
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 17:59:53
      Beitrag Nr. 28 ()
      Aber liebste "antigone",
      wieder schlecht gelaunt, weil Dir nie irgendwelche Beweise für totalitäres Verhalten der Demokratien eingefallen sind?
      Erzähl mir doch mal ein paar Deiner Totalitarismus-Kriterien für die USA, wenn Du kannst!
      Wie wär`s mit totaler Massen-Medienkontrolle wie in der Sowjetunion?
      Hm, geht wohl nicht?
      Oder Einparteienstaat?
      Hm, geht wohl auch nicht?

      Na, was klappt denn bei Dir ? HM?
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 18:10:21
      Beitrag Nr. 29 ()
      @ Mirabellchen:
      Woraus - bitte schön - schließt Du denn nun wieder, daß ich Herzl weniger wichtig nehme als die Romanheldin Julia?
      Es geht um das Thema, DAS THEMA ...
      :cry:
      Was willst Du denn nun von mir hören?
      :cry:
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 18:15:56
      Beitrag Nr. 30 ()
      auryn.
      politik für anfänger.
      erstes semester.
      das dürfte dir weiterhelfen :laugh:
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 18:18:02
      Beitrag Nr. 31 ()
      Und spezielle Fragestellungen für das eigentümlich verengte Blickfeld der speziellen Welt von "antigone" (s. Posting # 26) könnten unter anderem auf folgenden Diskussionsgrundlagen beruhen, wie sie in der eigentümlichen Welt aller deutschen Universitäten gelehrt werden.
      Anhand dieses folgenden Beispieltextes, der allen deutschen Universitäten vorliegt, bitte ich doch unsere hochgeschätzte "antigone" (die mich im übrigen ebenfalls für "geistig gestört" hält, wie das bei meinen freundlichen politischen Antipoden gerne kolportiert wird), den Totalitarismus der USA in Vergleich mit dem in Nordkorea oder in Ceausescus Rumänien zu setzen, über das sie ja sicherlich millionenfach mehr weiß als meine Wenigkeit, die von dort herstammt, nicht wahr?:

      DISKUSSIONSTHESEN
      zur Würdigung des Begriffs
      "Totalitarismus"

      A) Zu den Elementen der "Totalitarismus"-Konzeption
      1) Der Begriff "Totalitarismus" ist, wo er phänomenologische Gemeinsamkeiten zwischen faschistischen und kommunistischen Systemen bezeichnen will, primär auf die Herrschaftsorganisation und die Machttechnik bezogen.


      2) Der Begriff "Totalitarismus" wurde auf Phänomene politischer Herrschaft angewandt, welche die überkommenen Kategorien der klassischen Staatsformenlehre sprengten und auch durch besondere Qualifikationen der Monokratie (Tyrannis, Absolutismus, Autokratie etc.) nicht mehr zureichend charakterisiert werden konnten.
      Von anderen Formen autoritärer Herrschaft unterscheidet sich eine totalitäre Herrschaft durch die Ausdehnung seiner Herrschaftsorganisation über einen umgrenzten "staatlichen" oder "politischen" Bereich hinaus auf die gesamte Gesellschaft und durch seine Forderung an die "Massen", sein Herrschaftssystem nicht nur hinzunehmen, sondern aktiv zu unterstützen.
      Die Mobilisierung von "Massenaktivitäten" soll dem totalitären Regime eine ex-post-Legitimierung liefern. Durch den pseudo-demokratischen Charakter dieser manipulierten ex-post-Legitimierung erweist sich der moderne Totalitarismus als ein (abartiges) Phänomen des demokratischen Zeitalters.
      Die Organisations- und Propagandakraft entwickelter totalitärer Systeme profitierte insbesonders von dem modernen technischen Entwicklungsstand des Organisationswesens und zumal der Kommunikationssysteme.

      3) Das allgemeinste Kriterium totalitärer Herrschaftssysteme ist die für die eigene "Bewegung" erstrebte universelle Organisationskontrolle oder letztlich ein Organisationsmonopol.

      4) In Anlehnung an das von C.J. Friedrich entwickelte "Sechs-Punkte-Syndrom" können für ausgebildete totalitäre Herrschaftssysteme folgende (in ihrer Verbindung zu sehende) Charakteristika unterstellt werden:
      a) ein Monopol für eine führende Partei
      b) Eine offizielle, Allgemeingültigkeit beanspruchende Ideologie (damit verbunden die Tendenz zur Aufhebung der - abendländischen - Trennung von politischen und weltanschaulichen (ethischen) Instanzen.
      c) Angenähert totale Kontrolle des gesamten gesellschaftlichen Organisationswesens einschließlich der Verfügung über die Wirtschaft, insbesonders Kontrolle aller Medien der Massenkommunikation und aller militärischer und (geheim-)polizeilichen Gewaltinstrumente.

      Der Einsatz von Terrororganisationen steht in einem kumulativen oder substitutiven Verhältnis zur Wirksamkeit organisatorischer und propagandistischer "Erfassung" der Bevölkerung und zum Grade ihrer Gewöhnung an das totalitäre Herrschaftssystem..

      4) Die unter Ziffer 1-3 genannten Charakteristika einer totalitären Herrschaftsorganisation und Machttechnik waren sowohl im kommunistischen Herrschaftssystem (stalinistischer Ausprägung) wie im nationalsozialistischen Herrschaftssystem (jedoch weniger vollständig durch den italienischen Faschismus) ausgebildet.


      5) Dagegen zeigten sich zwischen den kommunistischen und den "faschistischen" Bewegungen und Herrschaftssystemen gravierende und z.T. auch fundamentale (hier nur am Kommunismus und Nationalsozialismus exemplifizierte) Unterschiede in Bezug auf die soziale Basis der Bewegungen (Proletariat und "Volkstum" ), auf die unterstellten Haupttriebkräfte der Geschichte (Ökonomismus und Biologismus), auf die Feindvorstellungen (internationaler Kapitalismus und internationales Judentum), auf die Endzielvorstellungen (klassenlose Gesellschaft und Rassenweltherrschaftsordnung), etc.

      6) Gemeinsam ist den Zielsetzungen indessen formal:
      die Vorstellung einer insgesamt planhaft zu gestaltenden und unitarisch zu organisierenden Gesellschaft.

      Den für den modernen "Totalitarismus" wegbereitenden Bewegungen des bolschewistischen Kommunismus und des Nationalsozialismus war außerdem formal gemeinsam daß sie eine Umwälzung anstrebten, die sie nicht als eine nur "politische" Revolution, sondern als eine Gesamtumwandlung der fundamentalen ökonomischen bzw. biologischen Lebensgefüge auffaßten, aus welcher (in Korrespondenz zur ökonomischen Basisrevolution resp. als Folge einer Rassenplanung) ein "neues Menschentum" hervorgehen sollte.
      8) Die Weltziele der primären totalitären Revolutionsbewegungen gingen so weit über evolutionäre Erwartungen und über einen mehrheitsfähigen Ziel- und Wertkonsens hinaus, daß sie nur durch eine totalitär verdichtete Propaganda, durch systematisch organisierte "Massenerfassung" und durch organisierten Massenterror erfolgreich angestrebt werden konnten. Die erstrebte Umwälzung erhielt einen umso künstlicheren, ideologisch und physisch zwangshaften Charakter, als sie von Ländern aus unternommen wurden, die nach dem eigenen Verständnis "Rückstandspositionen" einnahmen (Deutschland als "zurückgebliebenes" Land gegenüber den führenden imperialistischen Staaten; die russische Gesellschaft als eine nach marxistischen Maßstäben "unreife" für eine sozialistische Umwandlung).

      9) Bevor noch totalitäre Bewegungen resp. Herrschaftssysteme eine ex-post-Legitimation durch Massenmobilisierung demonstrieren können, beanspruchen sie eine ex-ante-Legitimation aus einem antizipierten "Gemeinwillen" oder einem geschichtlichen Auftrag aufgrund eines prätendierten (und verabsolutierten) Wissens um die ökonomischen Entwicklungs- oder die rassischen Lebensgesetze. Diese ex-ante-Legitimierung ist die für revolutionäre totalitäre Bewegungen eigentlich maßgebliche. Beide Legitimierungsarten lassen (im Divergenzfall) keinen Raum zur Anerkennung eines empirisch zu ermittelnden Mehrheitswillens.


      10) Die Legitimationen totalitärer Herrschaft konnten an ältere Traditionen einer unitarischen, von gelenkter "Aufklärung" bestimmten Auffassung des Gemeinwillens einer invers-absolutistischen Demokratie und andererseits an die Vorstellungen von einem integralen Volkstum anknüpfen (auch wenn den Urhebern solcher Ideen totalitäre Konsequenzen noch fern lagen). Für die Entwicklung der konkreteren Züge moderner totalitärer Bewegungen waren insbesonders die Ereignisperspektiven einer "Weltrevolution" (als Totalvorgang einer materiellen und geistigen Umwälzung) und der Weltkriege" (in Hinsicht auf die totale Mobilisierung aller physischen und psychischen Volkskräfte) inspirierend.

      11) In einer Reihe außereuropäischer Staaten lassen sich die Grundzüge eines auf dem Wege ideologischen Imports eingeführten Totalitarismus vollauf nachweisen. Diese Systeme verdienen indessen eine eigenständige Würdigung, wobei insbesondere auch auf die Anknüpfung an autochthone autoritäre Herrschaftsstrukturen (z.B. Wittfogels "Orientalische Despotie" ) zu achten ist.

      12) Fassungen der Totalitarismus-Konzeption, die - wie dies Hannah Arendt unternimmt von den (negativen) Extremausprägungen des Hitlerschen und Stalinschen Terrorsystems ausgehen, lassen bei einem Rückgang des Terrors und Nachlassen der expansiven Tendenzen den Begriff nicht mehr anwendbar erscheinen.

      13) Autochthon fundierte, voll ausgebildete totalitäre Herrschaftssysteme sind bislang von innen heraus noch nicht gestürzt worden. Sie haben sich als sehr schwer angreifbar durch Widerstandsbewegungen erwiesen. Effektiver Widerstand konnte wenn überhaupt - nur aus den Reihen der Machtapparate selbst geleistet werden. Abgesehen von der militärischen Niederwerfung haben sich tiefergehende Erschütterungen totalitärer Systeme bisher nur unter krisenhaften Umständen in Ländern gezeigt, wo sie von fremden Mächten oktroyiert erschienen.


      14) Es können indessen, wie zunächst in der Sowjetunion nach Stalins Tod (später auch in "Satellitensystemen" und in China), evolutionäre Veränderungen (und Rückbildungen) beobachtet werden (darunter eine Begrenzung des Machtgewichts der Geheimpolizei, ein Verzicht auf Massenterror Stalinscher Dimension - ohne auf Abschreckungsmaßnahmen zu verzichten, eine Wiederinkraftsetzung von Parteiregularien etc.). Wiewohl hier z.B. die Arendtsche Totalitarismus-Konzeption kaum mehr (voll anwendbar erscheint, kann doch noch nicht von einer Rückbildung zu einer (nur) autoritären Herrschaft gesprochen werden. Die von uns angeführten Merkmale des Totalitarismus sind überwiegend noch vorhanden. Auch könnte der Übergang von groben und massenhaften Formen des Terrors zu "subtileren" Formen der Intimidierung, resp. seine Nichtnotwendigkeit aufgrund der erreichten organisatorischen und edukativen Stabilisierung, als eine Art von Gewöhnung an (milder gewordene) totalitäre Herrschaftsstrukturen gedeutet werden. Es wäre hier vielleicht angebracht (analog zu Max Webers Deutung der Entwicklung "charismatischer" Herrschaft von einer Veralltäglichung totalitärer Herrschaft zu sprechen. Ob ein konkretes System näher beim "Idealtypus" einer revolutionären (+terroristischen), einer "veralltäglichten" (und weiter bürokratisierten) totalitären Herrschaft oder einer (nur) autoritären Herrschaft zu sehen ist, hängt auch von den jeweiligen Definitionselementen dieser Herrschaftsmodelle ab. In einer Phase der Ausbreitung totalitärer Systeme scheint neben der revolutionären Inauguration (China, Vietnam, Kambodscha) auch die Übernahme oder Ableitung veralltäglichter, bürokratisierter totalitärer Herrschaftssysteme in einem überwiegend technischen Sinne (d.h. mit weitgehend bürokratisiertem Zuschnitt) möglich.


      Viele Totalitarismuskonzeptionen sehen in einer Einmannspitze sogar das Kernelement totalitärer Herrschaftssysteme. In der Tat waren totalitäre Systeme gerade in ihrem Entstehen (sowohl in Europa wie in Ostasien) auf solche "Führerfiguren" bezogen und haben in ihnen eine effektive und/oder symbolische Krönung erfahren. Indessen scheint es (nach unserem Verständnis) möglich, daß totalitäre Systeme auch ohne zentrale Führerfiguren unter einer hierarchisch gestrafften Führung von Herrschaftseliten fortbestehen, soweit diese (selbst bei schroffen inneren Auseinandersetzungen) an den Prinzipien einer totalitären Gesellschaftsordnung festhalten.

      16) "Totalitäre Bewegungen" bildeten den dynamischen Kern totalitärer Herrschaftssysteme. Sie wiesen in der Regel schon in der Periode des Kampfes um die Macht selbst vorbildhafte "totalitäre" Organisationsansätze auf (z.B. Fraktionsverbot, "demokratischer Zentralismus", "Politbüro" - oder "Führer-Prinzip", terrorfähige Kampfbünde, Hilfsorganisationen zur Beeinflussung aller wichtigen Gesellschaftsbereiche). "Führerkult" und "Massenterror" kennzeichneten zumal die Phasen einer gewaltsamen Zieldurchsetzung in der Umwandlung prätotalitärer Lebensgefüge. Während die Entwicklung der größeren faschistischen Machtsysteme durch ihre militärische Niederwerfung "abgebrochen" wurde, läßt sich der Obergang zu einem veralltäglichten (eventuell auch: postrevolutionären) Totalitarismus nur bei kommunistischen Machtsystemen beobachten. Die Verflachung der totalitären "Bewegung" geht aber (zunächst noch) nicht mit einer Ablösung totalitärer Organisationsstrukturen einher. Motivationen für `Rationalisierungstendenzen` hatten sich ausdem Wunsch der Parteiführungsgruppen nach elementarer Sicherheit und vor allem aus dem Streben nach einer effektiveren ökonomischen Modernisierung ergeben. Auch nach der Reduzierung des Terrors bleiben ein terroristisches Drohpotential und umfassende gesellschaftliche Sanktionen als Abschreckungsmittel für Systemopponenten bestehen. Als positive Herrschaftssicherung fungiert weiterhin ein System absoluter Parteikontrolle machtrelevanter Ämter (Nomenklatursystem), allgemeiner Belohnung der Parteitreue, funktionaler Meritokratie und an Massenorganisationen gebundene Zuteilung sozialer Leistungen. Organisatorische und gesellschaftliche Reformen (die z.B. in China mit der weitgehenden Entkollektivierung der Landwirtschaft wesentlich weiter als in der Sowejtunion gehen) finden bis jetzt durchweg dort ihre Grenze, wo das Macht- und Organisationsmonopol sowie das Führungsprinzip der Einheitspartei in Frage stünde. Genausowenig soll das totalitäre Informationsmonopol angetastet werden. Der ideologische Anspruch, wenn auch verblaßt, wird weiterhin zur Herrschaftslegitimation benötigt und aufrechterhalten. Ebenso bleiben ideologische Kampfinstrumente ein wirksames Mittel internationaler Auseinandersetzungen, auch wenn die (internationalistische) Parteiräson in den Dienst der Machtstaatsräson gestellt wird.

      B) Fehldeutungen und ideologischer Mißbrauch der Totalitarismus-Konzeptionen

      17) Die Ausbildung wissenschaftlicher Totalitarismus-Konzeptionen war mit vielfältigen methodologischen Schwächen behaftet gewesen.


      18) Oft wurden Charakteristiken der totalitären Herrschaft, soweit sie faschistische und kommunistische Systeme umfassen sollten, überwiegend nur von einer Systemart abgeleitet und gleichwohl unkritisch verallgemeinert.


      19) Vielfach wurde die Reichweite der Totalitarismus-Konzeptionen und ihr besonderer Bezug zu Herrschaftsstrukturen und Herrschaftstechniken nicht genügend umgrenzt. Mitunter wurde der Begriff auch zur Unterschlagung der von ihm nicht erfaßten Realitätsbereiche oder von divergierenden Tendenzen verwendet. Verschiedentlich wurde er selbst als ein "Totalitätsbegriff" mißbraucht, d.h. als eine globalisierte Essentialität, aus der sich (etwa analog einem `marxistischen` Begriff von der kapitalistischen Gesellschaft) die Gesamtheit der Lebenserscheinungen ableiten soll. Dies kann eine Typologie totalitärer Herrschaftssysteme nicht leisten. Dagegen bleibt sie für ihren Konkretisierungsbereich (in Ermangelung gleichwertiger Strukturbegriffe) durchaus weiterhin verwendbar.


      20) Mitunter wurden mit der Bestimmung der Charakteristika totalitärer Herrschafts-
      systeme zugleich Aussagen über ihre Unveränderlichkeit oder notwendige Radikalisierung verbunden. Solche Tendenzen ergeben sich jedenfalls nicht schon aus strukturtypologischen Beschreibungen, sondern bedürfen eines spezifischen Nachweises.


      21) Sowohl die Faschismusforschung wie die Erforschung kommunistischer Systeme konnte sich teilweise durch vorschnelle übernahmen allgemeiner Totalitarismus-Konzeptionen behindert oder in ihrem Präzisionsstreben beeinträchtigt fühlen. überwiegend wird auch hier der arbeitsteiligen spezialisierten Forschung das Feld gehören müssen. Indessen muß sich auch diese mit der Frage befassen, wieso und in welcher Art es in beiden Systembereichen zu totalitären Herrschaftstechniken und Herrschaftsorganisationen kam.

      Der Totalitarismus-Begriff hat sich in einem außerordentlich hohen Maße als ideologisierbar erwiesen. Phasen von Konjunktur und Baisse der Entwicklung und Verbreitung von Totalitarismus-Konzeptionen in der wissenschaftlichen Kommunität und vor allem in der breiteren Öffentlichkeit folgten nur allzu deutlich den Veränderungen der internationalen politischen Konstellationen (Aufstieg faschistischer Systeme und des Nationalsozialismus, Ausbildung des Stalinismus, Hitler-Stalin-Pakt, die Anti-Hitler-Allianz zwischen den Westmächten und der UdSSR, der Kalte Krieg, die Ost-West-Entspannung, die Diskussion über den `Eurokommunismus`, die Entwicklung kommunistischer Staaten in der `Dritten Welt`, etc.). Die Ideologisierung der Totalitarismus-Diskussion zeigte sich indessen nach beiden Ausschlagseiten hin, sowohl in der Verabsolutierung des Totalitarismus-Konzepts in entsprechenden Konfrontationszeiten wie in seiner Verfemung oder seiner Substituierung durch ideologische Gegenbewegungen, die eine `Entlastung` kommunistischer Systeme anstrebten. Gerade bei einer so starken ideologischen Belastung und Deformierung der Diskussionen bleibt es eine vordringliche Aufgabe, eine Trennung der realistischen und wissenschaftlich tragfähigen Aussagen von den ideologischen Verzerrungen der Totalitarismus-Theorien wie auch ihrer Gegenkonzeptionen zu erstreben.
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 18:23:20
      Beitrag Nr. 32 ()
      Na, mach doch mal, "antigone"!
      Ich warte nur auf Dich, wenn Du willst.

      Oder kannst Du wie immer nur Deine gehässigen und Andersdenkende herabsetzende "Bonmots" von Dir geben?
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 18:34:33
      Beitrag Nr. 33 ()
      Na, antigone, wo bist Du denn jetzt wieder?

      Traust Du Dich nur noch, Deine Gesprächspartner mal so auf die Schnelle zu beleidigen, nachdem sie sich schon verabschiedet haben?

      Wieso kannst Du nie konstruktive Sachen in meine Threads bringen, sondern mußt gleich beleidigend werden wie in Deinem Posting # 26 hier?

      Habe ich in Deinen Threads jemals gleich in meinem ersten Posting von "Einfaltspinselei" gesprochen?
      Streitest Du so gerne, daß Du keine normalen Diskussionen mehr führen möchtest oder kannst?
      Hältst Du es überhaupt noch ohne persönliche Angriffe in einer Internet-Diskussion aus?
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 18:44:46
      Beitrag Nr. 34 ()
      Weißt du was, antigone?
      Bring Pöbeleien wie in Deinem Posting # 26 doch bitte in Zukunft weiter in Deinen Threads, wenn Du zu keiner sachlichen Diskussion mehr in der Lage bist.

      Vielleicht bist Du ja auch nur deshalb wieder in Pöbelstimmung, weil Dich dieses Zitat hier sehr "bedrückt" gemacht hatte:

      Was ist links - UND totalitär?
      (Erik von Kuehnelt-Leddihn, Links steht die Intoleranz, Rheinischer Merkur Nr. 36 vom 7. September 1979)


      "Wie sieht es nun im ideologischen Bereich der Linken aus (oder auch der nationalsozialistischen "Rechten" )? Nun, links ist vor allem der Materialismus: "Der Mensch ist was er ißt" (Feuerbach). Daher handelt der Verbrecher nur unter dem Einfluß "innerer Säfte" (Sade) und eines gesellschaftlichen Drucks, ist also eine willenlose, unschuldige Maschine.
      "Alle Menschen sind gleich", aber "manche sind gleicher als andere", setzte Orwell ironisch in "Animal Farm" in Bezug auf die "Schweine" hinzu, die die Farm für die Tiere von den Menschen erobert hatten. Diese elitär "Gleicheren" haben kollektiv eine messianische Mission, eine Erlöserrolle: das Bürgertum das Proletariat, nordische Menschen, spezifische Nationen, an deren Wesen die Welt genesen soll. Ihnen gegenüber stehen "Untermenschen", die den Tieren oder den Degenerierten zugerechnet werden müssen.
      Dieses Prinzip der Gleichheit (égalité ), gegen das nur verteufelte Minderheiten verstoßen, fördert einen staatlichen Zentralismus, denn was gleich ist kann man über einen Leisten schlagen. Lokale Autonomien, Rechte und Privilegien werden abgeschafft. In der Theorie wird der Staat nicht verherrlicht, sondern nur Klasse, Volk, Rasse, ja man hofft sogar (naiv oder heuchlerisch) auf sein endgültiges Verschwinden. In der Praxis aber wird der Staat zum Leviathan, denn er hat alles zu verändern und zu kontrollieren.
      Das führt zum Totalitarismus und zur Gleichschaltung auf allen Ebenen der menschlichen Existenz. Der absolute Konformismus ist eisernes Gesetz. Jede ideologische, rassische, ethnische, parteiliche Abweichung von der Norm wird gerügt, bestraft oder blutig verfolgt.
      Pate steht für diese Haltung die Französische Revolution, die nicht nur die russische Revolution sondern auch die deutsche Revolution (wie Goebbels rühmend hervorhob) inspiriert hatte. Vom Schlagwort der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit des Jahres 1789 blieb im Verlauf der Revolution allein die Gleichheit übrig. Nur der Sturz Robespierres hatte verhindert, daß man alle Franzosen und Französinnen in Uniformen steckte, die Kirchtürme als "undemokratisch" abtrug und die Elsässer ausrottete, denn sie "bedienten sich nicht der republikanischen Sprache". Von der Guillotine ging der Weg geradewegs zu den Galgen, Gaskammern, Genickschüssen und Gulags.
      Regiert wird im rein-linken Bereich durch Gewalt, die Angst und Schrecken verbreitet, denn nur höchster Druck kann die unnatürlichen Vorstellungen der Linken verwirklichen. Gleichheit und Freiheit widersprechen sich.
      Um die weltanschauliche Nämlichkeit herzustellen, darf nur e i n e Partei herrschen, die auch "einstimmig" gewählt wird. Parteien, die nicht die "Wahrheit" vertreten, haben keine moralische Existenzberechtigung.
      Nicht nur die Massenmedien, sondern auch das Erziehungswesen stehen ausnahmslos im Dienste des Einparteienstaates. "Staatsfeindliche Elemente" werden zum höheren Studium nicht zugelassen, da man an ihrer erfolgreichen Indoktrinierung zweifelt.
      Der Akzent liegt aber schon deswegen auf der staatlichen Erziehung, weil man im Grunde familienfeindlich eingestellt ist, auch dann, wenn man aus außenpolitischen Machtgründen von hohen Geburtenziffern träumt. Die Familie ist eine "intime" und exklusive Einheit, die die Mißgunst und den Verdacht des ideologisch profilierten Einparteienstaates herausfordert. Die Kinder sollen den Eltern entfremdet werden; der linke Totalstaat verfolgt jede Loyalität, die nicht ihm gilt.
      Dieser linke "Allstaat" ist natürlich ein Versorgungsstaat, nicht zuletzt auch deswegen, weil seine sozio-politische Struktur die totale Kontrolle der ganzen Bevölkerung materiell und praktisch möglich
      macht. Alles und alle sollen ausnahmslos vom Staat abhängen - wie in Mussolinis "Alles für den Staat, alles durch den Staat, nichts gegen den Staat."
      Der Einparteienstaat ist nicht nur ideologisch eindeutig festgelegt, sondern er arbeitet auch mit einem konkreten Feindbild. Der Feind ist immer ein Gruppenfeind, also ein Klassenfeind, Rassenfeind, Nationalfeind: Juden, "Kosmopoliten", Adelige, Plutokraten, "Pfaffen", esoterische Künstler, "Intellektuelle", Zigeuner, aber auch ideologische Dissidenten und andere "Verräter". Die Bevölkerung wird gegen alle "Schädlinge" mobilisiert und womöglich in einen Zustand der Massenhysterie versetzt.
      Verherrlicht wird ein statistisches Mittelmaß, verdächtigt der außerordentliche Mensch. Natürlich ächtet, assimiliert gewaltsam, exiliert oder ermordet man "Minderheiten". Das demokratische Prinzip der Mehrheitsherrschaft wird zur äußersten Konsequenz getrieben. Wirkliche Eliten sind unerwünscht, außer man erklärt die Mehrheit zur Elite und verfolgt die Minderheit als "minderwertig"
      Das alles harmoniert mit einem Plebejismus, also mit der Doppelbedeutung des Wortes "Volk": So kommt es dann zu Volksdemokratien, Volksempfängern, Volkswagen, Volksgerichten, Volksgefängnissen, Volksarmeen, Volkspolizisten, Volkskammern, Volksstürmen und Volkseigenen Betrieben. Selbstverständlich beruft man sich zu Recht oder Unrecht auf die Demokratie ("Volksherrschaft" ) und verhimmelt den anonymen "Mann aus der Doppelreihe".
      Hand in Hand geht damit ein "Antimonarchismus", da sich ja der Monarch auf das Vaterprinzip stützt. Die Linke aber hat keine Väter und keine Herrscher, sondern an der Spitze einen Mann, der sich höchst bescheiden "Führer" (duce, woshdj, caudillo, conducator) nennt. Dieser ist ein Mann, der nicht Vater, sondern höchst antihierarchisch "Genosse" beziehungsweise "Bruder" sein will, der dann im Endeffekt Orwells "Big Brother" wird.
      Das hängt auch mit dem antivertikalen Horizontalismus der Linken zusammen. Der "Führer" steht nicht für das Land: Er verkörpert das Volk, wobei dieser Terminus wiederum enthnologisch oder soziologisch ausgelegt werden kann. Daß die Tyrannei des "Großen Bruders" bedeutend beschämender und erniedrigender sein kann als die eines Vaters, liegt wohl auf der Hand.
      Damit sind wir beim Sozialismus-Kommunismus angelangt, der als geistig-psychische Folgeerscheinung der Französischen Revolution der heutigen Linken eine spezifische Prägung gegeben hat: Hier ist auch der Sozialmaterialismus mitsamt dem Ökonomismus organisch gut eingebaut. Das Gegenteil des Sozialismus (am besten mit "Gesellschaftswahn" übersetzt) wäre (schon aus sprachlichen Gründen) nicht der Individualismus, sondern ein "Personalismus". Jegliche Doktrin, die die Einmaligkeit des einzelnen Menschen in Abrede stellt, steht automatisch links. Natürlich kann sich jeder Sozialismus (es gibt selbstverständlich auch nicht-marxistische) mit anderen Sozialismen synthetisch verbinden: so zum Beispiel ein klassenbetonter Sozialismus mit einem völkischen Sozialismus, ein völkischer mit einem rassischen (wie im "Deutschen Nationalsozialismus" ) oder auch ein völkischrassischer mit einem klassenbewußten. Der Grundton bleibt immer die Feststellung: "Du bist ein Niemand - die Kollektivgruppe ist alles."
      Die Dynamik der Linken ist besonders gut entwickelt, wenn der Neid eingesetzt wird und die fremdrassige, fremdvölkische oder elitäre Minderheit dank der Zufälle, historischen Gegebenheiten oder spezifischen Qualitäten eine privilegierte (zumeist materielle) Ausnahmestellung besitzt. Dann kann nicht nur mit außerordentlichen Steuern, brutalen Enteignungen, sondern auch mit Massenexilierungen und im Notfall selbst mit einer Massenausrottung gegen sie vorgegangen werden. Die bitteren Anschuldigungen: "Du dünkst dich besser, du glaubst, du bist gescheiter, du hast mehr als ich und verdienst müheloser", sind linke Grundmotive. Dabei wird das Alibi der "Sozialgerechtigkeit" (lies: Gleichheit und Nämlichkeit) vorgebracht.
      Mit Rechtlichkeit haben diese Tendenzen nichts zu tun, denn die Linke denkt revolutionär (d. h. rechtslos) und dabei utilitaristisch. "Recht ist, was dem deutschen Volke nutzt" (Hans Frank). Das ist aber nichts anderes als das Prinzip von Lenins Ruf nach "Parteilichkeit", die alle Gesetzlichkeit relativiert und den sittlichen Charakter der Wahrheit gewollt übersieht. Selbstverständlich wird der Privatbesitz radikal und total abgeschafft. Besitz verschafft Freiheit, und Freiheit ist verdächtig.
      Durch viele dieser Säkulardogmen und Charakterzüge wird die Linke im scharfen Gegensatz zu den großen monotheistischen Religionen gebracht, denn diese sehen im Menschen kein immanentes, sondern ein transzendentes Wesen - und kein verstaatlichtes Säugetier. (Mit dieser Immanenz ist auch der tierische Ernst und die Humorlosigkeit der Linken in Bezug auf klassenlose Gesellschaften und Revolutionen tiefst verbunden.)
      Zweifelsohne sind dann Kirchen ein Hindernis für den "Fortschritt", und diese können entweder vernichtet (Albanien) oder als Staatskirchen (Tschechoslowakei, Rumänien, China) versklavt werden. In einem echtsozialistischen, totalitären Staat ist eine unabhängige Kirche ein "kapitalistisches Überbleibsel", ein Anachronismus, der früher oder später aus der Welt geschafft werden muß. Selbstverständlich verherrlicht die Linke stets ihre die Vergangenheit bewältigende Revolution (oder ihren "Umbruch" ) als große Tat, was auch mit ihrer Geschichtsfeindlichkeit zu tun hat. Die "Internationale" versprach, mit der Vergangenheit "reinen Tisch` zu machen. Man hat den Blick chiliastisch auf eine nie zu verwirklichende Utopie gerichtet: Ein "Edenismus" will ein Paradies auf Erden schaffen, das vom Menschen "gemacht" wird. ("Alles ist machbar" für die Linke.) Die Erde ist für sie kein Tal der Tränen, die Erbsünde ein klerikales Hirngespinst, das Glück "aller" kann durch Medizin, Technik, Abbau von "Vorurteilen" und soziale Einrichtungen erzielt werden. Es gibt für sie keine Grenzen der Perfektibilität. Wenn keine Träne mehr fließt wird auch die Religion mit ihren Bindungen und Tröstungen überflüssig.
      Nicht unerwartet hat "links" in allen Sprachen eine negative Bedeutung. Im Italienischen ist das am prägnantesten. "Il sinistro" ist der Unfall, "La sinistra" = "die Linke."
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 18:45:35
      Beitrag Nr. 35 ()
      Für heute:
      Hasta la vista!
      Avatar
      schrieb am 20.06.03 19:09:32
      Beitrag Nr. 36 ()
      Der Totalitarismus in den Medien der USA ist wahrscheinlich noch nicht so perfekt, wie zu Zeiten der UdssR, aber man arbeitet daran.

      Hauptmerkmal ist, dass jede offene Kritik am Präsidenten im eigentlich gleichgeschalteten Pro-Bush Fernsehen tabu ist.

      Das Pressekorps, das sich rund ums Weisse Haus gruppiert, ist absolut loyal zur Bush-Administration.
      Wer mal was Kritisches schreiben würde, verlöre sofort seine Lizenz für den Zugang zum Weissen Haus, Pentagon oder State Department und damit seinen Job.

      Aufgrund der absolut konservativen und einseitigen Berichterstattung vor allem im Fernsehen, plant der ehemalige Vizepräsident Gore jetzt einen eigenen Fernsehkanal mit liberalem Profil.

      Und als Reaktion darauf wettern die konservativen Frontleute seit Tagen gegen diesen Gore-Plan. Sie behaupten, dass die Medien bei weitem genug liberales Profil haben und man deswegen keinen eigenen liberalen Kanal braucht.
      Und das passiert in einem Land, das glauben machen will, es wäre der Hort der Freiheit in jeder Beziehung.
      Wenn man dann noch sieht, wie Hillarys Buch zur Zeit von Konservativen im Fernsehen zerissen wird, die es nicht mal gelesen haben, dann kann man sich vorstellen mit welchem Hass diese Leute die Clintons nach wie vor betrachten.

      Hillary ist laut Umfagen die weitaus beliebteste Amerikanerin und ggfs. in 2008 Präsidentschaftskandidatin. Einer dieser republikanischen Strategen wurde vor kurzem gefradt, welche Frau er meine, dass die Amerikaner am meisten schätzen.

      Da er natürlich wusste, dass es Hillary ist, aber er es nicht über die Lippen brachte den Namen Hillarys in einem positiven Kontext auszusprechen, würgte er nach ein paar Sekunden Mutter Theresa heraus, worauf der Frager aber einwarf, dass die schon tot und auch keine Amerikanerin sei.
      Avatar
      schrieb am 21.06.03 00:02:47
      Beitrag Nr. 37 ()
      nun, auryn, wer sich derart exponiert als politologische kapazität, der wird bei derartigen lässlichkeiten ein wenig spott ertragen müssen.

      wenn dir beim begriff totalitarismus der faschismus gänzlich abhanden gekommen ist, läßt das auf einen sehr blinden fleck schliessen.

      und dabei mutmasstest du prompt, ich hätte den totalitarismusbegriff auf amerika angewandt.
      auch dieser reflex deinerseits läßt tief blicken.
      scheint was dran zu sein, an dem gedanken :laugh:
      Avatar
      schrieb am 24.06.03 10:22:09
      Beitrag Nr. 38 ()
      36, 37, im Nachgang zu auryns Blindheit ggü. den aktuellen Entwicklungen, diese Kriterien mal mit der Wirklichkeit vergleichen! :mad:






      Dr. Lawrence Britt, ein Politikwissenschaftler, hat einen Artikel über Faschismus für "Free Inquiry", eine humanistische Zeitschrift, geschrieben. Dr. Britt untersuchte die faschistischen Regime Hitlers (Deutschland), Mussolinis (Italien), Francos (Spanien), Suhartos (Indonesien) und Pinochets (Chile) und weiterer lateinamerikanischer Länder.

      Er fand heraus, daß all die Regime 14 Dinge gemeinsam hatten und er nennt sie die Identifikationsmerkmale des Faschismus.

      Der Artikel "Fascism Anyone?", Lawrence Britt, ist in Free Inquiry, Ausgabe Frühjahr 2003, Seite 20 erschienen.

      Die 14 Merkmale sind:

      1. starker und anhaltender Nationalismus
      Faschistische Regime neigen zu einem ständigen Gebrauch von patriotischen Mottos, Slogans, Symbolen, Liedern und was sonst noch dazu gehört. Flaggen sind überall zu sehen, wie auch Flaggensymbole auf Kleidung und anderen öffentlichen Präsentationen.

      2. Geringschätzung der Menschenrechte
      Aus Angst vor Feinden und dem Bedürfnis nach Sicherheit heraus werden die Menschen in einem faschistischen Regime überzeugt, daß die Menschenrechte in einigen Fällen ignoriert werden können. Die Leute sehen in die andere Richtung oder stimmen den Folterungen, Massenhinrichtungen, Ermordungen, langen Inhaftierung von Gefangenen uns so weiter sogar zu.

      3. Identifizierung von Feinden/Sündenböcken als vereinigende Sache
      Die Leute werden in einen vereinigenden patriotischen Wahn getrieben durch das Ziel, eine erkannte allgemeine Bedrohung oder einen Feind zu beseitigen, sei es eine rassische, ethnische oder religiöse Minderheit; Liberale; Kommunisten; Sozialisten; Terroristen uns so weiter.

      4. Vorrang des Militärs
      Selbst wenn es weitreichende inländische Probleme gibt, erhält das Militär einen überproportional großen Anteil des Staatshaushalts und die inländischen Probleme werden vernachlässigt. Soldaten und das Militär werden verherrlicht.

      5. wachsender Sexismus
      Die Regierungen faschistischer Länder sind fast ausschließlich von Männern beherrscht. Unter faschistischen Regimen werden traditionelle Geschlechtsrollen stärker betont. Der Widerstand gegen Abtreibung ist groß, wie auch die Homophobie wie auch gegen Homosexuelle gerichtete Gesetzgebung und staatliche Politik.

      6. kontrollierte Massenmedien
      Manchmal werden die Medien direkt durch die Regierung kontrolliert, aber in anderen Fällen werden die Medien indirekt durch Verordnungen der Regierung kontrolliert oder durch geistesverwandte Sprecher oder Vorstände der Medien. Zensur, insbesondere in Kriegszeiten, ist weit verbreitet.

      7. Besessenheit von der nationalen Sicherheit
      Angst wird als Mittel der Motivation für die Massen durch die Regierung eingesetzt.

      8. Religion und Regierung sind miteinander verflochten
      Regierungen faschistischer Länder neigen dazu, die gebräuchlichste Religion des Landes zu nutzen, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Religiöse Rhetorik und Fachsprache wird von Regierungsmitgliedern häufig genutzt, selbst wenn die Lehrsätze der Religion der Politik oder den Handlungen der Regierung genau entgegenstehen.

      9. unternehmerische Macht wird geschützt
      Die Aristokraten der Industrie und der Unternehmen eines faschistischen Landes sind häufig diejenigen, die den politischen Führern an die Macht geholfen haben, was zu einer beidseitig nützlichen Beziehung von Unternehmen und Regierung und einer Machtelite führt.

      10. gewerkschaftliche Macht wird unterdrückt
      Da die organisierende Macht der Gewerkschaften die einzige wirkliche Bedrohung für ein faschistisches Regime darstellt, werden Gewerkschaften entweder ganz ausgemerzt oder sie werden stark unterdrückt.

      11. Geringschätzung Intellektueller und der Künste
      Faschistische Länder neigen dazu, offene Feindschaft zu höherer Bildung und Akademien zu förden und zu tolerieren. Es ist nicht ungewöhnlich, daß Professoren oder andere Akademiker zensiert oder sogar verhaftet werden. Freier Ausdruck in der Kunst wird häufig öffentlich angegriffen und die Regierungen lehnen es häufig ab, die Künste zu fördern.

      12. Besessenheit von Verbrechen und Bestrafung
      Unter faschistischen Regimes wird der Polizei fast unbegrenzte Macht zur Verbrechensbekämpfung eingeräumt. Das Volk ist häufig bereit, Polizeiverbrechen zu übersehen und sogar Bürgerrechte im Namen des Patriotismus` aufzugeben. In faschistischen Ländern gibt es meistens eine landesweite Polizeieinheit mit praktisch unbegrenzter Macht.

      13. wachsende Seilschaften und Korruption
      Faschistische Regime werden fast immer von einer Gruppe von Freunden und Genossen regiert, die sich gegenseitig Regierungsposten zuschieben und ihre Macht und ihren Einfluß nutzen, um ihre Freunde davor schützen, zur Verantwortung gezogen zu werden. Es ist in faschistischen Regimen nicht unüblich, daß nationale Ressourcen oder sogar Schätze von den Regierungsmitgliedern angeeignet oder sogar gestohlen werden.

      14. betrügerische Wahlen
      Manchmal sind die Wahlen in faschistischen Ländern ein kompletter Schwindel. In anderen Fällen werden die Wahlen durch Schmutzkampagnen oder sogar die Ermordung von Oppositionskandidaten, Nutzung der Gesetzgebung um die Anzahl der Stimmberechtigten oder der Wahlbezirke zu kontrollieren, oder Beeinflußung der Medien manipuliert. Faschistische Länder nutzen auch typischerweise ihre Richterschaft, um die Wahlen zu manipulieren oder zu kontrollieren.
      Avatar
      schrieb am 24.06.03 10:44:02
      Beitrag Nr. 39 ()
      #38 LL, präzise und gut. Frage: Wenn von allem das Gegenteil zutrifft, ist das dann freiheitlich-demokratisch? :)
      Avatar
      schrieb am 24.06.03 10:53:41
      Beitrag Nr. 40 ()
      Wenn man von 9 absieht, dann ist Mugabes Regime also faschistisch.
      Avatar
      schrieb am 24.06.03 10:57:30
      Beitrag Nr. 41 ()
      Dieser Dr. Britt hat aber eien sehr unwissenschaftliche Vorgehensweise. Er nimmt einfach 5 Regime, behauptet von ihnen, sie seien faschistisch und leitet dann von diesen ab, welche Merkmale faschistische Systeme haben. Heraus kommt exakt das, was Britt vorgibt, bzw. zu finden wünscht.

      Von den genannten Systemen sind nur 3 faschistisch, in Chile herrschte eine Militärdiktatur, der schon die Massenorganisationen und die ideologische Durchdringung der Gesellschaft fehlten, um als faschistisch durchzugehen, bei Suhartos Diktatur fehlen noch mehr Merkmale. Ich vermute, daß richtige Politikwissenschaftler eien solche "Definition" des Faschismus dem Dr. Britt um die Ohren schlagen würden, wollte er das in Fachkreisen vertreten wollen.

      Daß Auryn faschistische Staaten nicht so recht beim Totalitarismusbegriff berücksichtigen will, stört mich dann allerdings doch. Die Hauptmerkmale: ideologische Durchdringung, Gleichschaltung, Massenorganisationen, Definition eines äußeren Feindes, ergeben sich ja erst dadurch, daß man feststellte, daß das 3. Reich und Stalins UdSSR formal gesehen viele Ähnlichkeiten hatten. Dadurch wurde der Totalitarismusbegriff ja erst so nützlich. Die Weiterung, dann auch den islamistischen Staat darunter zu fassen, bot sich dann logisch an.
      Avatar
      schrieb am 24.06.03 11:22:35
      Beitrag Nr. 42 ()
      for4zim,

      für mich erhebt sich noch eine andere Frage: Wie weit ist "Totalitarismus" oder "Faschismus" tolerabel? Platt verbindlicht: Wir können an ein Land wie Syrien nicht dieselben Maßstäbe anlegen bzw. Ansprüche erheben wie an ein europäisches Land, z. B. Frankreich. Die Gegebenheiten sind andere, ethnische Zusammensetzung, Bildung usw. der Bevölkerung sind anders ... Kein Regime in Nahost - vielleicht mit Ausnahme des politischen Staates Israel, der nicht ohne weiteres in Nahost einzugliedern ist - wäre von Dauer, würden westliche Demokratievorstellungen dort praktiziert.
      Avatar
      schrieb am 24.06.03 11:52:26
      Beitrag Nr. 43 ()
      Was bitte ist daran unwissenschaftlich?

      Dieser Dr. Britt hat aber eien sehr unwissenschaftliche Vorgehensweise. Er nimmt einfach 5 Regime, behauptet von ihnen, sie seien faschistisch und leitet dann von diesen ab, welche Merkmale faschistische Systeme haben. Heraus kommt exakt das, was Britt vorgibt, bzw. zu finden wünscht.


      Bist du jetzt so sehr blind das du die eigene Denkweise nicht mehr begreifst? Wie kann man denn zu gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen kommen?

      Empirie und Try and Error bei gesetzten Kriterien sind doch wohl bekannte und anerkannte Methoden.

      Und ja, das Ergebnis läßt auch vieldeutige Schlüsse in Richtung USA zu. Es macht IMO kein Unterschied, ob die Kontrolle bewußt angestrebt wird oder freiwillig entsteht durch Selbstzensur und Nichtnachfragen wegen Angst oder ähnlich subversiver Dinge...
      Avatar
      schrieb am 24.06.03 11:57:37
      Beitrag Nr. 44 ()
      Wie wärs mal mit meiner Definition, wenn hier jeder mal darf: Totalitäre Staaten sind diejenigen, in denen riesige Portraits von Staatsführern in Demonstrationszügen durch die Strassen getragen werden.
      Das Suharto ein Faschist war ist mir auch neu.
      Avatar
      schrieb am 24.06.03 12:11:47
      Beitrag Nr. 45 ()
      LostLilith, hätte Dr. Britt z.B. stattdessen die UdSSR, Nordkorea, 3. Reich und Albanien herangezogen, wäre er zu völlig anderen Ergebnissen gekommen. Seine Ergebnisse waren also im wesentlichen durch seine Vorauswahl bedingt und die war willkürlich. Also sind das auch die Ergebnisse. Und mit willkürlichen Ergebnissen läßt sich keine Wissenschaft machen. Mit Empirie hat das auch nichts zu tun. Dr. Britt ist offensichtlich kein seriöser Wissenschaftler.

      Mirabellchen, Totalitarismus bzw Faschismus als eine Totalitarismusform ist nie tolerierbar, weil hier eben dem Mesnchen im System gar kein Raum gegeben wird. Die Staatsmacht und ihre Fähigkeit, Menschen zu vernichten, ist total. Es gibt keine Gesellschaft und keine Kultur, in deren Rahmen das als angemessen gelten könnte, während man Feinheiten der Demokratie oder des Wirtschafts- und Sozialsystem durchaus als unterschiedlich definierbar in verschiedenen Kulturen annehmen könnte. Ein bekannter Gegensatz ist ja das amerikanische und das europäische Rechtssystem, die verschiedene historische Entwicklungen hinter sich haben und daher auch sehr verschiedenen sind. Der starke Einfluß der Geschworenen ist in Deutschland undenkbar. Trotzdem wäre es zu platt zu sagen, daß das deutsche System "besser" wäre. Bei der Todesstrafe kann man hingegen schon diskutieren, ob diese noch Teil einer anderen Kultur sein kann oder generell gegen Menschenrecht verstößt.

      Deine Skepsis bezüglich eines Exports der Demokratie im westlichen Sinne in den arabischen Raum ist sehr heikel. Natürlich setzt eine Demokratie eine Zivilgesellschaft mit Informationsfreiheit voraus. Im arabischen Raum fehlen die informierten Bürger mit einer ausgebildeten Diskussionskultur, um eine Zivilgesellschaft zu konstitutieren. Deshalb ist die Prognose einer Demokratie dort sehr schlecht. Aber ob es hoffnungslos wäre, dort Demokratien zu fördern, würde ich nicht vorschnell behaupten wollen. Man hat es zu selten probiert...
      Avatar
      schrieb am 24.06.03 12:25:50
      Beitrag Nr. 46 ()
      Die Politologen mit ihren Klassifizierungen hinken der Wirklichkeit fast immer hinterher - und sind selbst oft höchst befangen.

      So war beispielsweise der hier zitierte Herr Kuehnelt-Leddihn ein Bewunderer Salazars und Verfasser einer "Portland Declaration", die m.E. eine klare Kampfansage an die Demokratie beinhaltet. Für ihn war das Böse immer die Linke. Von Rechts kommt per se das Gute, und deshalb durften für ihn die Nazis "selbstverständlich" nicht rechts, sondern sie mußten links gewesen sein. - Für ein Verständnis der historischen Vorgänge hat das einen Wert von nullkommanull.

      Für linke oder liberale Politologen lassen sich analoge ideologische Scheuklappen zeigen.

      Lest statt solcher politologischen Elaborate lieber die Originalliteratur. Lest solche Autoren, die nicht gefangen waren in sinnlosen Klassifikationsschemata des Durchschnittspolitologen, sondern die ein wirkliches Gefühl hatten für geschichtliche Abläufe.

      Zamjatin, Orwell, Huxley sind schon mal ein guter Anfang.

      Aber sie hatten Vorläufer, die meist nicht genannt werden in unserem Schulkanon.

      Empfehlenswert sind vor allem:

      Jack London: The Iron Heel (1908 erschienen)

      Den Text gibt es frei im Internet:

      http://sunsite.berkeley.edu/London/Writings/IronHeel/


      Alfred Döblin: Berge, Meere und Giganten (1924 erschienen, aktuelle Ausgaben im Buchhandel)

      Für mich eines der ganz großen Bücher des 20. Jahrhunderts, sowohl hinsichtlich seines politischen Gehalts als auch seiner literarischen Form.
      Wer dieses Buch heute liest, wird seine Aktualität von der ersten Seite an spüren.
      Avatar
      schrieb am 24.06.03 12:33:17
      Beitrag Nr. 47 ()
      Leghorn, interessante Hinweise...

      :cool:
      Avatar
      schrieb am 24.06.03 23:57:06
      Beitrag Nr. 48 ()
      for4zim #45

      Faschistische und totalitäre Elemente sind m. E. durchaus tolerierbar, wenn sie angemessen sind. Nochmal eine platte Verbildlichung: Tolerierst du nicht, daß Krawalle von Polizisten auseinandergetrieben werden? Das ist eine Variante des Faschismus, denn hier wird im Namen des Rechtsstaats gegen Bürgergruppen vorgegangen, um die bei den den Vorgesetzten der Exekutivorgane bestehende Vorstellung von "Recht" durchzusetzen. Das ist nicht wünschenswert, aber - je nach Sachlage - verständlich und somit tolerabel. "Totalitär" wäre in diesem Zusammenhang der Zwang zur Duldung von Übergriffen seitens der Exekutivorgane einzig auf Grund von deren Überordnung. All das ist hier bei uns keineswegs unüblich oder sagen wir freundlicherweise undenkbar. Wir würden unseren Staat aber sicher weder als faschistisch noch als totalitär bezeichnen, denn IM PRINZIP sind wir freiheitlich, demokratisch und so weiter.

      Noch platter: Ist die Beschränkung der freiheitlichen Menschenrechte eines Straftäters tolerabel? Praktiziert wird diese Beschränkung in Form von Freiheitsentzug, konkret: Haft. Ist das tolerabel? Der Geschädigte wird es bejahen, der Häftling verneinen. Aber ich will es nicht weiter verplatteln. LATENT wissen wir alle ganz genau, wo die Grenzen - jedenfalls im westlich geprägten Denkkreis - sind, nur definieren können wir es nicht so präzise.
      Avatar
      schrieb am 25.06.03 08:14:32
      Beitrag Nr. 49 ()
      Es ist ein Mißverständnis, das Machtmonopol des Staates, übertragen auf Polizisten zu verwechseln mit faschistischen Elementen. Das ist so ungefähr das Diskussionsniveau der RAF-Ideologen. Wenn gegen Krawalle vorgegangen wird, dann nehmen die Polizisten die undankbare Aufgabe wahr, das Gewaltmonopol des Staates herzustellen, das als einziges vor Gewalt von Starken gegen Schwache, Herrschaft der Kriminellen, Willkür und Lynchjustiz schützt. Ich bin befremdet darüber, daß man das Vorgehen der Polizei gegen Krawalle als etwas "faschistisches" wahrnehmen kann.

      Und der Begriff "totalitär" hat da nun gar nichts zu suchen. "Totalitär" meint, daß eine Ideologie "total" wird, daß sie die Menschen in allen Lebensbereichen beherrscht, daß der Raum des Privaten gegenüber dem Ideologischen verschwindet. Totalität muß noch nicht mal an eine Staatsmacht gebunden sein. Eine Sekte von einigen Dutzend Menschen, die irgenwo zusammenleben, deren Leben bis ins Detail von einem Sektenführer vorgeschrieben und kontrolliert wird, ist auch totalitär. Die RAF war in ihren inneren Strukturen totalitär. Die Polizei ist es nicht, denn in ihrem Privatleben könnte ein Polizist durchaus zwischen den Demonstranten stehen, denen er im Dienst gegenüber stehen würde.

      Totalität heißt auch, daß die Ideologie das Recht beherrscht. Während in der demokratischen Rechtskultur die Frage nach dem Recht eine rein formale ist und damit selbst der schlimmste Straftäter recht auf ein korrektes Verfahren und seine Verteidigung hat, ist im totalitären Staat auch das Rechtssystem nur ein Diener der Ideologie und die Verhandlung ein Kampf zwischen gut (Staat-Ideologie) und böse (Regimegegner-Sünder-nicht eingebundener Mensch), in dem zum Schutz des "Guten", der Ideologie notfalls auch das Recht gebeugt wird. Wenn ein Mensch als "böse" erkannt wird (meist schon durch die Anklage), wird das Formale, das Verfahren, zur Nebensache. Schutzrechte des Angeklagten werden nur als Hindernis angesehen, die Ideologie durchzusetzen und daher als böse an sich wahrgenommen.

      Daher ist es geradezu absurd, es als totalitär anzusehen, wenn Rechtsorgane formales Recht durchsetzen, auch wenn es unpopulär ist. Das genaue Gegenteil, Recht, daß sich an der Volksmeinung orientiert, wäre ein frühes Kennzeichen eines Rechtes, das sich auf totalitäre Verhältnisse zu bewegt. Totalitäre Staaten sind tatsächlich auf große Popularität angewiesen, denn erst eine große Gefolgschaft sichert auch die totale Kontrolle der Gesellschaft, auf die der totalitäre Staat aufbauen muß. Große Konflikte hingegen können nur im freiheitlichen Staat ausgetragen werden. Je unbeliebter eine Regierung sein kann, ohne daß der Staat dadurch auseinander bricht, desto freiheitlicher ist er.
      Avatar
      schrieb am 25.06.03 08:51:37
      Beitrag Nr. 50 ()
      Wer definiert formales Recht? Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika? Das Geld? Sonstige Mächtige?


      Im Einzelnen zeigt das Memorandum, welche international anerkannten Rechte der Gefangenen durch das Vorgehen der Behörden in den USA gefährdet sind. So ist amnesty international besorgt, dass die US-Regierung:
      Menschen unter Bedingungen fest hält, die einer grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung gleichkommen und Mindeststandards für Haftbedingungen verletzen;
      den Gefangenen rechtlichen Beistand versagt hat, obwohl die anhaltenden Verhöre zu strafrechtlicher Verfolgung führen können;
      den Gefangenen verwehrt hat, die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung gerichtlich überprüfen zu lassen;
      in vielen Fällen die Auskunft verweigert hat, wo und unter welchen Umständen die Betroffenen fest genommen wurden;
      den Schutz der Menschenrechte in den Fällen missachtet hat, in denen Menschen außerhalb Afghanistans festgenommen und nach Guantanamo Bay überführt wurden. So wurden sechs algerische Staatsbürger in Bosnien festgenommen und in das Camp X-Ray überführt. Dabei wurden offensichtlich bosnisches und internationales recht gebrochen;
      die Unschuldsvermutung durch öffentliche Äußerungen über die Schuld der Gefangenen in Guantanamo Bay aushöhlt;
      ein Zweitklassen-Justizsystem etablieren will, das Ausländer in bestimmten Fällen vor Militärtribunale stellt, die nicht unabhängig von der Exekutive sind, Todesurteile verhängen dürfen und keine Berufungsmöglichkeit vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht vorsehen;
      die Möglichkeit schaffen könnte, dass Gefangene ohne Anklage oder Prozess zeitlich unbefristet in Haft gehalten, nach einem Freispruch vor einem Militärtribunal weiterhin fest gehalten oder abgeschoben werden, auch wenn ihnen im Heimatland Gefahr für Leib und Leben droht;
      Vorwürfe, dass es bei der Festnahme von afghanischen Dorfbewohnern durch US-Soldaten zu Menschenrechtsverletzungen gekommen sei, nicht durch eine unparteiische und umfassende Untersuchung widerlegen konnte.
      Bisher hat die US-Regierung sich geweigert, die Gefangenen in Afghanistan und Guantanamo Bay als Kriegsgefangene anzuerkennen oder die strittigen Fälle gemäß der Genfer Konvention von dem jeweils zuständigen Gericht klären zu lassen.

      "Das Rosinenpicken der USA bezüglich der Genfer Konvention ist genauso wenig akzeptabel wie ihr mangelnder Respekt vor fundamentalen internationalen Menschenrechtsstandards", betonte USA-Experte Sumit Bhattacharyya.





      http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/regionen/Afghanistan/a…
      Avatar
      schrieb am 25.06.03 09:01:38
      Beitrag Nr. 51 ()
      Egal wie ihr es nennen wollt... Rechtstaatlichkeit ist das wohl nicht!


      TERRORNETZWERK AL-QAIDA

      USA erklären Verdächtigen zum "feindlichen Kämpfer"

      US-Präsident George W. Bush hat ein mutmaßliches Mitglied des Terrornetzwerks al-Qaida zum "feindlichen Kämpfer" erklärt. Nach Angaben des amerikanischen Justizministeriums soll der 37 Jahre alte Mann aus dem Golfstaat Katar ein Schläfer gewesen sein. Ihm droht nun ein Tribunal vor dem Militärgericht.


      AP
      Von Bush zum "feindlichen Kämpfer" erklärt: Ali Saleh Kahlah al-Marri
      Washington/New York - Ali Salah Kalah al-Marri befindet sich bereits seit Dezember 2001 in Gefangenschaft. Die US-Behörden hatten ihm bislang nur falsche Aussagen gegenüber der Bundespolizei FBI und Scheckkarten-Betrug vorwerfen können.

      Zudem soll al-Marri im Umgang mit verschiedenen Giften geschult worden sein. Den Angaben zufolge habe er aber nie einen Auftrag zum Ausführen eines biologischen oder chemischen Terroranschlags erhalten.

      Auch soll er über Kontakte zum al-Qaida-Schatzmeister in den Arabischen Ermiraten, Mustafa Ahmed al-Hawsawi, verfügt haben, bevor dieser im Februar verhaftet wurde. Der Angeklagte bestreitet die Vorwürfe.

      Nun wurde er auf Anordnung von Bush vom normalen Justizsystem dem Militär überstellt. Laut amerikanischen Medienberichten soll der Katarer auf einen Marine-Stützpunkt nach Charleston im US-Bundesstaat South Carolina gebracht werden.

      CNN berichtet in Berufung auf amerikanische Regierungskreise, dass man sich mit dieser Entscheidung eine Kooperation von al-Marri erhoffe. Offensichtlich habe man dem Mann, der vor den Terroranschlägen auf das World Trade Center mit einem Studentenvisa ins Land kam, im normalen Strafvollzug nicht zur Herausgabe von Informationen bringen können.

      Vorrangiges Interesse der USA sei die Vorbeugung von Terroranschlägen, sagte US-Justizminister John Ashcroft. Am besten sei deshalb, ihn als "feindlichen Kämpfer" einzustufen und ihn damit Verteidigungsminister Donald Rumsfeld zu unterstellen.



      http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,254462,00.html





      Wer es als normal empfindet, wenn Menschen ihrer Grundrechte beraubt werden, in dem der Präsident oder seine Berater jemanden für vogelfrei erklären, der möge bitte seine Wortklauberein überdenken! Verdammt, es geht hier um Grundrechte, und wichtigtes Kriterium ist, das sie immer und überall gelten müssen, nicht nur in Friede, Freude, Eierkuchen-Zeichen. Was unterscheidet die USA nun noch von den terroristischen Angreifern? Moralisch nichts mehr, überhaupt nichts mehr!
      Avatar
      schrieb am 25.06.03 09:13:50
      Beitrag Nr. 52 ()
      LostLilith, eingedenk Deiner drei früheren IDs möchte ich Dich bitten, sachlich zu bleiben, nicht zu eifern, nicht Threads mit langen Kopien von anderen Seiten zuzudecken, nicht Themen völlig abzuändern, nur damit Du Deine Predigten, Deinen religiösen Eifer und Deinen Haß unterbringen kannst. Wenn Du auf den Threadtitel schaust, sollte Dir klar werden, daß Du off-topic bist. Thema sind: "Anti-Utopien sowie deren Totalitarismus- und Realitätsbezug". Zur Zeit diskutieren wir den Totalitarismusbegriff.
      Avatar
      schrieb am 25.06.03 09:19:07
      Beitrag Nr. 53 ()
      schau mal in den Thread nebenan und dann sage noch mal wie themenfremd das ist!

      Thread: Happy Birthday, George Orwell


      Deine Drohungen schüchtern mich nicht ein.
      Avatar
      schrieb am 25.06.03 09:25:33
      Beitrag Nr. 54 ()
      Das sind keine Drohungen, sondern die Aufforderung an Dich LostLilith, die Meinungen anderer User zu respektieren und die Regeln für die Diskussion im Board einzuhalten.
      Avatar
      schrieb am 25.06.03 09:36:16
      Beitrag Nr. 55 ()
      das tue ich, deiner perfiden Unterstellungen zum Trotz...
      Avatar
      schrieb am 25.06.03 10:13:48
      Beitrag Nr. 56 ()
      #49 for4zim,

      warum willst du die Polizei aus jedweder kritischer Betrachtung ausnehmen? Das ist doch eine tendenziell totalitäre Anschaung deinerseits!
      Avatar
      schrieb am 25.06.03 10:18:51
      Beitrag Nr. 57 ()
      #49 f4z

      Je unbeliebter eine Regierung sein kann, ohne daß der Staat dadurch auseinander bricht, desto freiheitlicher ist er.

      Hier müßten wir erst einmal klarstellen, was du mit "beliebt" meinst. Natürlich muß gegebenenfalls eine Regierung unbeliebte Dinge in Angriff nehmen (als da wären Steuererhöhungen etc.), ohne daß man dies als Einschränkung der Freiheitlichkeit des Staates zu bezeichnen hätte. Aber "unbeliebt" sind sicherlich auch Diktatoren, beispielsweise Saddam Hussein, um ein aktuelles Beispiel aufzugreifen. Sein Staat ist keineswegs auseinandergebrochen, sondern er wurde von außen zerstört. Also war sein Staat ein freiheitlicher? For4zim!!!!!!!!!!
      Avatar
      schrieb am 25.06.03 10:26:27
      Beitrag Nr. 58 ()
      Mirabellchen, wie kommst Du denn darauf, daß ich die Polizei aus jedweder kritischen Betrachtung herausnehmen will? Ich kritisiere nur die Anwendung des Totalitarismusbegriffs oder den Faschismusvorwurf gegen eine Polizei in einem demokratischen Staat. Hier werden Begriffe fernab von ihren möglichen Definitionen gebraucht.

      Totalitarismus: die Ideologie ergreift jeden möglichen Lebensbereich, ordnet sich alles unter.

      freiheitlicher Staat: freier Wettbewerb der Meinungen, Unterordnung aller Aktionen unter vereinbartes Recht

      Die Polizei hat im totalitären Staat die Ideologie durchzusetzen. Begriffe der Verhältnismäßigkeit, der Eigenverantwortung oder Schranken des formalen Rechts gibt es dabei nicht.

      Die Polizei im freiheitlichen Staat ist an das Recht gebunden, das gegenüber Ideologien "blind" sein sollte. Das heißt, die Polizei darf gegen Angehörige der Regierung nicht anders vorgehen als gegen Angehörige der Opposition, und sie muß verhältnismäßige Mittel einsetzen. Sie ist zudem der Überwachung durch das Recht unterworfen - gelegentlich werden dann etwa Ermittlungsergebnisse der Polizei kassiert, weil sie verfahrensrechtlichen Vorgaben nicht genügten, es werden Untersuchungen gegen polizeiliche Maßnahmen angestrengt usw.

      Unabhängig davon gibt es natürlich auch unter Polizisten Kriminalität oder Verstöße gegen die Vorgaben, die ich oben geschildert habe. Es wäre etwas zuviel verlangt, erwartete man von Polizisten, daß sie mit der Amtsübernahme plötzlich unfehlbar würden. Es sind, auch in Uniform, die gleichen fehlbaren und sehr unterschiedlichen Menschen wie wir alle.
      Avatar
      schrieb am 25.06.03 10:39:25
      Beitrag Nr. 59 ()
      Zu #57: Nun, die These "Je unbeliebter eine Regierung sein kann, ohne daß der Staat dadurch auseinander bricht, desto freiheitlicher ist er." habe ich ad hoc geschrieben. Ich weiß noch nicht, wie stabil sie gegen Nachprüfungen ist und sie bedarf sicher einiger Nacharbeit.

      Was ich damit meine ist, daß ein freiheitlicher Staat damit leben kann, wenn die Menschen in ihm sehr unterschiedliche Ansichten haben. Wichtig ist nur, daß alle einen Rahmen anerkennen, in dem die Diskussionen stattfinden. Wenn die Menschen diesem Rahmen trauen, können sie auch sehr kontroverse Diskussionen in diesem Rahmen führen, ohne daß das Grundvertrauen dazu verloren geht. Wenn Menschen diesem Rahmen nicht mehr vertrauen, versuchen sie, ihn zu ändern. Werden sie mit Gewalt daran gehindert, gehen sie in innere Opposition.

      In Deutschland hatte die Regierung einen gewaltigen Vertrauensverlust hinzunehmen. Trotzdem zweifelt kaum jemand daran, daß die Regierung bis 2006 die legitime Vertretung des Landes in der Exekutive darstellt. Niemand käme auf die Idee, zu sagen, er wolle die Gesetze des Landes nicht mehr befolgen, selbst wenn er erbitterter Gegner der Regierung wäre.

      Im totalitären Staat hingegen ist die Ablehnung der Führung gleich bedeutend mit dem Wunsch, den Staat in seiner bestehenden Ordnung abzuschaffen. Jede offene Diskussion wäre eine Gefahr für den Staat. Im Irak gab es eine Gleichschaltung der Medien, der öffentlichen Äußerungen usw. Man konnte den Staat nur innerlich ablehnen, tat man es offen, bedeutete es Gefahr für Leib und Leben. Dabei war es wichtig, daß es für die Oppositionellen immer auch Denunzianten und Spitze gab. Die konnten nur dadurch geschaffen werden, daß es immer auch eine große Zahl von Menschen gab, die sich mit dem Staat identifizieren konnten oder von ihm Vorteile hatten. Tatsächlich hat Hussein immer auch viel unternommen, um populär zu bleiben, etwa durch die propagandistische Nutzung seines Widerstands gegen die USA, seine Ausspielung der islamistischen oder panarabischen Karte bezüglich Israel, Nationalismus bezüglich Kuweit oder Iran, zu gegebenen Zeiten auch sozialpolitische Errungenschaften. Dabei weiß ich noch nicht mal, ob das Regime Husseins bereits als totalitär gelten kann - dazu müßte ich mich mit den Details des Regimes beschäftigen, etwa der Rolle der Massenorganisationen in ihm und der Ideologie der Baath-Partei. Zumindest in der Endzeit sah das alles eher nach der Herrschaft eines Diktators und seiner Familie, als der einer Ideologie aus. Ich möchte den Punkt daher in der Schwebe halten.
      Avatar
      schrieb am 25.06.03 11:04:12
      Beitrag Nr. 60 ()
      #58

      nur eben schnell (auf das andere komme ich später) - das ist doch eben die Frage: Ist ein Staat demokratisch, wenn seine Organe sich nicht im Sinne von Demokratie und Freiheit verhalten?
      Avatar
      schrieb am 25.06.03 11:10:06
      Beitrag Nr. 61 ()
      Aber dazu müßten Polizisten sich gegen den Sinn von Demokratie und Freiheit verhalten. Dafür sehe ich aber keien Belege. Im Gegenteil: das Rechstsystem legt den Polizisten strenge Grenzen, die oft beklagt wurden, wenn etwa Straftäter direkt nach Ermittlung der Personalien wieder freigelassen werden müssen oder Deeskalationsstrategien mal wieder scheitern, wie in Berlin beim 1. Mai.

      Wie kommst Du denn darauf, daß sich Polizisten im Rechtsstaat gegen den Sinn von Demokratie und Freiheit wenden würden? Ich kann mir da nicht mehr vorstellen als gelegentlichen Übereifer, wie es ihn z.B. sehr deutlich in den siebziger Jahren bei der Bekämpfung der RAF gab. Da kommt aber auch nicht viel zusammen. Immerhin sind die Polizisten kein homogener Block.
      Avatar
      schrieb am 25.06.03 11:55:53
      Beitrag Nr. 62 ()
      Lieber for4zim,
      wie schön, wenn du deine Illusionen noch haben kannst. Die Realitlät ist anders, und es gibt genügend Beispiele für polizeiliche - unbegründete!! - Übergriffe gegen Bürger. Informiere dich bitte darüber selbst. Ich gebe hier keine Auftritte als Ankläger.
      Avatar
      schrieb am 25.06.03 18:01:36
      Beitrag Nr. 63 ()
      AAAAARGH! Kaum ist man mal wegen eines familiären Todesfalls 5 Tage lang weg, schon werden einem wieder Etiketten angehängt, die die geschätzten Leser sich durch noch nicht gebrachte Hinweise oder Verspätungen aus den Fingern saugen.
      :(
      Ich erkäre mal in Kurzfassung meine Meinung und folgendes zu meiner Haltung:
      1. Die Verbrechen des kommunistischen Totalitarismus sind in ihrer zahlenmäßigen Menge an Opfern in der Geschichte bisher unerreicht (Sowjetunion, China).
      2. Die Verbrechen des nationalsozialistischen Totalitarismus des Deutschen Reiches sind in Form ihrer meschenverachtenden industriellen Menschenvernichtungs-Maschinerie (Auschwitz, Treblinka etc.) in der Geschichte einzigartig und unerreicht.
      3. Beide Systeme haben theoretische und praktische Übereinstimmungen, die man in den "Totalitarismus-Theorien" näher zu beschreiben und zu bezeichnen versuchte.
      4. Ein Staat kann durchaus in Teilen ein "autokratisches" oder "faschistisches" Herrschaftssystem aufweisen, aber er ist damit noch nicht "totalitär", z.B. Spaniens Franco-Diktatur.
      5. Eine demokratischer Staat kann auch einen gewählten (oder auch durch eine umstrittene Wahl ins Amt gekommenen) Regierungschef haben, dem man zu Recht Kriegsverbrechen oder Korruption oder sonstige Vergehen gegen das jeweilige Strafgesetzbuch vorweisen kann (Sharon in Israel, Bush in den USA etc.).
      Es ist jedoch in meinen Augen genau so eine verletzende Verharmlosung der Verbrechen des "Totalitarismus", wenn man einen solchen Staat als "totalitäres System" bezeichnet, wie es eine Verharmlosung von Hitler oder Stalin wäre, wenn man Sharon oder Bush als zweiten Hitler oder Stalin bezeichnen würde.

      Und als gerechte Vergeltung für Euer zumindest teilweise beabsichtigtes Mißverstehen meiner Position haue ich Euch jetzt die vertiefenden politologischen Definitionen von "Faschismus" und "Totalitarismus" um die Ohren, die man an meiner Universität im ersten Semester lernen muß, wobei dies ja nicht nur "antigone" sehr interessieren dürfte, wie ich vermute.
      :D
      Für nachweisbare Fehler oder mögliche "Neu-Definitionen" bin ich bei Angabe der betreffenden Quellen dazu jederzeit aufgeschlossen und dankbar!

      Faschismus/Faschismustheorien

      I. »Der Faschismus hat einen Namen, der an sich nichts sagt über den Geist und die Ziele der Bewegung. Ein fascio ist ein Verein, ein Bund, Faschisten sind Bündler, und Faschismus wäre Bündlertum. «Mit diesen Worten hat Fritz Schotthöfer auf den einfachen, aber vielfach übersehenen Tatbestand hingewiesen, daß die Selbstbezeichnung der Partei Mussolinis über den Charakter und die Ziele des Faschismus (F) so gut wie nichts aussagt. Der vom italienischen Wort fascio abgeleitete Begriff F. unterscheidet sich insofern wesentlich von den aussagekräftigen Termini
      Sozialismus, Kommunismus, Liberalismus und Konservatismus. Theorien über den F. sind zudem meist Theorien des Antifaschismus, weil sie von dem Bestreben gekennzeichnet sind, den F. nicht nur zu charakterisieren, sondern gleichzeitig Wege und Möglichkeiten zu seiner Bekämpfung und Verhinderung aufzuzeigen. Die Aussagen faschistischer (f.) Führer und Ideologen über den F. haben nicht den Charakter von geschlossenen Theorien, weil sie im Grunde nur allgemeine Zielsetzungen des F verkünden und propagandistisch rechtfertigen. Ein derartiger Theorie-Praxis-Bezug kennzeichnet alle Faschismustheorien, insbesondere die marxistischen.

      II. Der Sieg des F. in Italien und Deutschland war die größte Niederlage der italienischen und deutschen Arbeiterbewegung. Der F. war zugleich die theoretische Herausforderung. Kommunistische Faschismustheoretiker haben vor allem versucht, das Wesen des F. mit dem Hinweis auf seine prokapitalistische Funktion zu erklären.
      Bereits auf dem V. Weltkongreß der Komintern von 1924 wurde der F. auf Betreiben Stalins als das »bloße Kampfinstrument der Bourgeoisie gegen das Proletariat« definiert. Parallel zu dieser einseitigen und ausschließlich instrumentalistischen Definition kam es zu einer inflationären Verwendung des Faschismusbegriffs. Als faschistisch (f.) galten bald alle Parteien und Regime, die dem Kapitalismus nützten und dem Kommunismus schadeten. Seit 1924 und vor allem seit 1928 wurden auch sozialdemokratische Parteien als »Zwillingsbrüder«, »Flügel«, ja als besondere und zugleich besonders gefährliche Formen des F. angesehen. Diese Sozialfaschismusthese wurde zwar auf dem VII. Weltkongress der Komintern von 1935 zugunsten der Volksfronttaktik revidiert, die einseitige und monokausale Definition des F. als bloßem Werkzeug der einflußreichsten Elemente des Finanzkapitals wurde jedoch ausdrücklich sanktioniert. Innerhalb der sozialdemokratischen und sozialistischen Faschismusdiskussion wurde der F. zunächst als eine spezifisch italienische Angelegenheit angesehen, die sich allenfalls in agrarischen Ländern mit einer schwachen Arbeiterbewegung wiederholen könne. Nach 1930 wurde diese singularisierende Betrachtungsweise allerdings zugunsten einer Auseinandersetzung mit dem Problem der sozialen Basis des F. aufgegeben. Während einige Theoretiker den F. als Partei des Mittelstandes betrachteten, haben Autoren wie Julius Braunthal, Otto Bauer, Oda Olberg, Pietro Nenni, Italo Tedesco, Georg Decken, Rudolf Hilferding und Arkadij Gurland versucht, das Spannungsverhältnis zwischen der mittelständischen sozialen Basis und der prokapitalistischen sozialen Funktion des F. mit Hilfe der Bonapartismustheorie von Marx und Engels zu erklären. Der F. habe es verstanden, Anhänger aus dem Mittelstand und zum Teil auch der Arbeiterschaft zu gewinnen. Daher müsse er als relativ eigenständige politische Kraft und eben nicht als bloßes Instrument der herrschenden kapitalistischen Kreise angesehen werden. Zur Macht werde er jedoch nur in der Situation eines Gleichgewichts der Klassenkräfte gelangen, und zwar dann, wenn die in sich gespaltenen und zerstrittenen Parteien und Schichten der Bourgeoisie nicht mehr, das Proletariat dagegen noch nicht in der Lage seien, die politische Macht zu behaupten. In einer solchen Situation könne es zu einer Verselbständigung der Exekutive kommen, wobei die Bourgeoisie zugunsten des F. auf die weitere Ausübung der politischen Macht mittels des Parlaments verzichte, um ihre soziale Gewalt, die Verfügung über die Produktionsmittel, zu wahren.
      Autoren wie Otto Bauer, dem sich dann auch August Thalheimer und Leo Trotzki weitgehend anschlossen, haben in diesem Zusammenhang jedoch argumentiert, daß die Verselbständigung der f. Exekutive nur einen partiellen, lediglich auf den politischen Bereich beschränkten Charakter habe. Da die Bourgeoisie über kurz oder lang versuchen werde, mit Hilfe ihrer ökonomischen Macht wieder die Verfügungsgewalt über die Exekutive zu erlangen, trage die Verselbständigung der f. Exekutive nicht nur einen partiellen, sondern zugleich auch einen temporären, befristeten Charakter.
      Sozialdemokraten wie Rudolf Hilferding meinten dagegen, daß aus der partiellen Verselbständigung eine totale Selbständigkeit des f. Staates geworden sei, der sich zum Herren über alle Schichten, Klassen und Parteien aufgeschwungen habe. Daher sei der f. Staat durchaus mit dem bolschewistischen Regime zu vergleichen, mit dem er auch die Feindschaft gegen die Demokratie und bestimmte terroristische Herrschaftspraktiken gemeinsam habe (siehe: Totalitarismustheorie). Wesentliche Hinweise zur Lösung des Problems Primat der Politik oder Primat der Ökonomie im f. Staat - kamen dann von Richard Löwenthal, Ernst Fraenkel und Franz Neumann. Löwenthal meinte, daß die f. Bürokratie, der f. Staat eine weitgehend selbständige Stellung einnehme, zugleich aber die Interessen der subventionsbedürftigen Teile des Kapitals beachte und beachten müsse. Auch Ernst Fraenkel vertrat die These, daß es im F. zu einer Symbiose zwischen der f. Partei auf der einen, der Wirtschaft, Bürokratie und Armee auf der anderen Seite gekommen sei. Dieses »Bündnis« und ambivalente Verhältnis präge auch den Aufbau gerade des nationalsozialistischen »Doppelstaates«. Franz Neumann erweiterte diese Erkenntnis durch den Hinweis auf die ständigen Kompetenzkämpfe, die in dem nur scheinbar monolithischen nationalsozialistischen Staat zwischen der Partei, der Wirtschaft, der Bürokratie und der Armee geführt würden.
      Um das ebenfalls ambivalente Verhältnis zwischen der mittelständisch geprägten sozialen Basis und der prokapitalistischen sozialen Funktion zu erklären, haben Max Horkheimer, Ernst Bloch und Wilhelm Reich auf die vor und außerkapitalistischen Wurzeln des E hingewiesen. Bloch erklärte die Anfälligkeit von Teilen des Mittelstandes und auch der Arbeiterschaft für den F mit dem Vorhandensein von »Ungleichzeitigkeiten« im Bewußtsein dieser Schichten, die zum Teil noch von vorindustriellen Verhältnissen geprägt seien. Auch Reich wies darauf hin, daß sich die ökonomische Lage nicht unmittelbar in politisches Bewußtsein umsetze, denn sonst dürften die Angehörigen des Mittelstandes und der Arbeiterschaft keine Partei wählen, die wie die f. Parteien nicht ihre materiellen Interessen vertrete. Zu diesem »Fehlverhalten«, zu diesem Verblendungszusammenhang sei es gekommen, weil die natürliche Sexualität auch und gerade in den Reihen des Mittelstandes und der Arbeiterschaft unterdrückt werde. Daher müsse die Bekämpfung des F. nicht nur zu einer sozialen, sondern auch einer sexuellen Befreiung der Menschen führen.

      III. Insgesamt ist die marxistische Faschismusdiskussion nach 1945 nicht wesentlich über den Stand hinausgekommen, der schon in der Zwischenkriegszeit erreicht worden war. Dies gilt vor allem für die dogmatisch-marxistische Faschismusdiskussion im kommunistischen Lager (siehe: Marxismus). Hier hält man bis heute an der erwähnten rein instrumentalistischen Definition des F. wie an einem Dogma fest. Umstritten war und ist allenfalls, wer die »am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« waren, in dessen Auftrag und direkter Anleitung die »offene terroristische Diktatur« des F. errichtet wurde. In diesem Zusammenhang wurden sowohl personalisierend einzelne Wirtschaftsführer wie einzelne Monopolgruppen genannt, die den F. für ihre Zwecke eingesetzt hätten.
      Innerhalb der kritisch-marxistischen Faschismusdiskussion ging und geht es vor allem um die bereits erwähnte Frage, ob es im f. Staat zu einem Primat der Politik oder zu einem Primat der Ökonomie gekommen ist. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Theorien August Thalheimers, Leo Trotzkis und zum Teil auch Antonio Gramscis rezipiert worden, die wiederum von der Bonapartismustheorie von Marx und Engels beeinflußt waren. Parallel zu den Versuchen, den Bündnischarakter des f. Staates zu beschreiben, in dem es zu einer partiellen Verselbständigung der Exekutive gekommen sei, gab und gibt es Bestrebungen, das ambivalente Verhältnis zwischen der mittelständischen sozialen Basis und der prokapitalistischen sozialen Funktion der f. Parteien zu erklären, wobei vor allem auf die Theorien von Reich, Bloch und Horkheimer zurückgegriffen wurde. Von einer Weiterentwicklung der »klassischen« marxistischen Faschismustheorien kann nur in Ansätzen gesprochen werden. Der wiss. Ertrag dieser Faschismusdiskussion, die in sehr starkem Maße von gegenwartspolitischen Tendenzen und von einer zum Teil inflationären Verwendung des Faschismusbegriffs gekennzeichnet war, muß als sehr gering eingestuft werden.

      IV. Nachdem man in der Bundesrepublik Deutschland und in anderen westlichen Ländern lange Zeit die Ursachen vor allem des 7 Nationalsozialismus in einer seit Bismarck oder gar seit Friedrich dem Großen und Luther »falsch« verlaufenden Nationalgeschichte hat sehen wollen oder den Nationalsozialismus mit der Person Hitlers identifizierte und zum Hitlerismus herunterstufte, ist es unter dem Einfluß der historisch-phänomenologischen Faschismustheorie Ernst Noltes zu einer sehr intensiven Faschismusdiskussion gekommen, wobei auch sozialwiss. Fragestellungen und Methoden angewandt wurden und werden.
      Leider ist dabei jedoch der Vorschlag Noltes, die verschiedenen Faschismen miteinander zu vergleichen und den italienischen »Normal-« vom deutschen »Radikalfaschismus« zu differenzieren sowie vom »Präfaschismus« und »Philofaschismus« in >` Autoritären Regimen abzugrenzen, bisher kaum aufgegriffen worden. Von einer wirklich vergleichenden und zugleich theoriegeleiteten Faschismusforschung kann nur in Ansätzen gesprochen werden. Sie ist jedoch notwendig, um die entscheidende Frage beantworten zu können, ob man nämlich an einem allgemeinen, keineswegs nur auf Italien begrenzten Faschismusbegriff festhalten kann. Dies und die gerade innerhalb der neomarxistischen Debatte zu beobachtende inflationäre Verwendung des Faschismusbegriffs hat in jüngster Zeit zu einer immer schärfer werdenden Kritik an dem Sinn und Nutzen eines allgemeinen Faschismusbegriffs und` der damit verbundenen Faschismustheorien geführt. Historiker wie Karl Dietrich Bracher, Renzo De Felice, Henry A. Turner meinen, daß eine undifferenzierte Verwendung des Ausdrucks »faschistisch« zu einer Verharmlosung vor allem des Nationalsozialismus und zu einer aus wiss. und politischen Gründen gleich unzulässigen Dämonisierung von autoritären Regimen oder gar parlamentarischen Systemen (siehe Parlamentarismus) führe. Da nach ihrer Meinung zudem die Unterschiede zwischen dem italienischen F. und dem deutschen Nationalsozialismus größer seien als die Gemeinsamkeiten, solle man zugunsten einer rein empirischen Forschung (oder auch zugunsten der Totalitarismustheorie) auf die Konstruktion eines allgemeinen Faschismusbetriffes und die Verwendung von Faschismustheorien verzichten.

      V. Der geforderte Verzicht von sozialwiss. Theorien im allgemeinen, von sozialwiss. Faschismustheorien insbesondere ist nicht durchführbar. Historische Forschung war und ist nie rein empirisch und theorielos gewesen. Wenn man nicht bereit ist, Fragestellungen, Methoden und heuristische Theorieansätze anzugeben, von denen man, bewußt oder unbewußt, ausgeht, besteht die Gefahr einer ideologischen Verschleierung und Verzerrung der zu erklärenden Wirklichkeit. Gegen die vorgeschlagene alternative Verwendung der Totalitarismustheorie spricht vor allem die Tatsache, daß die Unterschiede zwischen f. und kommunistischen Bewegungen und Regimen noch größer sind als die, welche zwischen den einzelnen Faschismen anzutreffen sind. Für die zumindest heuristische Verwendung von Faschismustheorien im Rahmen einer vergleichenden und zugleich sozialwiss. orientierten Forschung sprechen neben politischen Erwägungen - der F. ist schließlich nicht »tot«, sondern zumindest in einigen Ländern eine potentielle Gefahr - vor allem die bisherigen Ergebnisse der sozialwiss. orientierten und theoriegeleiteten Erforschung der Geschichte und Struktur einiger Faschismen.
      So hat z. B. gerade die Analyse des Nationalsozialismus wesentliche Impulse von der theoretischen Faschismusdiskussion erhalten. Verschiedene Thesen und Hypothesen konnten bestätigt und historisch fundiert werden. Dies gilt etwa für die Anfälligkeit von Angehörigen des Mittelstandes und von Menschen mit bestimmten, von Angst und Aggression geprägten psychischen Merkmalen. Dies gilt ferner für die bereits von Fraenkel und Neumann formulierte Erkenntnis, wonach das Dritte Reich keine monolithisch geschlossene, hierarchisch gegliederte »Führerdiktatur« war, sondern von Kompetenzkonflikten geprägt, durch die die terroristische Effizienz des Regimes jedoch nicht wesentlich geschmälert wurde. Mit Hilfe des Theorems von der partiellen Verselbständigung der f. Exekutive kann schließlich die Tatsache erklärt werden, daß die ideologisch geprägte Judenpolitik des »radikalfaschistischen« Deutschlands auch dann noch mit brutaler Konsequenz durchgeführt wurde, als dies auch gegen nüchterne wirtschaftlich oder militärpolitisch geprägte Kalküle verstieß.
      Faschismustheorien können und müssen gebündelt werden, können als heuristische Fragestellungen, als »Theorien mittlerer Reichweite« innerhalb der Faschismusforschung angewandt werden, die methodenpluralistisch und komparatistisch sein muß. Erst dann, nach einer umfassenden vergleichenden Forschung, sollte die Frage beantwortet werden, ob man an einem allgemeinen Faschismusbegriff festhalten und eine allgemeine und zugleich umfassende
      Faschismustheorie formulieren - soll oder nicht. Nutzen und Nachteil der einzelnen Theorien über F. sind nur innerhalb der konkreten Forschung nachzuweisen. Ein Streit um Begriffe und um bloße Theorien führt nicht weiter.
      Wolfgang Wippermann
      Lit.: Bracher, K. D.1976: Zeitgeschichtliche Kontroversen um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, München. De Felice, R. 1980: Die Deutungen des Faschismus, Göttingen (ital.1969). Grebing, H.1974: Aktuelle Theorien über Faschismus und Konservativismus, Stuttgart. Gregor, A. J. 1974: Interpretations of Fascism, New York. Kühnl, R. 1979: Faschismustheorien, Reinbek. Laqueur, W (Hrsg.) 1976: Fascism. A Reader`s Guide. Analysis, Interpretations, Bibliography, London. Larsen, S. u. a. (Hrsg.) 1980: Who were the Fascists. Social Roots of European Fascism, Bergen. Nolte, E. 1963: Der Faschismus in seiner Epoche, München. Nolte, E. (Hrsg.) 1967: Theorien über den Faschismus, Köln. Nolte, E. 1968: Die Krise des liberalen Systems und die faschistischen Bewegungen, München. Payne, St. G. 1980: Fascism. Comparison and Definition, Madison. Saage, R. 1976: Faschismustheorien. Eine Einführung, München. Schieder, W (Hrsg.) 1976: Faschismus als soziale Bewegung. Deutschland und Italien im Vergleich, Hamburg. Schulz, G. 1974: Faschismus-Nationalsozialismus. Versionen und theoretische Kontroversen 1922-1972, Berlin. Thamer, H.-U.l Wippermann, W 1977: Faschistische und neofaschistische Bewegungen, Darmstadt. Wippermann, W 1972: Faschismustheorien. Zum Stand der gegenwärtigen Diskussion, Darmstadt. Wippermann, W 1981: Zur Analyse des Faschismus. Die sozialistischen und kommunistischen Faschismustheorien, Frankfurt/ M. Wippermann, W 1983: Europäischer Faschismus im Vergleich, Frankfurt/M.

      Zitiert aus: Dieter Nohlen (Hrsg.) Wörterbuch Staat und Politik, Lizenzausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1991, S. 135
      Avatar
      schrieb am 25.06.03 18:08:00
      Beitrag Nr. 64 ()
      Die im Hinblick auf die lokale Diskussion nach meiner bescheidenen Ansicht interessantesten Textstellen habe ich mir durch "Fettdruck" hervorzuheben erlaubt.
      Es ist wohl überflüssig zu sagen, daß ich mich mit den zitierten Definitionen der Begriffe von "Faschismus" und "Totalitarismus" vollkommen identifizieren kann, weil das meine geschätzten Kontrahenten ja sowieso nie interessiert.

      Totalitarismus

      1. Zur Begriffsverwendung: Die Begriffe Totalitarismus (T) und totalitär werden in der -> Politikwissenschaft bei der vergleichenden Analyse politischer Systeme verwendet (-> Regierungssystem; -> Staatsformen). Sie dienen zur Charakterisierung der modernen Erscheinungsform monopolisierter und unumschränkter, alle Bereiche des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens umfassender Herrschaftsausübung, die mit den Kategorien der traditionellen Herrschaftsformenlehre nicht mehr hinreichend erfaßt werden kann. Diese Begriffe sind bei der Analyse faschistisch / nationalsozialistischer und kommunistischer Systeme entwickelt worden und im wesentlichen auf diese Herrschaftsformen beschränkt geblieben. Die generelle Berechtigung und die Reichweite ihrer Anwendung sind allerdings umstritten. Für eine Klärung der offenen Fragen wirkt sich erschwerend aus, daß der T-Begriff nicht nur als wissenschaftliche Kategorie, sondern auch als politischer Kampfbegriff verwendet wird und insbesondere in der Ost-West-Auseinandersetzung eine Rolle gespielt hat und z. T. immer noch spielt (z.B. China, Nordkorea).

      2. Zur Entwicklung der Analyse totalitärer Herrschaft: In Anlehnung an die umfassende Darstellung von W. Schlangen (1976) lassen sich vier Hauptphasen der politisch-wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen totalitärer Herrschaft unterscheiden. In den beiden ersten Phasen, die von der Mitte der zwanziger bis zur Mitte der fünfziger Jahre reichen, erfolgt die Entfaltung der T-Theorie. Aus der zunächst getrennten, dann miteinander verbundenen politisch-publizistischen Kritik faschistisch/nationalsozialistischer und kommunistischer Herrschaft (erste Phase) entwickelt sich die systematische wissenschaftliche Erforschung (zweite Phase). Diese führt über die beschreibende Klassifizierung der spezifischen Formen der Herrschaftsbegründung und -ausübung in Italien, Deutschland (---> Nationalsozialismus) und der Sowjetunion zu ihrer theoretischen Systematisierung als neuartiger Sonderform im Spektrum der politischen Herrschaftstypen. Die folgende, bis in die Gegenwart reichende Entwicklung ist durch die kritische Beschäftigung mit der T-Theorie selbst gekennzeichnet. Sie führt von der zunächst immanenten Kritik mit zeitgemäßen Modifizierungen und Ergänzungen der Konzeption (dritte Phase) zur grundsätzlichen Auseinandersetzung um ihre weitere Verwendbarkeit (vierte Phase). In der aktuellen Diskussion stehen sich die Positionen des generellen Verzichts auf dieses Erkenntnis- und Analyseinstrument in der Faschismus- und Kommunismusforschung Faschismustheorien) und des Festhaltens an seiner Nützlichkeit gegenüber, ohne daß derzeit eine vermittelnde Lösung erkennbar ist.

      3. Wege und Konzeptionen der Totalitarismusforschung

      3.1 Die politisch publizistische Entfaltung des Totalitarismusbegriffs: Die Begriffe >>totalitär« und »T.« sind erstmals in Italien in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre benutzt worden, und zwar in der publizistischen Kritik der liberalen, demokratischen und katholischen Opposition gegen das faschistische Regime. Mit ihnen sollte - nach den Worten des liberalen Parteiführers G. Amendola - das erschreckende Phänomen der alle Grundlagen des bisherigen politischen Lebens umstürzenden faschistischen Politik bezeichnet werden, »vor allem die bis zum Exzeß fortgesetzte Übertreibung des Eingreifens der Exekutivgewalt in das staatliche und gesellschaftliche Leben, die atemberaubende Umkehr der normalen Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft, so daß die Gesellschaft für den Staat, der Staat für die Regierung und die Regierung für die Partei existiert« (in Funke 1978, S. 122). Mussolini und die faschistische Parteiführung haben schon bald diese Bezeichnung zur positiven Charakterisierung ihrer Herrschaft als » regime totalitario« übernommen und zu einem zentralen Bestandteil des offiziellen faschistischen Staatsverständnisses gemacht. In Deutschland findet diese Staatsauffassung bereits vor 1933 Verbreitung im Umfeld der nationalsozialistischen Bewegung, vor allem in C. Schmitts Formel vom »totalen Staat« (---> Staat). Dieser Begriff geht auch in den Sprachgebrauch der nationalsozialistischen Führung ein; er erlangt hier aber nicht den offiziellen Stellenwert wie in Italien.
      In der antifaschistischen Kritik auf liberaldemokratischer Grundlage verbreitet sich der Begriff »totalitär« außerhalb Italiens und findet nach 1933 auch Anwendung auf das nationalsozialistische Herrschaftssystem. In die Analyse der Bedrohung des liberal-demokratischen Politik-, Gesellschafts- und Staatsverständnisses wird seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre auch die kommunistische Herrschaft in der Sowjetunion einbezogen. Der Vergleich der Formen der Machtausübung führt - bei aller Anerkennung der inhaltlichen Unterschiede in den ideologischen Zielsetzungen zur These von der strukturellen Gleichförmigkeit von Faschismus und Bolschewismus.
      Die Anwendung des T.-Begriffs auf das sowjetische Herrschaftssystem ist also keineswegs - wie verschiedentlich behauptet wird-ein Produkt des Kalten Krieges nach 1945, sondern beginnt bereits Ende der zwanziger Jahre, d. h. schon vordem Höhepunkt stalinistischer Herrschaftspraxis.

      3.2 Die klassische Totalitarismustheorie:
      (a) In die politikwissenschaftliche Diskussion findet der T-Begriff Eingang bei den Bemühungen, die neuen diktatorischen Systeme des 20. Jh. mit dem Begriffs- und Analyseinstrumentarium der überkommenen Herrschaftsformenlehre zu erfassen und einzuordnen. Dabei zeigt sich, daß unter den zeitgenössischen Diktaturen die in Italien, Deutschland und der Sowjetunion mit den bekannten Typen des Despotismus und der Autokratie nicht mehr vergleichbar sind und daß sie keinen Rückfall in traditionelle Formen vordemokratischer Herrschaft darstellen, sondern als postdemokratische Diktaturen etwas ganz Neues in der europäischen Geschichte und Kultur sind. Auf der ersten wissenschaftlichen Tagung über den T (1939 in den USA) hebt C. J. H. Hages folgende Merkmale als charakteristisch für die Einzigartigkeit der neuen Herrschaftsform hervor: den umfassenden, sich alle individuellen und gesellschaftlichen Bestrebungen unterordnenden Monopolanspruch der herrschenden Partei und ihres Führers; die Massenbasis der totalitären Bewegung in den unteren und mittleren Sozialschichten; die Absicherung des monopolistischen Herrschaftsanspruchs mittels pseudodemokratischer Legitimationstechniken unter Ausnutzung der Massenbeeinflussung durch neue technische Kommunikationsmittel; die Aufwertung und rücksichtslose Anwendung von Macht und Gewalt nicht nur als Mittel zum Zweck, sondern um ihrer selbst willen. Damit ist eine erste Stufe prinzipieller Abgrenzung dieser neuen Herrschaftsform sowohl gegenüber liberal-demokratischer als auch gegenüber traditioneller autoritärer Herrschaft erreicht.
      (b) Sie wird ergänzt und vertieft durch die Analyse der Beweggründe für die Entwicklung und den Einsatz der neuen Herrschaftstechniken. Die Untersuchungen führen zu dem Ergebnis, daß die entscheidende Triebkraft in der revolutionären Durchsetzung einer die überkommene politische Wertordnung umwälzenden Ideologie (--> Ideologiebegriffe) mit dem Anspruch umfassender Welterklärung liegt. In diesem Zusammenhang hat insbesondere die Arbeit von Hannah Arendt (1951) Bedeutung erlangt. Als das Wesentliche totalitärer Herrschaft sieht sie die Verbindung von Ideologie und Terror (siehe: Terrorismus). In den Ideologien der totalitären Systeme tritt an die Stelle der traditionellen Legitimationsgrundlagen politischer Herrschaft die Berufung auf die Durchsetzung des »Rechts der Natur« (im Nationalsozialismus) bzw. des »Gesetzes der Geschichte« (im Kommunismus). Angesichts der Erfahrungen mit der nationalsozialistischen und kommunistischen Gewaltherrschaft erscheint für die Durchsetzung der Ideologie die terroristische Gewaltanwendung als letztlich unentbehrlich und damit als das » eigentliche Wesen totalitärer Herrschaft«.
      (c) Den Höhepunkt der Entwicklung einer allgemeinen T-Theorie stellt die (im amerikanischen Original erstmals 1956 und in einer revidierten Fassung 1965 vorgelegte) Studie von C. J. Friedrich/Z. K. Brzezinski dar. In ihr werden die bisherigen Erkenntnisse über die Neuartigkeit der totalitären Diktatur, die Gemeinsamkeiten faschistischer und kommunistischer Herrschaft und ihre Unterscheidung von allen anderen Herrschaftsformen zusammengefaßt. In ihrer Beweisführung stützen sich die Autoren auf die Analyse des vorliegenden Tatsachenmaterials. Aus ihr gewinnen sie sechs grundlegende, in wechselseitiger Beziehung stehende Merkmale zur Kennzeichnung und Abgrenzung totalitärer Herrschaft: eine alle lebenswichtigen Aspekte der menschlichen Existenz umfassende, auf einen idealen Endzustand der Menschheit gerichtete Ideologie; eine einzige, straff und hierarchisch organisierte, der Staatsbürokratie übergeordnete oder mit ihr verflochtene Massenpartei; ein durch Partei- und Geheimpolizeikontrolle verwirklichtes, sich moderner psychologischer Erkenntnisse bedienendes System psychischen oder physischen Terrors; ein Monopol der Massenkommunikationsmittel in den Händen von Partei und Staat; desgleichen ein Waffenmonopol; eine zentrale bürokratische Überwachung und Lenkung der gesamten Wirtschaft. Mit diesem Merkmalskatalog haben die Autoren entgegen ihrer eigenen Absicht - allerdings weniger einen realen Typus politischer Herrschaft beschrieben als vielmehr einen Idealtypus entwickelt. Weder sind in den verschiedenen Formen und Phasen totalitärer Systeme die einzelnen Merkmale gleich stark vertreten und miteinander verbunden, noch ist die totalitäre Durchdringung und Umwandlung der Gesellschaft je wirklich vollständig gelungen. Der Wert dieser Typusbildung liegt in der Möglichkeit, politische Systeme auf ihren Totalitätsanspruch zu prüfen, untereinander zu vergleichen und voneinander sowie gegen andere Systeme abzugrenzen.
      3.3 Kritik und Differenzierungen der Totalitarismustheorie in der Kommunismus- und Faschismusforschung: In der weiteren Detailanalyse faschistisch/nationalsozialistischer und kommunistischer Systeme ergibt sich eine Reihe von Problemen bei der Anwendung dieser Theorie. Sie führen dazu, daß sich beide Forschungsbereiche zum Teil von der gemeinsamen theoretischen Grundlage lösen und eigene Wege gehen.
      (a) In der Kommunismusforschung entsteht das Problem, ob und inwieweit die nachstalinistische Entwicklung mit ihren sozialen und politischen Wandlungen und Konflikten noch sinnvoll mit den Kategorien der T-Theorie erfaßt werden kann. Es wird bezweifelt, daß diese auf den Systemvergleich angelegte Konzeption noch nützlich sei für die Untersuchung der inneren Entwicklung kommunistischer Industriegesellschaften und der in ihr beobachtbaren Wandlungen: gewisse Rationalisierung der Ideologie, Reduzierung des physischen und psychischen Drucks, Öffnung des politischen Willensbildungsprozesses für eine zumindest beratende Partizipation von unten. Der insbesondere von P. C. Ludz (1964) am Beispiel der DDR (--> Deutsche Demokratische Republik) entwickelte Ansatz einer systemimmanenten Analyse unter Verwendung von Kategorien der soziologischen Konflikttheorie (--> Konsens und Konflikt) führt zu der These, daß die kommunistische Industriegesellschaft eher zu einer autoritären als zu einer totalitären Verfassung tendiere. Aus dieser Sicht wäre das T-Modell allenfalls auf die stalinistische Periode anwendbar; für die Folgezeit erscheinen kommunistische Systeme als ein Spezialfall autoritärer Herrschaft, für den der Begriff » konsultativer Autoritarismus« Verwendung gefunden hat. Diese in der Kommunismusforschung verbreitete Deutung ist jedoch nicht unwidersprochen geblieben. Unter Hinweis auf die zumindest partielle Rückkehr zu stalinistischen Herrschaftsmethoden in neuerer Zeit wird in der deutschen und internationalen Diskussion die Anwendbarkeit einer modifizierten T-Theorie auch für die Gegenwart kommunistischer Systeme betont. Für diese Totalitarismus-Modifizierung hat P. Graf Kielmansegg einen Entwurf vorgelegt, in dem totalitäre Herrschaft durch die Kombination folgender Merkmale charakterisiert wird: »monopolistische Konzentration der Chancen der Einflußnahme in einem Führungszentrum; prinzipiell unbegrenzte Reichweite der Entscheidungen des politischen Systems und prinzipiell unbeschränkte Intensität der Sanktionen (genauer: prinzipiell unbeschränkte Freiheit, Sanktionen zu verhängen)« (in Funke 1978, S. 75).
      (b) Bei der Anwendung der Kategorien der T-Theorie auf die faschistisch / nationalsozialistischen Systeme wird deutlich, daß das faschistische Italien nur begrenzt dem totalitären Selbstanspruch gerecht geworden ist. Aber auch für Deutschland heben detailliertere Analysen Einschränkungen des totalitären Charakters hervor: Weder habe der Nationalsozialismus eine wirkliche Umwälzung der Gesellschaft beabsichtigt, noch sei die totalitäre Gleichschaltung durchgängige Realität gewesen. Auch die Herrschaftsstruktur lasse sich eher als Polykratie konkurrierender Führungsgruppen denn als monolithisch charakterisieren. Der aus diesen Erkenntnissen gezogenen Konsequenz, das nationalsozialistische System nicht als totalitäres, sondern als autoritäres Regime zu begreifen (M. Greiffenhagen 1972), ist die Politikwissenschaft allerdings nicht durchgehend gefolgt. Vielmehr wird von einem Teil der Fachvertreter, auch unter Anerkennung der genannten Einschränkungen, am Erklärungswert der T-Theorie für das nationalsozialistische Herrschaftssystem festgehalten. Prinzipiell abgelehnt wird die Anwendung der T-Theorie von der marxistisch orientierten Forschung, die Faschismus als bürgerlich-kapitalistische Gegenrevolution strikt gegenüber kommunistischer Herrschaft abgrenzt und in der T-Theorie lediglich eine antikommunistische Integrationsideologie sieht (siehe: Marxismus).

      3.4 Totalitarismus als allgemeine Tendenz in der modernen Gesellschafts- und Staatsentwicklung: Es hat in den ---> Sozialwissenschaften wiederholt Versuche gegeben, den Anwendungsbereich der T-Konzeption über die faschistisch/nationalsozialistischen und kommunistischen Systeme hinaus auf die moderne Gesellschafts- und Staatsentwicklung generell auszudehnen. Prominente Beispiele dafür sind die Bemühungen von H. Marcuse (1964), die moderne Industriegesellschaft mit ihren ökonomischen und technokratischen Zwängen im allgemeinen und insbesondere in den USA als totalitär zu charakterisieren, sowie die Kritik des schwedischen Sozialstaats als totalitäre Wohlstandsdiktatur durch R. Huntford (1971). Jedoch haben diese Ansätze zur pauschalen Ausdehnung der Anwendung des T-Begriffs in den Sozialwissenschaften bisher keine allgemeine Anerkennung und Nachfolge gefunden. Allerdings ist die Sensibilität für totalitäre Gefährdungen und Versuchungen auch in liberal-demokratischen Systemen gewachsen. Insbesondere in der innersozialistischen Diskussion über die Weiterentwicklung der liberalen und sozialen Demokratie ist davor gewarnt worden, bei der angestrebten sozialistischen Umgestaltung liberale Freiheits- und Partizipationsrechte (- Freiheit; -j Partizipation) zugunsten totalitärer Verfügungsgewalt über die Gesellschaft aufzugeben (--> Sozialismustheorien). Auch die ?Orwell-Jahr"-Diskussionen haben zu der Einsicht beigetragen, daß T eine mögliche Konsequenz und Gefahr des Modernisierungsprozesses in entwickelten Industriegesellschaften bleibt und damit weiterhin die Aufmerksamkeit der Politikwissenschaft erfordert. In den neueren vergleichenden Analysen politischer Systeme (B. Crick 1975; G. Wuthe 21981; G. Brunner 1979ff.) wird durchgehend am Modell totalitärer Herrschaft als einer Grundform moderner politischer Systeme festgehalten (-> Politischer Systemvergleich).
      Siegfried Jenkner

      (Zitiert aus: Wolfgang W. Mickel: Handlexikon zur Politikwissenschaft, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1986, S. 521-524)

      Arendt, H.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt 1951. - Bracher, K. D.: Zeitgeschichtliche Kontroversen. Um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie. München 1984. - Curris, M.: Totalitarianism. New Brunswick/London 21980. -Funke, M. (Hg.): Totalitarismus. Düsseldorf 1978. - Gransow, V.: Konzeptionelle Wandlungen der Kommunismusforschung. Vom Totalitarismus zur Immanenz. Frankfurt/M. 1980. - Howe, 1. (Hg.): 1984 Revisited. Totalitarianism in Our Century. New York 1983. Institut für Zeitgeschichte (Hg.): Totalitarismus und Faschismus. München 1980. - Menze, E. A. (Hg.): Totalitarianism Reconsidered. Port Washington/London 1981. - Schapiro, L. B.: Totalitarismus. In: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Bd. VI. Freiburgar. 1972. - Schlangen, W.: Die Totalitarismus-Theorie. Stuttgart 1976. - Seidel, B.lJenkner, S. (Hg.): Wege der Totalitarismus-Forschung. Darmstadt 21974. - Totalitarian Democracy and After. Jerusalem 1984.
      Avatar
      schrieb am 25.06.03 18:14:02
      Beitrag Nr. 65 ()
      Totalitarismus/ Totalitarismustheorie

      I. »Alles für den Staat, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat.« Mit diesen Worten prägte Mussolini 1925 Wesen und Ziele des neuen stato totalitario. Auch andere faschistische Ideologen sowie Staatsrechtslehrer wie C. Schmitt, E. Forsthoff und E. R. Huber haben die Errichtung eines » totalen Staates« gefordert und ihn in der Gestalt des faschistischen Italiens und des nationalsozialistischen Deutschlands gefeiert. Das Bekenntnis zum Totalitären entsprach also durchaus dem Selbstverständnis des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus, obwohl oder gerade weil Anspruch und Wirklichkeit, in Italien sogar sehr weit, auseinanderklafften. Daher war es kein Wunder, daß in den ersten Deutungen des Faschismus in Italien von liberaler, aber auch von sozialistischer Seite der totalitäre Anspruch und Charakter des Faschismus als sein wesentliches Charakteristikum angesehen wurde. Deshalb wurde der Faschismus als Negation des Liberalismus und des Parlamentarismus sowie des Sozialismus bezeichnet und bekämpft. Relativ früh, nämlich schon in den 20er Jahren, kam eine andere Beobachtung hinzu, die schließlich den zweiten Grundzug der verschiedenen Totalitarismustheorien bilden sollte. Dies war die von L. Sturzo, F. Nitti, E. von Beckerath, E.Schotthöfer und teilweise auch von O. Bauer bemerkte Ähnlichkeit zwischen dem faschistischen Italien und dem bolschewistischen Rußland. In beiden Regimen sei es zu einer Zerschlagung demokratischer Parteien und Kräfte und zur Verwendung von terroristischen Methoden gegen politische Gegner gekommen (Terrorismus). Faschistische und kommunistische Staaten seien, wie vor allem R. Hilferding ausführte, in einem bisher nicht gekannten Ausmaß absolut, hätten sich von den sie stützenden Parteien und Schichten völlig verselbständigen können. Diese weitgehende Gleichsetzung von Faschismus Nationalsozialismus und Kommunismus hat in starkem Maße die Agitation und Propaganda der deutschen Sozialdemokratie geprägt, wobei man sich sowohl gegen die Nazis wie gegen die »Kozis« (= Kommunisten) wandte, weil man weder zu »Hitler-Knechten« noch zu »Stalin-Sklaven« werden wollte.
      Totalitarismus (T.) war also zunächst und vor allem ein Kampfbegriff von Sozialdemokraten und Liberalen, die sich bei ihrer Verteidigung der parlamentarischen Demokratie sowohl gegen Kommunisten wie Faschisten wandten und wenden mußten. Diese politische Funktion und Zielsetzung gegen den antidemokratischen Kommunismus und Faschismus / Nationalsozialismus hat auch die wiss. Totalitarismusforschung nie ganz verloren. Es ist daher kein Zufall, daß die Auseinandersetzung mit dem T. in den westlichen Ländern zur Zeit des Hitler-StalinPaktes ihren ersten Höhepunkt erreichte, um dann nach dem Auseinanderbrechen der Kriegskoalition zwischen der Sowjetunion und den Westmächten im Zeichen des Kalten Krieges besonders intensiviert zu werden. Dennoch ist es grundfalsch, in den wiss. Totalitarismustheorien nur Ideologien des Kalten Krieges und des Antikommunismus sehen zu wollen.


      II. Ein Strang der Totalitarismusforschung ist durch das Bestreben gekennzeichnet, bei aller Anerkennung der spezifisch modernen Züge totalitärer Staaten Ursprünge des T. in früheren Autoritären Regimen zu entdecken und geistige Wegbereiter der totalitären Ideologie ausfindig zu machen.
      So sah E. Neumann in Sparta und in der Herrschaft Diokletians »frühere Experimente<< einer totalitären Diktatur. E. Faul bezeichnete den modernen T. als einen »übersteigerten Machiavellismus«, und J. L. Talmop wies auf Rousseau als den »Vater des Totalitarismus« hin und bezeichnete Robespierre als den ersten totalitären (t.) Diktator. Andere Autoren vertraten dagegen die These, daß es sich beim T. um eine spezifisch moderne Staatsform handele. In ihrer konkreten Gestalt sei sie durch den Stand der modernen Technologie bedingt und geprägt. Ihre Voraussetzungen seien durch die modernen Revolutionen, Modernisierungen und Demokratisierungsprozesse geschaffen worden, die zu einer Vermassung und Atomisierung der Menschen geführt hätten. Während F. Neumann in seinem zuerst 1942 publizierten Buch Behemoth sich auf die - bis heute wegweisende - Analyse des t. Dritten Reiches beschränkte, hat S. Neumann in seinem Werk über die »Permanente Revolution« das Dritte Reich, die Sowjetunion und das faschistische Italien miteinander verglichen und als t. Diktaturen bezeichnet, weil hier jeder Bereich menschlicher Aktivitäten durch die staatliche Bürokratie einerseits und durch die nach dem Führerprinzip gegliederte und aufgebaute Partei andererseits kontrolliert werde.
      Mit H.Arendts »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« aus dem Jahre 1955 erschien das bis heute maßgebende klassische Werk einer historisch fundierten und theoriegeleiteten Totalitarismusforschung. Arendt unterschied einmal strikt zwischen autoritären Diktaturen, die die Freiheit nur einschränkten, und t. Regimen des 20.Jh.s in denen die Freiheit schlechthin abgeschafft werde. Dennoch wies sie gleichzeitig auf die Ursprünge des T. hin, die sie im Antisemitismus einerseits, im Imperialismus des 19. Jh.s andererseits sehen wollte (siehe: Imperialismustheorien). Unmittelbare Voraussetzung für die Entstehung t. Regime seien die Atomisierung und die Vermassung in den modernen Gesellschaften, die zu einer sozialen und geistigen Krise geführt hätten. Die t. Doktrin biete den verunsicherten Menschen eine totale Welterklärung und verwirkliche sie gleichzeitig durch den Einsatz eines unbeschränkten Terrors. Ideologie und Terror seien daher als die Hauptcharakteristika der t. Staatsform anzusehen. Sie prägten auch den Aufbau der totalitären Organisationen. Als t. Staaten charakterisierte Arendt das Dritte Reich und die Sowjetunion. Das faschistische Italien müsse man dagegen als autoritär bezeichnen.
      Während Arendt eine mehr historisch beschreibende realtypische Definition des T gab, haben C. J. Friedrich und Z. Brzezinski versucht, einen Idealtyp des T. zu konstruieren.
      Totalitär seien solche Staaten, in denen folgende Merkmale anzutreffen seien:
      1) eine Ideologie, die alle Bereiche des menschlichen Lebens umfaßt, einen Endzustand der Menschheit proklamiert, die bestehende Gesellschaft dagegen radikal verwirft,
      2) eine hierarchisch aufgebaute und von einem Mann geführte Partei, die etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung umfaßt und der Bürokratie übergeordnet oder mit ihr verflochten ist,
      3) ein Terrorsystem, das sich vor allem gegen potentielle und willkürlich ausgewählte »feindliche« Klassen oder Rassen richtet,
      4) die Staatsführung verfügt über ein Nachrichtenmonopol und
      5) über ein Waffenmonopol,
      6) die Wirtschaft ist einer zentralen Kontrolle unterworfen.

      III. Die weitere Totalitarismusforschung stand vor allem im Zeichen der von Friedrich und Brzezinski entwickelten idealtypischen Theorie, die einen notwendigerweise statischen Charakter hatte. Die Weiterentwicklung der Sowjetunion im Zuge der sog. Entstalinisierung (Stalinismus) konnte daher nur schwer mit dieser Theorie erfaßt und erklärt werden.

      Hinzu kam, daß die neuere Forschung erkannte, daß auch das Dritte Reich keineswegs so monolithisch totalitär strukturiert gewesen ist, wie dies von Anhängern der Totalitarismustheorie behauptet worden war.
      Unter Anlehnung und Übernahme von Erkenntnissen, die schon in den Arbeiten von E. Fraenkel und F. Neumann zu finden sind, wurde die These formuliert, daß das nationalsozialistische Regime in Wirklichkeit von ständigen Kompetenzkonflikten zwischen den Institutionen der Partei, der Bürokratie, der Wehrmacht und der Wirtschaft geprägt war, so daß es insgesamt einen eher polykratischen Charakter trug. Hinzu kam, daß die wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen in Deutschland ganz anders waren als in Rußland, wo eine Parteidiktatur in einem noch weitgehend rückständigen Land errichtet wurde, die dann auch unter Einsatz diktatorischer und terroristischer Methoden versuchte, eine Industrialisierung des Landes zu erreichen. Schließlich wird man wohl kaum behaupten können, daß die Wirtschaft im Dritten Reich so vom Staat kontrolliert worden ist wie in der Sowjetunion. Kurz - das sehr grobe und notwendigerweise statische Totalitarismusmodell erwies sich immer mehr als nicht hinreichend, um der historischen Realität im kommunistischen Bußland und im nationalsozialistischen Deutschland gerecht zu werden. Den nicht zu verkennenden Gemeinsamkeiten innerhalb der terroristischen Herrschaftspraxis stehen deutliche Unterschiede im Hinblick auf die Struktur und Zielsetzung in beiden Regimen gegenüber. Daher spricht viel für die Vermutung, daß auch die Ergebnisse einer vergleichenden und theoriegeleiteten Totalitarismusforschung begrenzt sein werden.
      Dennoch können und müssen die im Zeichen der Totalitarismustheorie gewonnenen Erkenntnisse über den Charakter sowohl des Dritten Reiches wie der Sowjetunion gewürdigt werden. Es ist daher unzulässig, die Totalitarismusforschung insgesamt als ideologisch verblendet pauschal abzulehnen. Die wichtigsten Standardwerke über die Geschichte der Sowjetunion und des Dritten Reiches sind von der Totalitarismustheorie beeinflußt worden, ohne daß dies zu einer Verfälschung der historischen Wirklichkeit geführt hätte.
      Dies ist von einigen Autoren nicht gesehen worden, die sich gegen die Totalitarismustheorie wandten und für die Verwendung von Faschismustheorien aussprachen. Die Kritik an der zweifellos politisch geprägten Totalitarismustheorie stand und steht also ebenfalls unter politischen Aspekten.
      Doch gerade dies, der übrigens wechselseitige Vorwurf von Anhängern der Totalitarismus- und Faschismustheorie, politische Zielsetzungen zu verfolgen, hilft der Sache, der Erforschung der Geschichte des Dritten Reiches und der Sowjetunion nicht weiter. Forschungen können und müssen nur nach ihren Ergebnissen, nicht nach den dabei verwandten Theorien und Begriffen gemessen werden. Ob sich flexibel angewandte und differenzierte Totalitarismus- oder, wofür einiges spricht, Faschismustheorien bei der methodenpluralistischen und komparatistischen Faschismusforschung als sinnvoller und erfolgversprechender erweisen, dies wird erst die weitere empirische Forschung zeigen.

      Wolfgang Wippermann

      (Zitiert nach Dieter Nohlen [Hrsg.]: Wörterbuch Staat und Politik, Lizenzausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1991, S. 708-711)
      Lit.: Arendt, H. 1955: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/M. Bracher, K. D. 1976: Zeitgeschichtliche Kontroversen um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, München. Bracher, K. D. 1987: Die totalitäre Erfahrung, München. Fraenkel, E. 1941: The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship, New York. Friedrich, C.J. Brzezinski, Z., 1956: Totalitarian Dictatorship and Autocracy, Cambridge. Greiffenhagen, M.lKühnl, R.l Müller, J. B. 1972: Totalitarismus. Zur Problematik eines politischen Begriffs, München. Jänicke, M. 1971: Totalitäre Herrschaft. Anatomie eines politischen Begriffs, Berlin. Ludz, P. C. 1968: Parteielite im Wandel. Funktionsaufbau, Sozialstruktur und Ideologie der SED-Führung, Köln/ Opladen. Neumann, F. L. 21942/44: Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism
      Avatar
      schrieb am 25.06.03 23:29:51
      Beitrag Nr. 66 ()
      Totalitarismus muß nicht unter allen Umständen ein "kommunistisches Gesicht" haben, obwohl dies in unserer realen Welt das bisher einzige offen erkennbare "Gesicht" war.

      statt belehrung wäre selbsterkenntnis erforderlich :laugh::laugh:
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 00:18:34
      Beitrag Nr. 67 ()
      #64 Auryn, wir sprachen von der Aktualität!
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 00:19:56
      Beitrag Nr. 68 ()
      #66 Antigone,

      ......

      :kiss:
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 00:29:56
      Beitrag Nr. 69 ()
      hallo mirabellchen :kiss:
      schöne grüsse an den mirabello und auch dem nen :kiss:
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 07:50:30
      Beitrag Nr. 70 ()
      Eine entscheidende Schwäche gängiger Totalitarismustheorien ist, daß sie unzureichend die konkrete historische Herkunft der "totalitären" Diktaturen des 20. Jahrhunderts erklären.

      Kommunismus/Bolschewismus und Faschismus/Nationalsozialismus sind direkte Ergebnisse des Ersten Weltkrieges und damit Produkte der bürgerlichen Gesellschaft.

      Statt die "totalitären" Gesellschaftssysteme der liberalen Marktgesellschaft gegenüberzustellen, liegt die Crux der Geschichte darin, daß die "totalitären" Gesellschaftssysteme in der bürgerlichen Gesellschaft begründet sind.

      Ohne totalen Krieg keine totale Herrschaft.

      Aber der totale Krieg, historisch zum ersten Mal auf der Weltbühne zwischen 1914 und 1918 praktiziert, war (und ist!) ein politisches Mittel, das in der bürgerlichen Marktgesellschaft immer latent vorhanden ist.

      Die übliche einfache Gegenüberstellung in den Lehrbüchern -- hie die gute, bewahrens- und verteidigenswerte bürgerliche Demokratie, dort die bösen, verabscheuungswürdigen und zu bekämpfenden totalitären Diktaturen -- ist eine Selbsttäuschung der liberalen Politologie und Historie.

      Wer die Schrecken der "totalitären" Diktaturen verstehen will, muß damit beginnen, sich kundig zu machen über die Schrecken an den Fronten des Ersten Weltkrieges. Die Verrohung und Brutalisierung der Massen, die gemeinhin als Ergebnis "totalitärer" Politik gedeutet wird, ist in jenem Ersten Weltkrieg geschehen. Man vergißt z.B. oft, daß es der erste Krieg war, in dem C-Waffen eingesetzt wurden. Ehrenwerte bürgerliche Staatsmänner aller beteiligten Länder haben damals begonnen, Menschen mit Gas massenhaft zu töten.

      Dasselbe gilt für die typischen Mittel "totalitärer" Diktaturen zur vollständigen Kontrolle der Gesellschaft. Konkretes Beispiel: die Überwachung der Kommunikation, damals vor allem in Form der Briefzensur. Selbst in einem Land mit so weit zurückreichenden freiheitlichen Traditionen wie Großbritannien ist während des Ersten Weltkrieges die Briefzensur derart umfassend gewesen, wie sie auch von den "totalitären" Diktaturen bis heute nicht übertroffen worden ist. Praktisch jeder Privatbrief wurde von einer schnell aus dem Boden gestampften Zensurbehörde kontrolliert - und bei Bedarf aus dem Verkehr gezogen und polizeilich, resp. geheimdienstlich ausgewertet.

      Die "totalitären" Diktaturen haben praktisch nichts selbst erfunden. Sie brauchten nur anzuwenden, was die bürgerliche Gesellschaft im Ersten Weltkrieg entwickelt und praktiziert hatte.
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 08:05:00
      Beitrag Nr. 71 ()
      leghorn
      dafür könnte ich dich :kiss:en

      denn das ist starker tobak für das vereinigte und verschworene board-bürgertum. :laugh::laugh:

      for4zim kann bis heute nicht finden, dass der deutsche faschismus aus der sogenannten "mitte" der vermeintlich entmilitarisierten gesellschaft erwuchs. für ihn sind die lügengebäude der reichswehr des ersten weltkrieges nach wie vor in kraft. so gilt ihm rosa luxemburg, die diesen krieg und seine entstehungsgeschichte höchst fein analysiert und gebrandmarkt hat und dafür fast die ganze kriegszeit im gefängnis sass, als eine widerliche hetzerin, eben so, wie die oberste heeresleitung sie auch sah.

      in diesen kreisen hängt man lieber verschwörungstheorien an: faschismus? ganz einfach: hitler war`s. basta. :laugh::laugh:
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 08:05:05
      Beitrag Nr. 72 ()
      66: Es muß eine Art Betriebsblindheit sein, ausgelöst aus Dankbarkeit vor der Errettung des ekeligen totalitären Kommunismus.

      Anders kann man sich den Realitätsverlust in bezug auf die gerade stattfindene Entwicklung des Westens nicht erklären...


      @ Leghorn, Zustimmung, doch bis du sicher das es erst der 1. Weltkrieg war? Das Gesicht des Krieges hat sich gewandelt, klar, aber wenn du mal die Kraft hast, Hans Dollinger, "Schwarzbuch der Menschheit" zu lesen, wirst du feststellen, dass die Menschheit vor diesen Problemen seit mindestens 5000 Jahren steht, also seit der ersten großen Überbevölkerung in Zentralasien mit anschließenden Hungersnöten und Völkerwanderungen. Siehe dazu die Saharasia-Thesen von DeMeo.
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 08:10:04
      Beitrag Nr. 73 ()
      Leghorn, interessante Überlegungen, aber durchaus angreifbar. Ich gebe mal eine kurze Aufzählung von Regimen, die unbestreitbar totalitär waren/ sind, das heißt wo eine Ideologie alle Lebensbereiche mittels Massenorganisationen, Gleichschaltung und diktatorischer Führung beherrscht (was in etwa den Definitionen zuvor entspricht, wobei ich die aber schon für zu speziell halte):

      Nazi-Deutschland, (vorher bürgerliche Demokratie)
      Mussolino-Italien, (vorher konstitutionelle Monarchie)
      UdSSR, (vorher monarchische Autokratie)
      Nordkorea, (vorher japanisch besetzt)
      Kambodscha unter Pol Pot, (vorher konstitutionelle Monarchie)
      Äthiopien unter der KP, (vorher Monarchie)
      Kuba, (vorher Diktatur)
      VR China, (vorher quasi-demokratisch, teilweise Herrschaft von War-Lords und japanische Besetzung)
      Iran, (vorher monarchische Autokratie)
      Nordvietnam (vorher französische Kolonie).

      Es gab auch Vorläufer, z.B. die Herrschaft des Wohlfahrtsausschusses in Frankreich - allerdings war das eine kurzlebige Erscheinung, denn es fehlte die Massenorganisation und andere Sachen, da man damals einfach noch nicht so weit war. Man könnte sagen, daß unter Robespierre zaghaft die ersten tastenden Versuche zur Errichtung eines totalitären Staates gemacht wurden, mit Ideologie, die in die Privatbereiche dringt, Terror, Überwachung. Ich vermute sogar, daß die Berufsrevolutionäre der Zeit Lenins von damals und vom Kommuneaufstand einige Anregungen mitnahmen.

      Insgesamt ergibt sich also, daß totalitäre Herrschaften aus jeder Gesellschaft entstehen können. Entscheidend ist, daß ein Machtvakuum entsteht, das die totalitäre Partei füllen kann, und eine große Popularisierung der totalitären Partei, damit sie eine Machtbasis gewinnt. Der Übergang kann manchmal durch Wahl, meistens aber durch Putsch oder Revolution geschehen, üblicherweise bei einem bereits geschwächtem Regime.
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 08:19:55
      Beitrag Nr. 74 ()
      Die Machtmittel zu Errichtung totalitärer Systeme bestehen seit Erfindung des Geldes und der Religion, so wie wir sie kennen. Die Endentwicklung des seit 5000 Jahren stattfindenen zyklischen Zusammenbruchs durch systemimmanente Fehler führt immer zu Gewalt.
      Ein Machtvakuum ist die Folge, nicht die Ursache der Gewalt...


      Niemand läßt sich freiwillig die Macht aus den Händen nehmen!
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 08:31:25
      Beitrag Nr. 75 ()
      for4zim ist ein meister im verdrehen der tatsachen.
      vor allem gelingt es ihm regelmäßig, ursache und folgen bis zur unkenntlichkeit durcheinanderzubringen.

      über robbespierre als keimzelle des totalitarismus kann man schwadronieren, nicht aber über den menschenverachtenden absolutismus, der die ursache für die revolution abgab.

      auch das zaristische russland ist gerechtfertigt per se, da gab es keine ochrana, keine gewaltherrschaft von gottes gnaden, oder wenn, dann waisenknäbisch gegen einen lenin.

      geschichtsklitterung pur vor dem hintergrund eines schrägen totalitarismusbegriffs, der zu nichts führt, als der bestätigung der eigenen vorurteile. :rolleyes:
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 08:40:22
      Beitrag Nr. 76 ()
      antigone, LostLilith, danke, daß ihr uns (die User des Boardes) an euren wirren Gedanken teilhaben laßt. Ich denke, jede hier konnte das zur Kenntnis nehmen, was ihr zu schreiben hattet. Und nun wünsche ich euch beiden noch einen schönen Tag, vielleicht auch bei Lektüre von Büchern zur Totalitarismustheorie und über Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 08:51:35
      Beitrag Nr. 77 ()
      :laugh: der herr spricht im pluralis majestatis.
      ganz überzeugter absolutist läßt er wissen,
      dass er für die leser des boards spricht. :laugh::laugh:
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 09:03:25
      Beitrag Nr. 78 ()
      Er meint die anderen User der Firma, die hier auch noch posten. Dann spricht er immer im Plural.


      Dabei werden es zum Glück immer mehr, die dieses perfide Spielchen durchschauen.


      Im ernst, niemand der denken kann würde sich auf faktisch allen Positionen der unkritischen Systemmeinung anschließen, so wie for4zim es tut!
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 09:25:51
      Beitrag Nr. 79 ()
      Um übrigens die Anregungen aufzugreifen, ein kurzer Blick auf die Bedingungen für das Aufkommen totalitärer Regime. Es ist ja in der Tat verwunderlich, wie eigentlich Menschen dazu kommen, zuzulassen, von einer ideologischen Diktatur beherrscht zu werden. Ich denke, daß man meistens feststellen wird, daß ein Legitimitätsverlust der bestehenden Macht vorausging, und die totalitäre Bewegung nun verspricht, das entstehende Vakuum an staatlicher Rechtfertigung durch eine Heilserwartung auszufüllen.

      Ich fange mit der französischen Revolution an, obwohl hier noch nicht die Bedingungen für eine totalitäre Diktatur bestanden: es fehlte eine geschlossene Partei als Massenorganisation. Es fällt hier auf, daß die Revolution in zwei Stufen stattfand: die Monarchie wurde durch eine bürgerliche (vermutlich durch reiches Bürgertum gelenkte) Revolution entmachtet. Innerhalb dieser Revolution entstand nun eine republikanische Demokratie, die ihre Institutionen erst bilden mußte. In dieser Findungsphase konnten die radikalsten Kräfte unter Robespierre die Macht übernehmen, und ihre Herrschaft sowohl ideologisch (mit einem ganzen Kult um die neue Republik, ihren Werten und ihrer Ideologie der "Vernunft" ) als auch durch Terror (Denunziationen und Todesstrafe) vorübergehend festigen. Das Scheitern ist dann ein anderes Kapitel.

      Bei der russischen Revolution gab es eigentlich genauer gesagt eine Revolution (bürgerlich gegen das zaristische System, das durch Kriegsniederlagen und Mißwirtschaft, und immer wieder gebrochene Versprechen des Zaren, eine konstitutionelle Monarchie einzuführen, delegitimisiert war) und dann einen kommunistischen Putsch gegen die entstandene demokratische Republik (die durch Fortführung des Krieges und durch Schwierigkeiten beim Aufbau der Institutionen noch wenig eigenen Rückhalt im Volk gewinnen konnte). Das Volk stand nicht unbedingt hinter Lenins Partei (die gerade durchgeführten Wahlen, die die Kommunisten dann durch den Putsch annulierten, hatten die Bolschewiki verloren), aber eben auch nicht mehrheitlich hinter der bürgerlichen Republik, viele waren auch noch monarchistisch, was sich im folgenden Bürgerkrieg zeigte.

      Die Machtübernahme der Nazis erfolgte zwar aus einer schon bestehenden demokratischen Republik heraus, die sogar demokratische Traditionen aus der Kaiserzeit fortführte, aber diese Republik steckte aus mehreren Gründen in einer Legitimitätskrise: den Generälen der Kaiserzeit war es noch gelungen, die Verantwortung für die Kapitulation im 1. Weltkrieg der Republik unterzuschieben. Absichtsvoll wollte nicht Ludendorff die Kapitulation unterschreiben, sondern ein Vertreter der Republik hatte es zu tun. Dazu kam die Wirtschaftskrise und die Reparationsauflagen, durch die manche die Kaiserzeit zurückwünschten, andere einfach ein machtvolleres System als die in sich zerstrittene Republik. So war die Bevölkerung zersplittert in radikale Gruppierungen und nur die Minderheit bereit, für die bestehende Republik einzustehen.

      Diese Legitimitätskrisen der jeweiligen Staaten sind das, was ich mit dem Machtvakuum meine, das üblicherweise vor dem totalitären Regime steht. Das totalitäre Regime fällt nicht vom Himmel, sondern es muß Gründe dafür geben, daß Menschen eines Staates diese Herrschaftsform über sich ergehen lassen. Sie müssen einerseits geschwächt sein, so daß man sie überrumpeln kann, andererseits müssen genug mit der neuen Ideologie eine Heilserwartung verbinden, die sie hinnehmen läßt, daß die neue Staatsmacht so weitgehend alle Lebensbereiche beherrscht.
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 10:32:47
      Beitrag Nr. 80 ()
      Da "antigone" u.a. in Posting # 66 in ihrem Hobby verharrt, immer wieder auf zugegebenermaßen mißverständlichen Äußerungen meiner Wenigkeit herumzureiten, möchte ich zum ebenfalls wiederholten Male aus einem politologischen Standardwerk zitieren, wobei diese Passage sich bereits in Posting # 64 unter Punkt 3.3 findet.
      Es geht hierbei um die durchaus umstrittene Aussage, der Nationalsozialismus wäre nicht so "totalitär" gewesen wie der Kommunismus stalinistischer Prägung, worauf sich meine zu frühe Äußerung bezog, der "Kommunismus hätte in unserer realen Welt das einzige offen erkennbare Gesicht gehabt".

      O.K., diese Äußerung ist mißverständlich, was ich hiermit bedaure und ich hätte anders formulieren sollen.

      Tatsache aber ist unter anderem, daß vor Gericht gestellte Gegner des nationalsozialistischen Totalitarismus physisch vernichtet wurden und damit waren dann die Nazi-Fanatiker zufriedengestellt.
      Im kommunistischen Totalitarismus stalinistischer oder maoistischer Prägung genügte die physische Vernichtung der Gegner aber nicht; sie mußten auch zusätzlich psychisch vernichtet werden und erzwungene Geständnisse ablegen, nach denen sie vor ihren Richtern geradezu um ihre Hinrichtung flehen mußten.
      Nach Aussage eines meiner Professoren ist dies durchaus als Kennzeichen eines absolut alle Verstandesmöglichkeiten ausschalten wollenden kommunistischen Totalitarismus, der damit auf den ersten Blick erkennbar ist und noch weit über den nationalsozialistischen Totalitarismus hinausgeht.

      Dazu paßt auch die oben angekündigte Passage, die ich hiermit zum zweiten Male zitiere, wobei ich wiederum anmerke, daß sie natürlich nicht unumstritten ist, sondern immer auch die Meinung der professoralen Totalitarismus-Experten wiedergibt:
      3.3 (b) Bei der Anwendung der Kategorien der T-Theorie auf die faschistisch / nationalsozialistischen Systeme wird deutlich, daß das faschistische Italien nur begrenzt dem totalitären Selbstanspruch gerecht geworden ist. Aber auch für Deutschland heben detailliertere Analysen Einschränkungen des totalitären Charakters hervor: Weder habe der Nationalsozialismus eine wirkliche Umwälzung der Gesellschaft beabsichtigt, noch sei die totalitäre Gleichschaltung durchgängige Realität gewesen. Auch die Herrschaftsstruktur lasse sich eher als Polykratie konkurrierender Führungsgruppen denn als monolithisch charakterisieren. Der aus diesen Erkenntnissen gezogenen Konsequenz, das nationalsozialistische System nicht als totalitäres, sondern als autoritäres Regime zu begreifen (M. Greiffenhagen 1972), ist die Politikwissenschaft allerdings nicht durchgehend gefolgt. Vielmehr wird von einem Teil der Fachvertreter, auch unter Anerkennung der genannten Einschränkungen, am Erklärungswert der T-Theorie für das nationalsozialistische Herrschaftssystem festgehalten. Prinzipiell abgelehnt wird die Anwendung der T-Theorie von der marxistisch orientierten Forschung, die Faschismus als bürgerlich-kapitalistische Gegenrevolution strikt gegenüber kommunistischer Herrschaft abgrenzt und in der T-Theorie lediglich eine antikommunistische Integrationsideologie sieht.
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 10:35:11
      Beitrag Nr. 81 ()
      @ Mirabellchen (Posting # 67):
      Sind Nordkorea (völlige, totalitäre Abschottung) oder politische Teilaspekte Chinas (Zwangsumsiedlung von etwas über einer Million Menschen für einen Prestige-Staudamm) nicht mehr "aktuell"?
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 11:05:46
      Beitrag Nr. 82 ()
      Nochmal zu dem Posting 38, auch wenn euch das Wort Faschismus zu Wortklaubereien veranlaßt! Mir ist egal wie man das Kind nennt, wichtig sind mir die Symptome!


      starker und anhaltender Nationalismus
      Faschistische Regime neigen zu einem ständigen Gebrauch von patriotischen Mottos, Slogans, Symbolen, Liedern und was sonst noch dazu gehört. Flaggen sind überall zu sehen, wie auch Flaggensymbole auf Kleidung und anderen öffentlichen Präsentationen.

      http://www.n-tv.de/2783478.html

      2. Geringschätzung der Menschenrechte
      Aus Angst vor Feinden und dem Bedürfnis nach Sicherheit heraus werden die Menschen in einem faschistischen Regime überzeugt, daß die Menschenrechte in einigen Fällen ignoriert werden können. Die Leute sehen in die andere Richtung oder stimmen den Folterungen, Massenhinrichtungen, Ermordungen, langen Inhaftierung von Gefangenen uns so weiter sogar zu.

      http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/13848/1.html

      http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,240019,00.h…


      http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump…

      http://www.sueddeutsche.de/sz/politik/red-artikel6017/



      3. Identifizierung von Feinden/Sündenböcken als vereinigende Sache
      Die Leute werden in einen vereinigenden patriotischen Wahn getrieben durch das Ziel, eine erkannte allgemeine Bedrohung oder einen Feind zu beseitigen, sei es eine rassische, ethnische oder religiöse Minderheit; Liberale; Kommunisten; Sozialisten; Terroristen uns so weiter.

      http://www.friedenskooperative.de/themen/terrhg13.htm

      http://www.dradio.de/cgi-bin/es/neu-lit-pol/614.html

      http://www.taz.de/pt/2002/10/25/a0093.nf/text

      http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,249200,00.html


      4. Vorrang des Militärs
      Selbst wenn es weitreichende inländische Probleme gibt, erhält das Militär einen überproportional großen Anteil des Staatshaushalts und die inländischen Probleme werden vernachlässigt. Soldaten und das Militär werden verherrlicht.

      http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/export/us-aufru…


      http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,249151,00.html

      5. wachsender Sexismus
      Die Regierungen faschistischer Länder sind fast ausschließlich von Männern beherrscht. Unter faschistischen Regimen werden traditionelle Geschlechtsrollen stärker betont. Der Widerstand gegen Abtreibung ist groß, wie auch die Homophobie wie auch gegen Homosexuelle gerichtete Gesetzgebung und staatliche Politik.

      Hier habe ich nicht gesucht, allein aus meinem Wissen über Abtreibungsgegner und der verklemmten Sexualmoral wage ich aber abzuleiten, das auch dieser Punkt erfüllt wird!

      6. kontrollierte Massenmedien
      Manchmal werden die Medien direkt durch die Regierung kontrolliert, aber in anderen Fällen werden die Medien indirekt durch Verordnungen der Regierung kontrolliert oder durch geistesverwandte Sprecher oder Vorstände der Medien. Zensur, insbesondere in Kriegszeiten, ist weit verbreitet.


      Thread: Kein Titel für Thread 613758888 und Posting #870

      http://www.telepolis.de/deutsch/special/irak/14493/1.html

      7. Besessenheit von der nationalen Sicherheit
      Angst wird als Mittel der Motivation für die Massen durch die Regierung eingesetzt.

      Z.B. http://www.linkeseite.de/Texte/diverses/usa712.htm



      8. Religion und Regierung sind miteinander verflochten
      Regierungen faschistischer Länder neigen dazu, die gebräuchlichste Religion des Landes zu nutzen, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Religiöse Rhetorik und Fachsprache wird von Regierungsmitgliedern häufig genutzt, selbst wenn die Lehrsätze der Religion der Politik oder den Handlungen der Regierung genau entgegenstehen.

      http://www.abendblatt.de/daten/2003/02/13/123646.html

      http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,228467,00.h…

      http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/16/0,1872,2046032,00.html

      9. unternehmerische Macht wird geschützt
      Die Aristokraten der Industrie und der Unternehmen eines faschistischen Landes sind häufig diejenigen, die den politischen Führern an die Macht geholfen haben, was zu einer beidseitig nützlichen Beziehung von Unternehmen und Regierung und einer Machtelite führt.

      http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,172602,00.html
      Thread: Carlyle Group / DaimlerChrysler

      10. gewerkschaftliche Macht wird unterdrückt
      Da die organisierende Macht der Gewerkschaften die einzige wirkliche Bedrohung für ein faschistisches Regime darstellt, werden Gewerkschaften entweder ganz ausgemerzt oder sie werden stark unterdrückt.

      http://f25.parsimony.net/forum62150/messages/3483.htm

      11. Geringschätzung Intellektueller und der Künste
      Faschistische Länder neigen dazu, offene Feindschaft zu höherer Bildung und Akademien zu förden und zu tolerieren. Es ist nicht ungewöhnlich, daß Professoren oder andere Akademiker zensiert oder sogar verhaftet werden. Freier Ausdruck in der Kunst wird häufig öffentlich angegriffen und die Regierungen lehnen es häufig ab, die Künste zu fördern.

      Auch Penn und Crow sind von Boykott-Aufrufen, Hassbriefen und Vorwürfen betroffen, ihr Verhalten sei "unpatriotisch" und "anti-amerikanisch".

      Quelle: N-tv.de

      Diverse weiter Tatsachen, u.a. Mordrohungen gegen Kongressabgeordente Canthia McKinney usw.

      12. Besessenheit von Verbrechen und Bestrafung
      Unter faschistischen Regimes wird der Polizei fast unbegrenzte Macht zur Verbrechensbekämpfung eingeräumt. Das Volk ist häufig bereit, Polizeiverbrechen zu übersehen und sogar Bürgerrechte im Namen des Patriotismus` aufzugeben. In faschistischen Ländern gibt es meistens eine landesweite Polizeieinheit mit praktisch unbegrenzter Macht.

      http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,225141,00.html

      http://karl-heinz.heubaum.bei.t-online.de/12wh-usa.htm

      13. wachsende Seilschaften und Korruption
      Faschistische Regime werden fast immer von einer Gruppe von Freunden und Genossen regiert, die sich gegenseitig Regierungsposten zuschieben und ihre Macht und ihren Einfluß nutzen, um ihre Freunde davor schützen, zur Verantwortung gezogen zu werden. Es ist in faschistischen Regimen nicht unüblich, daß nationale Ressourcen oder sogar Schätze von den Regierungsmitgliedern angeeignet oder sogar gestohlen werden.

      http://www.cash.ch/index.cfm?id=143

      http://www.wsws.org/de/2001/aug2001/cont-j08.shtml

      http://www.zeit-fragen.ch/ARCHIV/ZF_104d/T02.HTM


      14. betrügerische Wahlen
      Manchmal sind die Wahlen in faschistischen Ländern ein kompletter Schwindel. In anderen Fällen werden die Wahlen durch Schmutzkampagnen oder sogar die Ermordung von Oppositionskandidaten, Nutzung der Gesetzgebung um die Anzahl der Stimmberechtigten oder der Wahlbezirke zu kontrollieren, oder Beeinflußung der Medien manipuliert. Faschistische Länder nutzen auch typischerweise ihre Richterschaft, um die Wahlen zu manipulieren oder zu kontrollieren.

      http://rhein-zeitung.de/on/00/11/27/topnews/wahlchro.html



      Wo fehlt hier jemand der Realitätsbezug? Wo ist 1984 Anti-Utopie? Wer starrt gebannt auf den Totalirismus-Begriff, wenn der nächste Faschismus schon um die Ecke lugt? Wer schweigt angesichts dieser Entwicklungen, oder versucht es sogar zu rechtfertigen auf Grund neuer Gefahren für die Welt?" target="_blank" rel="nofollow ugc noopener">http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump…

      http://www.sueddeutsche.de/sz/politik/red-artikel6017/



      3. Identifizierung von Feinden/Sündenböcken als vereinigende Sache
      Die Leute werden in einen vereinigenden patriotischen Wahn getrieben durch das Ziel, eine erkannte allgemeine Bedrohung oder einen Feind zu beseitigen, sei es eine rassische, ethnische oder religiöse Minderheit; Liberale; Kommunisten; Sozialisten; Terroristen uns so weiter.

      http://www.friedenskooperative.de/themen/terrhg13.htm

      http://www.dradio.de/cgi-bin/es/neu-lit-pol/614.html

      http://www.taz.de/pt/2002/10/25/a0093.nf/text

      http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,249200,00.html


      4. Vorrang des Militärs
      Selbst wenn es weitreichende inländische Probleme gibt, erhält das Militär einen überproportional großen Anteil des Staatshaushalts und die inländischen Probleme werden vernachlässigt. Soldaten und das Militär werden verherrlicht.

      http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/export/us-aufru…


      http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,249151,00.html

      5. wachsender Sexismus
      Die Regierungen faschistischer Länder sind fast ausschließlich von Männern beherrscht. Unter faschistischen Regimen werden traditionelle Geschlechtsrollen stärker betont. Der Widerstand gegen Abtreibung ist groß, wie auch die Homophobie wie auch gegen Homosexuelle gerichtete Gesetzgebung und staatliche Politik.

      Hier habe ich nicht gesucht, allein aus meinem Wissen über Abtreibungsgegner und der verklemmten Sexualmoral wage ich aber abzuleiten, das auch dieser Punkt erfüllt wird!

      6. kontrollierte Massenmedien
      Manchmal werden die Medien direkt durch die Regierung kontrolliert, aber in anderen Fällen werden die Medien indirekt durch Verordnungen der Regierung kontrolliert oder durch geistesverwandte Sprecher oder Vorstände der Medien. Zensur, insbesondere in Kriegszeiten, ist weit verbreitet.


      Thread: Kein Titel für Thread 613758888 und Posting #870

      http://www.telepolis.de/deutsch/special/irak/14493/1.html

      7. Besessenheit von der nationalen Sicherheit
      Angst wird als Mittel der Motivation für die Massen durch die Regierung eingesetzt.

      Z.B. http://www.linkeseite.de/Texte/diverses/usa712.htm



      8. Religion und Regierung sind miteinander verflochten
      Regierungen faschistischer Länder neigen dazu, die gebräuchlichste Religion des Landes zu nutzen, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Religiöse Rhetorik und Fachsprache wird von Regierungsmitgliedern häufig genutzt, selbst wenn die Lehrsätze der Religion der Politik oder den Handlungen der Regierung genau entgegenstehen.

      http://www.abendblatt.de/daten/2003/02/13/123646.html

      http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,228467,00.h…

      http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/16/0,1872,2046032,00.html

      9. unternehmerische Macht wird geschützt
      Die Aristokraten der Industrie und der Unternehmen eines faschistischen Landes sind häufig diejenigen, die den politischen Führern an die Macht geholfen haben, was zu einer beidseitig nützlichen Beziehung von Unternehmen und Regierung und einer Machtelite führt.

      http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,172602,00.html
      Thread: Carlyle Group / DaimlerChrysler

      10. gewerkschaftliche Macht wird unterdrückt
      Da die organisierende Macht der Gewerkschaften die einzige wirkliche Bedrohung für ein faschistisches Regime darstellt, werden Gewerkschaften entweder ganz ausgemerzt oder sie werden stark unterdrückt.

      http://f25.parsimony.net/forum62150/messages/3483.htm

      11. Geringschätzung Intellektueller und der Künste
      Faschistische Länder neigen dazu, offene Feindschaft zu höherer Bildung und Akademien zu förden und zu tolerieren. Es ist nicht ungewöhnlich, daß Professoren oder andere Akademiker zensiert oder sogar verhaftet werden. Freier Ausdruck in der Kunst wird häufig öffentlich angegriffen und die Regierungen lehnen es häufig ab, die Künste zu fördern.

      Auch Penn und Crow sind von Boykott-Aufrufen, Hassbriefen und Vorwürfen betroffen, ihr Verhalten sei "unpatriotisch" und "anti-amerikanisch".

      Quelle: N-tv.de

      Diverse weiter Tatsachen, u.a. Mordrohungen gegen Kongressabgeordente Canthia McKinney usw.

      12. Besessenheit von Verbrechen und Bestrafung
      Unter faschistischen Regimes wird der Polizei fast unbegrenzte Macht zur Verbrechensbekämpfung eingeräumt. Das Volk ist häufig bereit, Polizeiverbrechen zu übersehen und sogar Bürgerrechte im Namen des Patriotismus` aufzugeben. In faschistischen Ländern gibt es meistens eine landesweite Polizeieinheit mit praktisch unbegrenzter Macht.

      http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,225141,00.html

      http://karl-heinz.heubaum.bei.t-online.de/12wh-usa.htm

      13. wachsende Seilschaften und Korruption
      Faschistische Regime werden fast immer von einer Gruppe von Freunden und Genossen regiert, die sich gegenseitig Regierungsposten zuschieben und ihre Macht und ihren Einfluß nutzen, um ihre Freunde davor schützen, zur Verantwortung gezogen zu werden. Es ist in faschistischen Regimen nicht unüblich, daß nationale Ressourcen oder sogar Schätze von den Regierungsmitgliedern angeeignet oder sogar gestohlen werden.

      http://www.cash.ch/index.cfm?id=143

      http://www.wsws.org/de/2001/aug2001/cont-j08.shtml

      http://www.zeit-fragen.ch/ARCHIV/ZF_104d/T02.HTM


      14. betrügerische Wahlen
      Manchmal sind die Wahlen in faschistischen Ländern ein kompletter Schwindel. In anderen Fällen werden die Wahlen durch Schmutzkampagnen oder sogar die Ermordung von Oppositionskandidaten, Nutzung der Gesetzgebung um die Anzahl der Stimmberechtigten oder der Wahlbezirke zu kontrollieren, oder Beeinflußung der Medien manipuliert. Faschistische Länder nutzen auch typischerweise ihre Richterschaft, um die Wahlen zu manipulieren oder zu kontrollieren.

      http://rhein-zeitung.de/on/00/11/27/topnews/wahlchro.html



      Wo fehlt hier jemand der Realitätsbezug? Wo ist 1984 Anti-Utopie? Wer starrt gebannt auf den Totalirismus-Begriff, wenn der nächste Faschismus schon um die Ecke lugt? Wer schweigt angesichts dieser Entwicklungen, oder versucht es sogar zu rechtfertigen auf Grund neuer Gefahren für die Welt?
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 11:18:40
      Beitrag Nr. 83 ()
      Es gilt mal wieder: mit Irren darf man nicht diskutieren...;)

      Immerhin sieht man, wohin das führt, wenn jemand zuerst feststellt, daß ein Land X faschistisch sei, und sich dann Kriterien für den Faschismus so zusammensucht, daß sie mit etwas Gewalt an den Fakten auf das Land passen. Allerdings wäre nach dieser Definition auch das zaristische Rußland, das absolutistische Frankreich oder gar das Königreich Israel unter Salomon "faschistisch" gewesen, was zeigt, wie unbrauchbar diese Kriterien sind.

      Kriterium Nr. 1 bei einem faschistischen Staat sind faschistische Ideologie und Führerprinzip statt Demokratieprinzip. Da in den USA weder die bestehenden Parteien ihr Programm durch ein faschistisches ausgewechselt haben, noch plötzlich Wahlen oder die Unabhängigkeit der Richter abgeschafft wurden, kann man davon ausgehen, daß in den USA weder das Führerprinzip Einzug hielt, noch sich die Parteien dort zum Faschismus bekennen. Das wird natürlich einige Sektierer nicht daran hindern, die USA faschistisch zu nennen. Wir erinnern uns, die RAF begann ihre Formierung damit, daß sie der Bundesrepublik Deutschland unterstellte, daß sie faschistisch sei. Da war dann auch eine Diskussion nicht mehr möglich, da halt die RAF-Angehörigen und ihre Sympathisanten sich im Besitz exklusiver Wahrheit dünkten...
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 11:21:43
      Beitrag Nr. 84 ()
      @ LostLilith (Posting # 82):

      Da mögen schon beunruhigende Beispiele dabei sein, aber wie bezeichnest Du dann die Herrschaftsform Nordkoreas oder des Iran, wenn Du uns mit Posting # 82 offenkundig nahezulegen versuchst, daß die USA ein "faschistischer Staat" wären?

      Sind solche "anderen Systeme" für unsere Zukunft völlig bedeutungslos - z.B. unter Berücksichtigung der Tatsache, daß EU, USA und Rußland sich gerade darüber einig zu sein scheinen, daß die Produktion von Atomwaffen in Nordkorea und im Iran nicht "akzeptabel" ist?
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 11:29:57
      Beitrag Nr. 85 ()
      #84 das sind natürlich auch faschistische Regimes, wieso sollte man unterscheiden, wenn alle Kriterien zutreffen?

      Ob ich mich dem Dikat von religiösen Irren oder Staatsmännern im Schafspelz, die vom Großen Geld kontrolliert werden unterwerfen muß, ist doch herzlich egal.


      Kreiert meinetwegen ein neues Wort dafür, wenn ihr es unbedingt abgrenzen wollt, ich bin und bleibe der Meinung, es gibt keinerlei Grund für eine solche Abgrenzung!

      Es sind nur Worte, über die ihr streitet, vergeßt nicht die Realität! Und in der gibt es keine Demokratie, keine Gesellschaft wie ihr sie gerne hättet, und, in dem ihr auf die "Bösen" zeigt von den Mißständen in unserer Gesellschaftsform ablenken wollt!
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 11:42:06
      Beitrag Nr. 86 ()
      @ LostLilith (Posting # 85):
      Dann ist also ein Land wie Nordkorea, das seit 1953 überhaupt keine unkontrollierte Telefon- und Postverbindung mit den Nachbarländern oder dem Rest der Welt hat, keine Internetverbindungen mit dem Ausland besitzt und von dem sonst nur bekannt ist, daß es keine Privatautos und eine Menge verhungernder Menschen beherbergt, aber dafür Atomwaffen bauen will, in Deinem persönlichen Systemvergleich mit den USA vollkommen identisch, ja?
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 12:02:54
      Beitrag Nr. 87 ()
      Kleiner Nachtrag zu den Postings # 85 und # 86:
      Dann ist also das Herrschaftssystem Nordkoreas mit den USA identisch, ja?
      Dann ist das folgende also auch genau dasselbe System wie in den USA, ja?:

      Die nordkoreanische Regierung hatte unter ihrem "genialen Führer Kim Il Sung" seit 1953 nämlich in großen Teilen eine Weltsicht eingenommen, die im wesentlichen von einer völlig abgedrehten Sekte stammen könnte. Vermutlich ist nicht ganz zufällig der Gründer der "Moon-Sekte" auch Koreaner, nur eben aus Südkorea.
      In Nordkorea war es jedenfalls so, dass man sich seit dem Ende des Koreakrieg 1953 bis vor kurzem "ein-igelte", völlig von außen abschottete und auf den unvermeidlich kommenden Dritten Weltkrieg vorbereitete. Um für diesen Fall bessere Ausgangschancen zu haben, brauchte man nach so langer Isolation natürlich Leute, die wussten, wie es in den kapitalistischen Nachbar-Nationen Japan, Südkorea und auf den Philippinen zuging, damit man über die Lebensweisen dort informiert war, wenn man selbst mit der angenommenen Unterstützung Chinas dort eine Invasion starten konnte. Es war auch geplant, wie man heute von Kim Il Sungs "fröhlichem Sohn" Kim Jong Il bei "amüsanten" Tischgesprächen erfahren kann, dass vor der "großen Invasion" im Dritten Weltkrieg beispielsweise in Japan "autonome Invasions-Zellen" mit nordkoreanischen Agenten eingerichtet werden sollten, die im Kriegsfall durch Anschläge auf die japanische Regierung und ausgesuchte sonstige Ziele das Land "verteidigungsunfähig" machen sollten. Damit man aber im abgeschotteten stalinistischen Nordkorea über die "normalen" oder "modern-dekadenten" Lebensgewohnheiten in Japan immer auf dem laufenden war, war es notwendig, Menschen aus Japan zu entführen. Dies sollten vorzugsweise gebildete Studenten sein, es mussten aber auch "ganz normale" Menschen dabei sein, damit man aus deren Informationen lernen konnte, wie man als nordkoreanischer Agent in Japan nicht auffällt. Nordkoreas Regierung hat inzwischen eingestanden, dass mindestens 11 japanische Bürger in den letzten 30 Jahren in aller Welt von Nordkoreas Geheimdienst entführt wurden, wovon nach letzten Angaben nur noch 5 am Leben sein sollen. Japan will nun herausfinden, wie und woran die anderen 7 Entführungsopfer gestorben sind. Die Opfer wurden zum Teil in Europa entführt (vorzugsweise japanische Fremdsprachenstudentinnen, die betäubt in die nordkoreanischen Botschaften verschleppt und als "Luftfracht" unter Narkose nach Nordkorea geflogen wurden, aber auch durch nordkoreanische Geheimdienstler von nordkoreanischen U-Booten aus an einsamen japanischen Stränden gefangengenommen, so ein japanisches Ehepaar. Bekannt wurde dies erst vor ca. 10 Jahren durch einen Brief einer gefangenen japanischen Studentin, die aus Madrid verschleppt worden war und einen nordkoreanischen Botschaftsangestellten, der nach Polen versetzt wurde, nach einer Liebesaffäre überreden konnte, ihren Brief aus Warschau an ihre Eltern zu schicken, die 10 Jahre lang nur wussten, dass ihre Tochter in Madrid spurlos verschwunden war. Aber wer wollte diesen einfachen Leuten schon so eine Geschichte glauben? Selbst in Japan war das unglaublich!
      Inzwischen durften die 5 Entführten zu einem kurzen Besuch nach Japan reisen, von wo aus sie aber wieder nach Nordkorea zurückgekehrt sind, denn ihre Ehepartner und Kinder hatten "keine Lust", die japanischen Großeltern kennenzulernen.
      Überhaupt waren die Entführten recht einsilbig und wollten nichts über ihr Leben in Nordkorea erzählen, was ihren "Verwandten" dort nicht hätte gefallen können.

      Und wie sieht so allgemein die nordkoreanische Geschichte der letzten 50 Jahre aus?
      Dokumente in seit kurzem zugänglichen Moskauer Archiven zeigen, dass Kim Il Sung - der "geniale Staatsgründer Nordkoreas, der über den Wolken wandelte" - darauf brannte, die südkoreanische Führung zu stürzen, die er schon immer als "Marionetten" der Amerikaner bezeichnete: Die sogenannten Marionetten hatten eine sehr viel schwächere Armee als der Norden (die Vereinigten Staaten fürchteten sogar anfangs, daß der Süden sich aus eigenem Antrieb in ein Abenteuer im Norden stürzen könnte), gegen ihre autoritäre Machtausübung gab es Widerstand in Form von Streiks, Attentaten und von Kommunisten geschürten Guerillaaktivitäten in verschiedenen Teilen des Landes; Kim Il Sung dachte -oder sagte es zumindest-, daß die Menschen im Süden Vertrauen zu ihm und seiner Armee hätten. Dementsprechend drängte er Stalin zur Erlaubnis für eine Invasion, und Ende des Winters 1949/50 gab Stalin dann endlich grünes Licht. Am 25. Juni 1950 fand der geplante Einmarsch statt: Nordkoreanische Truppen drangen in einem Überraschungsangriff nach Süden vor. Dies war der Beginn eines schrecklichen Krieges, dem mehr als eine halbe Million Menschen beider Landesteile zum Opfer fielen; die Chinesen, die den Nordkoreanern zu Hilfe gekommen waren, als deren totale Vernichtung durch die UNO-Truppen unter General MacArthur drohte, verzeichneten 400 000 Tote und eine etwas höhere Zahl von Verletzten. Mindestens 200000 nordkoreanische und 50000 südkoreanische Soldaten starben, außerdem mehr als 50000 Amerikaner, Millionen heimatloser Flüchtlinge irrten umher. Das französische UNO-Kontingent hatte etwa 300 Tote und 800 Verwundete zu beklagen.

      Nur wenige Kriege lassen sich so eindeutig auf kommunistisches Expansionsstreben-selbstverständlich zum Wohle des Volkes-zurückführen. Seinerzeit stellten sich etliche französische Intellektuelle -Jean-Paul Sartre beispielsweise - auf die Seite der Kommunisten und brandmarkten Südkorea als Aggressor, der in ein friedliches Land eingedrungen sei. Heute, nachdem viele Archive zugänglich geworden sind, kann es keinen Zweifel mehr geben: Diese und andere Leiden, etwa die Leiden der Kriegsgefangenen (6000 amerikanische Soldaten und ungefähr ebenso viele aus anderen Ländern, vorwiegend aus Südkorea, starben in Gefangenschaft), das Martyrium der französischen und englischen Botschaftsangehörigen, die in Seoul geblieben waren und von nordkoreanischen Truppen festgenommen und anschließend deportiert wurden, und dasjenige der in Südkorea tätigen Missionare, die ebenfalls deportiert wurden, gehen auf das Konto des Kommunismus.`

      Bekanntlich wurde nach drei Jahren Krieg im Juli 1953 ein Waffenstillstand unterzeichnet, der die Errichtung einer entmilitarisierten Zone zwischen Nord- und Südteil des Landes entlang der ursprünglichen Demarkationslinie, dem 38. Breitengrad, vorsah. Bei etlichen Vorstößen und Angriffen Nordkoreas gegen den Süden starben in der Folgezeit zahlreiche Opfer. Unter den Schlägen, die der Norden dem Süden zufügte und die sich sowohl gegen Militärangehörige wie gegen die Zivilbevölkerung richteten, sind der Angriff eines 31 Mann starken Kommandos im Jahr 1968 auf den Präsidentenpalast in Südkorea zu nennen (nur ein Angreifer überlebte), der Anschlag im birmanischen Rangun am 9. Oktober 1983 auf Mitglieder der Seouler Regierung - 16 Tote, darunter vier südkoreanische Minister -, und die Explosion eines Verkehrsflugzeugs der Korea Air Line am 29. November 1987 in der Luft, bei der 115 Passagiere starben.

      Nordkorea ist nicht tatverdächtig - es ist schuldig. Eine in nordkoreanischen Diensten stehende Terroristin sagte nach ihrer Festnahme, bei dem Anschlag 1987 sei es darum gegangen, durch die Demonstration, daß der Süden nicht in der Lage sei, die Sicherheit der Olympischen Spiele zu gewährleisten, die wenige Monate später in Seoul stattfinden sollten, das internationale Ansehen des Landes zu beschädigen."

      Fügen wir, da es hier um den Krieg gegen die gesamte kapitalistische Welt geht, noch hinzu, daß Nordkorea in den sechziger und siebziger Jahren unterschiedlichen terroristischen Gruppen Zuflucht gewährte, insbesondere der japanischen Roten Armee, die sich durch Attentate in Israel hervorgetan hatte, palästinensischen Fedajin, phillippinischen Guerilleros usw. Aber selbst den meisten von denen gefiel es schon nach kurzer Zeit nicht mehr in Nordkorea, so daß die meisten von ihnen entweder bei Feuergefechten mit ihren jeweiligen "Lieblings-Gegnern" getötet wurden oder inzwischen in irgendwelchen westlichen Gefängnissen sitzen.
      Ja, Nord-Korea ist wirklich ein schönes Land...
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 12:12:26
      Beitrag Nr. 88 ()
      Kleine Korrektur: 5 plus 7 gibt - ääh - 12, nicht 11, oder?
      ;)
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 12:20:25
      Beitrag Nr. 89 ()
      identisch? Es ändert doch wohl wenig an der allgemeinen Tendenz, wenn es nicht 100 % identisch ist.

      Z.B. sind die Namen verschieden, der eine heißt G.W. Bushi, der andere Kim Yong wie auch immer. Also gibt es keine Gemeinsamkeiten.

      Was hier versucht wird ist wirkliche Wortklauberei.


      100 % identitisch gibt es noch nicht einmal bei eineigigen Zwillingen, wie sollte das in der Politik möglich sein?


      Nochmal: Wir müssen Merkmale solche Regimes festlegen, und diese auf die Realität überprüfen. Genau das habe ich gemacht, mit den Merkmalen des Lawrence Britt. Wer sich an den Merkmalen stößt, soll bitte begründet vorlegen, warum, und nicht die Defintion von Faschismus oder totalitären Staaten bis zum Letzten treiben, mir ist schleierhaft, was diese Sache bringen soll!
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 12:28:11
      Beitrag Nr. 90 ()
      @ LostLilith (Posting # 89):
      Könntest Du bitte mal Posting # 87 plus # 86 aufmerksam lesen und mir dann erklären, wieso Nordkorea seit über 50 Jahren keinen Kontakt mit der Außenwelt zuläßt, keine Telefonverbindungen, keine Postverbindungen und keine Massenkommunikationsverbindungen mit der "restlichen Welt" wünscht, nach Meinung von Cap Anamur Hunderttausende von Menschen verhungern läßt, nach Meinung der UN circa 50.000 Nordkoreaner nach China geflüchtet sind und Nordkorea trotzdem unbedingt Atomwaffen braucht?
      Und dann bringe mir doch bitte noch die Merkmale der Parallelen von Nord-Korea und seinem Regierungs- und Staatssystem zu den USA!
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 12:37:35
      Beitrag Nr. 91 ()
      Kleine zusätzliche Übernahme aus Thread: Aktenzeichen 11.9 ungelöst- eine Reportage, weil ich eigentlich doch ziemlich faul bin und mich gerne selbst zitiere:
      ;)
      @ LostLilith (Posting # 113):
      Also interessieren tät`s mich ja schon, ob ich ein Posting für "sittin bull inv, LostLilith, etc." wegen realer Personalunion der virtuellen IDs nur einmal bringen muß, damit die alle es gelesen haben, oder ob ich es drei- oder mehrmals bringen muß, damit die alle es gelesen haben.
      Ich und andere würden sich damit unter Umständen ziemlich viel Arbeit ersparen...
      ;)
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 13:03:32
      Beitrag Nr. 92 ()
      Hrm, nur für die wirklich interessierte Öffentlichkeit:
      Die sehr persönliche Antwort zu Posting # 91 findet sich in dem dort genannten Thread im dortigen Posting # 126 und ich sage dazu ab jetzt nichts mehr, weil Privatfehden anderer eben sehr private Angelegenheiten bleiben sollten.
      Vielen Dank im voraus für jeden Verständnisversuch!
      Bye für heute,
      Auryn
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 14:36:02
      Beitrag Nr. 93 ()
      @ for4zim (#73 & 79)

      Bis auf den Iran entstanden alle Regimes, die Du nennst, in unmittelbarer Folge auf den Ersten Weltkrieg, oder sie beriefen sich auf eine Ideologie (den Marxismus-Leninsmus), die ohne den Ersten Weltkrieg niemals geschichtsmächtig geworden wäre. Und alle diese Regimes sind ihrerseits durch innere und/oder äußere Kriege auf die Welt gekommen. Nichts anderes wollte ich sagen.

      Dabei betrachte ich allerdings die "bürgerliche Gesellschaft" nicht im beschränkt nationalen Rahmen. Auch ein unterentwickeltes, "rückständiges" Land ist Teil des Weltsystems, genauso wie Slums oder Gefängnisse innerhalb der Industriestaaten Teil der bürgerlichen Gesellschaft sind. Diese Integration des ganzen Globus in das kapitalistische Weltsystem ist ein Prozeß, der seit Jahrhunderten abläuft (und nicht erst, seitdem ein paar geschichtsunkundige Ideologen die "Globalisierung" ausgerufen haben, um ihre neoliberale Kapitalismus-Variante zu installieren).


      Du schreibst:
      »Entscheidend ist, daß ein Machtvakuum entsteht, das die totalitäre Partei füllen kann, und eine große Popularisierung der totalitären Partei, damit sie eine Machtbasis gewinnt.«
      Damit nennst Du völlig zu Recht eine These, die in vielen Varianten der Totalitarismustheorie enthalten ist.

      Aber stimmt die These?

      Zum einen hat es gerade in Deutschland kein Machtvakuum gegeben. Im Gegenteil: Entscheidende Voraussetzung für die nationalsozialistische Machtergreifung war die Machtkonzentration in den falschen Händen vor dem 30. Januar 1933.

      Mit diesem einen, doch nun gewiss nicht nebensächlichen Gegenbeispiel ist die Allgemeingültigkeit der These vom "Machtvakuum" klar widerlegt. (Das ist ja das Vertrackte an Geschichtsdeutungen wie der Totalitarismustheorie mit weitreichendem Allgemeingültigkeitsanspruch: Finde ein Gegenbeispiel und schon ist die schönste Theorie im Eimer.)

      Zum anderen ist die These da, wo es ein Machtvakuum wirklich gab, nämlich zuerst in Rußland, ohne Erklärungswert. Woher kam denn das Machtvakuum? Rußland hat in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg eine beachtliche nachholende Industrialisierung durchgemacht, es war auf dem Weg zu einer bürgerlichen Marktgesellschaft (seit 1905 ist Rußland keine Autokratie mehr gewesen, sondern eher eine konstitutionelle Monarchie mit einem durchaus lebendigen Parlament). Im Ersten Weltkrieg zerstört diese junge bürgerliche Gesellschaft sich selbst. Nach drei Jahren Krieg wollen die Bauern nach Hause, und sie rennen buchstäblich von der Front weg zu ihrer Scholle. (In Frankreich verhindert man einen vergleichbaren Zusammenbruch zur selben Zeit mit Massenerschießungen von willkürlich herausgegriffenen Frontsoldaten. Mit brutalstem Terror treibt man die Männer wieder in den Terror des Krieges zurück. Man beachte auch den Unterschied zwischen einer jungen und einer "entwickelten" bürgerlichen Gesellschaft.)

      Kurzum: der Begriff "Machtvakuum" ist m.E. eine Leerformel, die genau das umgeht, worauf es entscheidend ankommt, wenn man die Entstehung "totalitärer" Diktaturen erklären will, nämlich der Weg bürgerlicher Gesellschaften in den Krieg, ihre Transformation im Krieg und ihr Zustand nach dem Krieg.

      Und daraus wiederum entspringt die entscheidende Frage, für die sich Totalitarismustheoretiker von vornherein nicht zuständig fühlen, weil sie fälschlicherweise glauben, das betreffe ein anderes Ressort: Im Unterschied zum Zweiten Weltkrieg war der Erste Weltkrieg kein Krieg zwischen bürgerlichen und "totalitären" Regimes. Es war ein Krieg innerhalb der bürgerlichen Welt. Wie ist es zu diesem Krieg auf "rein bürgerlicher Grundlage" gekommen? Das ist die Frage der Fragen. Dabei reite ich auch deshalb so sehr darauf herum, weil das keine rein historische Frage ist, sondern, leider, eine höchst aktuelle. Nach dem Zusammenbruch der "totalitären" Reaktionen auf die bürgerliche Gesellschaft sind wir wieder in der "rein bürgerlichen" Welt angekommen, die vor 1914 bestand.

      Der Begriff der "Legitimitätskrise" als Voraussetzung totalitärer Machtergreifung, den Du in einem späteren Posting nennst, greift m.E. zu kurz. Natürlich gehört zu einer Veränderung der politischen Ordnung, daß genug Menschen da sind, die mit der alten Ordnung unzufrieden sind und die den Willen und die Mittel haben, diese Ordnung umzustoßen. Aber Du bleibst dabei in der Argumentationsfigur eines völligen Bruchs zwischen bürgerlicher Demokratie und totalitärer Diktatur. Und dann erscheint es wiederum, als ob die totalitären Machthaber Herrschaftsinstrumente entwickeln und Methoden anwenden, die völlig neu seien. Dem widerspreche ich. Das Kernproblem ist doch, daß die (linke und die rechte) "totalitäre" Revolte gegen die bürgerliche Gesellschaft schließlich genau diejenigen Mittel verwendet, die diese bürgerliche Gesellschaft im Ersten Weltkrieg selbst entwickelt hat. Daraus entspringt die Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Es ist eine in der bürgerlichen Welt wurzelnde Katastrophe. Nirgendwo sonst, denn am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es nur diese bürgerliche Welt an der Macht, keine andere.





      @ LostLilith (#82)

      Volle Zustimmung. Darum geht es jetzt.

      Die Totalitarismus-Spezialisten auf den Lehrstühlen schauen, je nachdem, nach linksaußen oder nach rechtsaußen:
      Dort eine anarchistische Zelle oder da wieder rechtsradikale Rabauken, ach und natürlich die neue Bedrohung durch den Islam.

      Das Offensichtliche sehen die Wenigsten.

      Dabei ist es so klar: Bush und Berlusconi ...

      Da wird an den Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates gesägt, vom Zentrum der Macht her, und die wenigsten beamteten Vertreter der "Demokratiewissenschaft" Politologie erheben ihre Stimme. Na ja, es ist halt leichter mit der Macht als gegen die Macht zu segeln. Sollte es in 100 Jahren noch eine Menschheit geben, betreiben die zukünftigen Politologen dann wieder Vergangenheitsbewältigung und zeigen sich "entsetzt" und "betroffen" über das moralische Versagen so vieler ihrer Vorgänger. Selbstverständlich werden auch sie dann ihre Posten mit dem Versprechen antreten, diese Fehler nicht zu wiederholen ... wie könnte man auch so tief sinken ...





      @ LostLilith (#72)

      Ja, ich bin mir sicher, daß es der Erste Weltkrieg ist.

      Du hast natürlich recht mit dem Hinweis auf die Allgegenwärtigkeit von Kriegen in der Geschichte. Du siehst dabei ebenso wie ich, daß es eine veränderte Qualität des Krieges gibt. Aber vielleicht unterscheiden wir uns doch an dieser Stelle, so daß ich, auch auf die Gefahr hin, Eulen nach Athen zu tragen, dazu ein paar Worte sage:

      Durch die Entwicklung der Waffentechnik hat sich eine qualitative Veränderung ergeben. Ihren Kulminationspunkt hat sie mit den atomaren Massenvernichtungswaffen erreicht. Mit Streitäxten kann man die Menschheit nicht auslöschen - und sie auch nicht so permanent unter Schrecken und Kontrolle halten, ohne daß diese Waffen überhaupt eingesetzt werden müssen. Die Zerstörungswirkung moderner Waffen hat, leider, eine völlig neue Qualität im Vergleich zu allem, was wir aus der Geschichte der Menschheit vorher kennen.

      Neben die Zerstörungskraft tritt noch etwas anderes. Ich habe das Gas erwähnt, das heute zu den MVW gerechnet wird. Denke aber einfach nur an das Maschinengewehr (das zum ersten Mal übrigens im amerikanischen Bürgerkrieg eingesetzt worden ist.) Es beinhaltet ein etwas höheres Maß an Unpersönlichkeit im Tötungsvorgang. Da wird nicht mehr, wie bei einem Gewehr, genau auf einen Feind gezielt, sondern einfach "draufgehalten". Denke schließlich an eine Mine. Der Soldat, der die Minen legt, wird in aller Regel die Toten und Verletzten nicht sehen, vielleicht gehen die Minen erst Jahre nach der Plazierung in die Luft. Diese Art moderner Technik erst erlaubt es, daß die Kämpfenden sich immer weniger "Mann gegen Mann" gegenüberstehen. Das hat erhebliche Folgen.

      Für die Brutalisierung moderner Kriege und moderner Diktaturen ist das eine entscheidende Voraussetzung. Das "Auge in Auge mit dem Feind" früherer Zeiten hat eine nicht zu unterschätzende, die Gewalt eindämmende Wirkung, denn der Mensch ist ein soziales Wesen mit einer normalerweise ausgeprägten Tötungshemmung gegenüber seinem Mitmenschen.

      Und was im Krieg gilt, gilt auch für die Mechanismen des Terrors in Diktaturen. Praktisch alle Beteiligten erklären nachher, daß sie eigentlich nicht dabei waren, keine Überzeugung hatten, sie haben nur an Schreibtischen Bögen ausgefüllt, eine bestimmte Chemikalie entwickelt, einen Zug in eine bestimmte Richtung gefahren, ein abgesperrtes Gelände bewacht, aber persönlich haben sie gar niemanden umgebracht usw. usw. Oftmals ist das natürlich direkt gelogen. Aber öfter noch trifft es vom Ablauf her tatsächlich zu. Genau diese Mechanismen sind es, die die Unmenschlichkeit von KZ und Gulag überhaupt erst ermöglichen.

      So wie es der bürgerlichen Gesellschaft inhärent ist, zwischenmenschliche Beziehungen zu "versachlichen", sie "rechenhaft" zu gestalten, persönliche Verantwortung an unpersönliche Organisationen zu delegieren, so "versachlicht" sie mit moderner Technik und mit modernen Organisationsstrukturen auch die Kriegführung. Die scheinbare Virtualität von Golfkrieg I und II ist eine weitere Stufe in dieser "Verbürgerlichung" des Krieges. Das Problem dabei ist, daß dies zu keiner Hegung des Krieges führt, sondern im Gegenteil zu einer weiteren Enthemmung in der Gewaltanwendung.

      Sehr gut ist die mit dem Ersten Weltkrieg hereinbrechende neue technische Qualität der Kriegführung, ihre politisch-gesellschaftlichen Ursachen und ihre Folgen dargestellt worden von dem (keineswegs linken, sondern solid-bürgerlichen) verstorbenen französischen Soziologen Raymond Aron in seinem 1951 erschienenen Buch "Les Guerres en chaîne". (deutsch: "Der permanente Krieg", 1953.)

      Es gibt andere Arbeiten Arons, in denen schon im Titel klar ist, daß es um "Totalitarismus" geht. Aber dieses Buch ist m.E. das Wichtigste, das er dazu geschrieben hat - aber weil es vorderhand nicht in das eigene Ressort zu passen scheint, lassen es die meisten Totalitarismustheoretiker, zu ihrem eigenen Schaden, links liegen.

      mfg
      Leghorn
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 15:04:34
      Beitrag Nr. 94 ()
      @ Leghorn (Posting # 93):
      Zur Abwechslung widerspreche ich mal Deinem folgenden Zitat:
      Und daraus wiederum entspringt die entscheidende Frage, für die sich Totalitarismustheoretiker von vornherein nicht zuständig fühlen, weil sie fälschlicherweise glauben, das betreffe ein anderes Ressort: Im Unterschied zum Zweiten Weltkrieg war der Erste Weltkrieg kein Krieg zwischen bürgerlichen und "totalitären" Regimes. Es war ein Krieg innerhalb der bürgerlichen Welt. Wie ist es zu diesem Krieg auf "rein bürgerlicher Grundlage" gekommen? Das ist die Frage der Fragen. Dabei reite ich auch deshalb so sehr darauf herum, weil das keine rein historische Frage ist, sondern, leider, eine höchst aktuelle. Nach dem Zusammenbruch der "totalitären" Reaktionen auf die bürgerliche Gesellschaft sind wir wieder in der "rein bürgerlichen" Welt angekommen, die vor 1914 bestand.

      Du siehst die Weltgeschichte - wenn ich Dich richtig verstehe - unter dem Gesichtspunkt einer ziemlich marxistisch-leninistisch anmutenden Geschichtsschreibung in etwa derart, daß es eine fortlaufende gesetzmäßige Entwicklung hin zu einer bürgerlichen Gesellschaft gab, die mit ihren zwangsläufigen Randerscheinungen wie Imperialismus, unpersönliche Massengesellschaft etc. für alle Kriege seit der Industrialisierung und die restlichen Weltkriege ff. verantwortlich sein soll, oder?
      Meiner Meinung nach begann der Erste Weltkrieg aber nicht zwangsläufig wegen der "bürgerlichen Gesellschaft, sondern wegen des Machtanspruchs der damals herrschenden Vielvölkerstaaten und zwar insbesondere dem der Donaumonarchie Österreich-Ungarn, die im Widerspruch zum erwachenden Nationalismus der kleineren Völker Osteuropas stand, an denen bis dahin der Nationalaspekt der Französischen Revolution völlig vorbeigegangen war.
      Die "bürgerlichen Gesellschaften" von Großbritannien oder den USA waren an dem Krieg in Osteuropa nicht im geringsten interessiert, weil es dort für sie nichts mehr zu gewinnen gab. Erst die unheilvolle Kettenreaktion von automatischen Kriegserklärungen durch die gegenseitigen Beistandspakte führte zum Ersten Weltkrieg.
      Und wie würdest Du im Gefolge des Ersten Weltkriegs den polnisch-russischen Krieg von 1921/22 erklären, der die polnische Armee bis nach Kiew hineinführte? Das kann doch selbst nach Deiner Definition kein bürgerlicher Krieg gewesen sein, oder?
      Soll das schon der erste Stellvertreterkrieg gewesen sein oder der Krieg einer aus dem Nichts auftauchenden "bürgerlichen Gesellschaft" in Polen, die dem auch unter Lenin herrschenden russischen Vormachtstreben militärische Gewalt entgegensetzte?
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 15:13:11
      Beitrag Nr. 95 ()
      P.S.: Dann würde mich natürlich auch noch interessieren, in welcher Weise Du die von Dir postulierten Mängel und Vergehen der "bürgerlichen Gesellschaft" überwunden sehen wolltest bzw. welches Deine Alternative zur "bürgerlichen Gesellschaft" wäre, Leghorn.
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 15:14:01
      Beitrag Nr. 96 ()
      Ihr haut euch gegenseitig Eure zT selbstgestalteten Definitionen (eben "bürgerlich") um die Ohren, so dass sowieso niemals ein vernünftige Diskussion stattfinden kann. Selbst bei einer Einigung auf denselben Definitionskanon wird das Gespräch nicht einfacher, speziell bei den Interpretationen, s. auch 82 (übrigens ein gutes Posting, weil es mal konkret wird, auch wenn ich die Meinung nun wirklich nicht teile).

      Solange die Sprache nicht dieselbe ist, hat eine Unterhaltung schlicht keinen Sinn.

      Für mich ist ein totalitärer Staat ab jetzt einer, in dem Total-Tankstellen zu finden sind. :D
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 15:20:51
      Beitrag Nr. 97 ()
      @ puhvogel:
      Ich versuche doch gerade, eine gemeinsame Sprache zu finden.
      Wenn "Leghorn" die Definitionen des Marxismus-Leninismus von "bürgerlicher Gesellschaft" oder "Bourgeoisie" verwendet, dann weiß ich wenigstens, was er zu meinen glaubt.
      ;)
      Du wirst übrigens keine Total-Tankstellen in Nord-Korea finden, aber dafür ca. 90 Prozent aller Politologen mit der Meinung, daß dies nun wirklich ein "totalitärer Staat" ist, falls es überhaupt jemals eins gegeben hat, auf das die gewünschten idealtypischen Kriterien weitestgehend zugetroffen haben.
      Dort ist nur der wirklich frei, der von sich aus will, was er sowieso muß.
      :cry:
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 15:33:41
      Beitrag Nr. 98 ()
      Was scheren mich die Meinung von Politologen, die für ihre Arbeit meistens von irgend jemand bezahlt werden?


      Mir reicht mein eigener, gesunder Menschenverstand!

      Und keinerlei Diffamierung oder Ablenkung hilft über die tatsachen hinweg, die die "Crazys" in Washington geschaffen haben!

      Ich brauche auch keinen Politologen, um zu erkennen das es sich bei Nord-Korea um ein totalitäres, faschistisch anmutendendes Regime handelt. Aber ist das jetzt die Rechtfertigung dafür das sich westliche angebliche Demokratien die eher Plutokratien nennen das selbe rausnehmen dürfen wie Nord-Korea?

      Wer maßt sich an zu entscheiden, was Recht und was Unrecht ist?
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 15:51:34
      Beitrag Nr. 99 ()
      Ich kann euch nur Hans Dollinger "Scharzbuch der Menschheit" empfehlen. Vielleicht kommt der eine oder andere dahinter, woher die Zahl 5000 Jahre kommt.


      Dann James DeMeo, und zusätzlich den von mir bereits häufiger eingestellten Artikel: "Sind wir Menschen paradiesfähig?"

      Und leghorn, ich stimme eigentlich in allem zu, auch wenn hier wieder die Begrifflichkeiten angegriffen werden!

      Wer Geld als heiligstes Mittel verehrt, darf sich nicht wundern wenn Geld Kriege einfordert, um sich selbst wieder zu legitimieren, wenn eine Gesellschaft Zinsbedingt mal wieder am Rande des Abgrundes steht...

      Die ältesten Texte der Menschheit weisen schon auf diesen Umstand hin, man kann mir zwar vorwerfen, es wäre eine Privatreligion, die ich vertrete, aber die Bibel u. ähnliche Texte habe ich nicht zu verantworten, sondern nur zu interpretieren! Wenn andere meinen, das wäre alles Humbug, ist es ihre Sache. Sie möchten aber bitte bitte nicht jammern wenn unsere Welt mal wieder in Krieg versinkt obwohl sich das keiner vorstellen konnte! Und sie mögen es hoffentlich wieder schaffen Sündenböcke zu finden, damit niemand die wahren Ursachen für die Kriege der Menschheit rausfinden kann!
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 15:58:09
      Beitrag Nr. 100 ()
      @ LostLilith:

      Also wenn`s Dich freut, kann ich Dir sagen, daß ich im Moment nicht aus dem US-Imperium des Bösen bezahlt werde und auch aus keinen westlichen Land. Aber vielleicht ist das für Dich ja noch unakzeptabler.

      Falls die EU, die USA und Rußland gemeinsam zur Überzeugung gelangen, daß sich Nord-Korea und der Iran an keine international übliche Vereinbarung zur Kontrolle von Atomwaffen halten, ihre politischen Führungsgremien eine Bedrohung für ihre Nachbarn darstellen und zusätzlich die Mehrheit der UN-Staaten ein Embargo gegen Nord-Korea oder den Iran verhängen sollte, dann wird`s doch sehr interessant werden, wem man dann die Schuld für einen Krieg geben müßte, oder?

      Die letzte Frage aus Posting # 98 ist in der Internationalen Politik schon immer von größter Bedeutung gewesen, weil es zwischen den Staaten bis ins 20. Jahrhundert keine Sanktions-Instanz für Fehlverhalten gab.
      Mit anderen Worten: Es regierte bis dahin im wesentlichen das Gesetz des Dschungels und der Stärkere hatte grundsätzlich recht. Nur das Aufkommen so neumodischer Sachen wie der "parlamentarischen Demokratie" und der "Öffentlichen Meinung" hatte eine ziemlich mildernde Wirkung auf die Gesetze des Dschungels.
      Die ersten vertraglichen, internationalen Änderungsversuche zum Dschungelverhalten der Nationalstaaten waren neben Nicht-Angriffspakten insbesondere die Gründung des Völkerbundes nach dem Ersten Weltkrieg, wobei sich unglücklicherweise die USA, die Sowjetunion (bzw. kurz vorher noch Rußland) und das Deutsche Reich nicht beteiligten und die der Vereinten Nationen nach bzw. während des Zweiten Weltkriegs.
      Die UN haben immerhin etwas Ordnung in das Chaos der Internationalen Politik gebracht, aber im Prinzip hat sich am Dschungel nur wenig verändert und wir hatten zumindest bisher das Glück, daß die Demokratien den mächtigsten Club in der UN-Lobby gebildet haben.
      Allerdings muß ich zugeben, daß das Verhalten der USA in Bezug auf die Abstimmungen der letzten 12 Monate äußerst ungewöhnlich waren, doch die UN-Diplomaten haben ja immer schöne Formulierungen gefunden, so daß in der Frage, wer unrecht hat, sich niemand wirklich getroffen fühlen mußte.
      Mit wieder anderen Worten: Im Zweifel hat natürlich immer die mächtigste und reichste Demokratie in der UN das Recht und die meisten anderen Demokratien wie beispielsweise Deutschland sind "Demokratie-Chauvinisten", die der Ansicht sind, daß sich eine Diktatur noch lange nicht dasselbe herausnehmen kann wie eine Demokratie. Aber das sagt man natürlich nicht so deutlich wie ich jetzt.
      Und damit man leichter unterscheiden kann, was eine Demokratie ist und was nicht, gibt`s eben die Theorien der Politologen über Kennzeichen von Diktaturen in Form von Autoritarismus, Faschismus, Kommunismus und Totalitarismus.
      Und ich muß zu meiner Schande doch tatsächlich gestehen, daß ich diese Theorien oft sehr überzeugend finde, denn als es noch die bipolare Welt mit der Sowjetunion einerseits und den USA andererseits gab, sind doch tatsächlich viel mehr Leute in die USA und deren "brutal und grausam unterjochte" Machtgebiete wie West-Deutschland geflüchtet als umgekehrt, oder?
      Und meine rumäniendeutsche Familie war nur ein ganz winzig-winzig-kleiner Teil davon.
      ;)
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 16:02:13
      Beitrag Nr. 101 ()
      Falls "Leghorn" noch beiläufig vorbeischaut, möchte ich um die Beachtung meiner Fragen so um Posting # 94 herum bitten.
      Für heute verabschiede ich mich.
      Tschüß,
      Auryn
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 18:25:15
      Beitrag Nr. 102 ()
      @ Auryn (#94,95,101)

      Ich liege quer zur herrschenden Lehre, richtig.

      Aber ein Marxist, gar ein Leninist? Das wird ein Spaß, wenn ich es Freunden zu lesen gebe.

      Nun denn:

      Wo proklamiere ich einen historisch gesetzmäßigen Ablauf der Geschichte?

      Wo rufe ich zum Klassenkampf und zur "sozialistische Revolution" auf?

      Vor allem:
      Wo behaupte ich, daß das Handeln des Menschen ausschließlich oder überwiegend von ökonomischen Faktoren bestimmt würde?

      Alles Fehlanzeige.

      Oder stört es einfach, daß ich den Begriff "bürgerliche Gesellschaft" verwende statt z.B. "westliche Demokratie"?

      Dazu kann ich nur auf die Geschichte der Soziologie verweisen, in der jener Begriff eine lange Tradition hat, schon vor dem Marxismus und weit über den Marxismus hinaus. Mir ist klar, daß durch die pejorative Verwendung im Marxismus in vielen Ohren "bürgerliche Gesellschaft" bis heute nicht gut klingt. Aber das ist nicht mein Problem.

      Deutschland war vor dem Ersten Weltkrieg eine "bürgerliche Gesellschaft" aber keine "westliche Demokratie". Ich versage mir eine Erklärung. Es ist einfach so. Schon deshalb im vorherigen Text von mir fast durchgängig die Verwendung ersteren Begriffs.

      Du nennst konkrete Ursachen des Ersten Weltkrieges. Korrekt. Kein Widerspruch von mir. Aber ich kann darin keinen Einwand gegen meine Argumentation erblicken. Man schlitterte in diesen Krieg hinein, nachdem in Europa es seit 1815 keinen allgemeinen Krieg mehr gegeben hatte. Und dieser Krieg eskalierte in seiner Zerstörung über alles hinaus, was irgendein Verantwortlicher sich vorher vorgestellt hatte. Das ist ein Problem, über das man nachdenken muß, auch wenn die Resultate weh tun.

      Ich mache mir Gedanken um diese bürgerliche Ordnung, gerade weil ich mir keine bessere vorstellen kann. (Mag sein, mir fehlt die Phantasie oder der gemüthafte Optimismus dafür.) Allerdings weiß ich, im Unterschied zu vielen neoliberalen Ignoranten, die meinen, wir wären im Endhafen der Geschichte angekommen, daß die bürgerliche Welt genauso vergehen wird wie alles im Leben des Menschen vergeht. Ich weiß nicht wann; ich weiß nicht, was nachher kommt; ich bezweifle aber, daß es besser sein wird. Derzeit sehe ich den Karren einen Weg fahren, an dessen nicht zu fernem Ende uns schlimmstenfalls die totale Endlösung all unserer Probleme droht. Ich bin Skeptiker. Marx ist nicht mein Meister, vielleicht Michel de Montaigne.

      Verantwortung der bürgerlichen Welt für alles und jedes, was im 20. Jahrhundert geschehen ist?

      Nein, natürlich nicht für alles und jedes. Aber die totalitären Regimes sind ihrem Schoß entsprungen. Sie sind nicht von irgendwo da draußen gekommen. Die totalitären Alternativen entstanden 1918 in Rußland, danach in Italien, schließlich in Deutschland und über den Zweiten Weltkrieg hinaus auf vier Kontinenten. Die europäischen Mächte beherrschten noch bis nach dem Zweiten Weltkrieg direkt oder indirekt einen Großteil des Erdballs. Das darf man doch nicht unterschlagen und statt dessen annehmen, nur weil so böse Menschen wie Lenin zu einem ungünstigen historischen Moment kamen, sei die schöne alte Ordnung zusammengebrochen und von totalitären Diktaturen abgelöst worden.

      Du nennst den sowjetisch-polnischen Krieg. Ich glaube übrigens, daß es sich um eine polnische Leistung für Europa handelte, die leider bis heute unterschätzt wird. Und natürlich war das kein "bürgerlicher" Krieg. Ich habe nirgends gesagt, daß ich die Sowjetunion als "bürgerliche Gesellschaft" betrachten und etwa mit Großbritannien oder den USA gleichsetzen würde. Ich vertrete die Meinung, daß die Sowjetunion und auf der anderen Seite das nationalsozialistische Deutschland Methoden übernahmen, die im Ersten Weltkrieg entwickelt worden sind. Das ist im übrigen keine Behauptung allein von mir. Hitler hat immer wieder in seinen Reden vom "Fronterlebnis" gesprochen, das seine Bewegung "in die Heimat gebracht" habe. Und Lenin hat wiederholt ganz ausdrücklich gesagt, daß man beim "sozialistischen Aufbau" gerade auch von der Organisation der deutschen Kriegswirtschaft lernen müsse.

      Sowjetunion und Nazideutschland waren Systeme, die der bürgerlichen Ordnung (konkret dem Ersten Weltkrieg) entsprungen sind, die sich aber selbst als Gegensatz zur bürgerlichen Welt verstanden, und die ihre Macht zur Untergrabung der bürgerlichen Gesellschaft auch außerhalb ihrer Grenzen nutzten, bis hin zu kriegerischen Aggressionen, so im Zweiten Weltkrieg oder im (wie wir heute aus internen Dokumenten wissen, von Stalin und Mao gebilligten) nordkoreanischen Angriff auf Südkorea.

      Und es ist eine kaum zu unterschätzende welthistorische Leistung der bürgerlichen Gesellschaft, daß sie sich gegen beide Bedrohungen behauptet hat.

      Aber bitte, jetzt darf man doch daraus nicht folgern, daß nun alles in Butter ist, daß es keine Verantwortung der bürgerlichen Gesellschaft für das Geschehene gibt, nämlich daß diese totalitären Herausforderungen überhaupt auftraten und diese Verwüstung in der Welt anrichteten. Genausowenig darf man die Augen davor verschließen, daß die bürgerlichen Staaten oder meinetwegen die westlichen Demokratien auch selbst immer wieder Unrecht nach innen und nach außen begangen haben und begehen. Im schlechten Kino gibt es entweder die Guten oder die Bösen. Das Leben ist ein wenig komplizierter.

      Ich werfe dem landläufigen liberalen und konservativen Selbstverständnis vor, daß der Schmutz im eigenen Hof allzu oft einfach geleugnet wird. Wenn so eine Wirklichkeitsverweigerung eintritt, dann nenne ich das Ideologie, ganz egal, ob ein Marxist-Leninist die grausige Realität des Gulag leugnet oder ein Anhänger der westlichen Demokratie die direkte oder indirekte Verantwortung und Schuld der bürgerlichen Welt für viele (nochmal: nicht für alle!) Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Und die schwerste historische Schuld sehe ich in der Selbstzerfleischung des bürgerlichen Europa im Ersten Weltkrieg.

      Es ist für mich nicht neu, daß liberale oder konservative Anhänger der bürgerlichen Gesellschaft das nicht gerne hören. Denn natürlich kommt man nicht um die Frage nach den Ursachen dieser Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts herum. Ich bin darauf nur andeutungsweise eingegangen; ich habe vor allem skizziert, welche Folgen die Eskalation des Ersten Weltkrieges hatte. In diesem (ohnehin schon wieder zu langen) Beitrag kann und will ich das nicht nachholen, sondern nur kurz ausführen: Die Wurzeln dessen, was man "Totalitarismus" nennt, sind tief eingegraben in die bürgerliche Gesellschaft, nicht nur hinsichtlich der Technik totalitärer Machtausübung, sondern auch (und vor allem) hinsichtlich der Ideologie.

      Schockiert?

      Man schaue sich nur mal heute das Menschenbild des Neoliberalismus an. Für mich ist es ein klarer Fall von ideologischer Verblendung, daß seine Vertreter nicht sehen, wie nah sie in in einem wesentlichem Aspekt dem Marxismus sind, nämlich in der Reduktion des homo sapiens auf den homo oeconomicus, der Unterordnung aller Lebensaspekte unter das Primat der Ökonomie. Oder: da beobachte ich mit Interesse und wachsender Sorge, wie parallel zur sich verstärkenden Krise der Gesundheitssysteme die "Euthanasie" wieder langsam hoffähig wird. In Holland ist man schon in einem ersten Stadium von Feldversuchen an (alten und behinderten) Menschen. Medizinische Befürwortung von "Euthanasie" war übrigens gerade in den angelsächsischen Ländern vor und nach dem Ersten Weltkrieg sehr verbreitet. Die nationalsozialistische Politik auf diesem Feld ist gar nicht zu verstehen ohne diesen Kontext.

      Somit erhebe ich meinerseits gegen den herrschenden neoliberalen Zeitgeist den Vorwurf der geistigen Nähe zu besonders problematischen und üblen Seiten des Marxismus und des Nationalsozialismus.

      Was sagt die "Totalitarismusforschung" dazu?

      mfg
      Leghorn
      Avatar
      schrieb am 26.06.03 18:43:13
      Beitrag Nr. 103 ()
      In der Eile ist mir ein sinnentstellender Fehler unterlaufen.

      Es muß natürlich heißen:

      »Und es ist eine kaum zu überschätzende welthistorische Leistung...«
      Avatar
      schrieb am 27.06.03 08:31:41
      Beitrag Nr. 104 ()
      leghorn, ich wüßte nicht großartig, wo ich dir widersprechen kann, fast alles würde ich genauso unterschreiben, besonders das mit der entmenschlichung der Opfer, in dem man nur noch von weitem die Tötungsmaschinerie bedient, aber auch welche Wurzeln die Gewalt hat.

      Keine will es gewesen sein, alle haben nur das beste zum System beigetragen...

      Die Gefahr besteht heute genauso wie schon immer, seit patriarchale Machtsysteme mit strengem Hierachieprinzip und unbewußten Machtmitteln wirken.

      Ich habe es in meinen Geld, Sex, Tod-Thread versucht zu erklären, die Gewalt kommt heute aus der bürgerlichen Mitte, aber sie kam schon immer auf, wenn auf einmal ein System anfing instabil zu werden. Man suchte sich schon immer Sündenböcke, und ein Krieg ließ nicht lange auf sich warten!
      Das geschieht seit mindestens 3000-3500 Jahre immer wieder, wir haben nichts, wirklich nichts aus der Geschichte gelernt! ( ich verweise nochmals auf den Hall-und Erlaßjahrthread, schon 1000 v.u.Z waren die Probleme bekannt, die zum Niedergang und Krieg führten, daher doch diese für uns weltfremden Forderungen wie Schuldenerlaß und Zinsverbot )
      Wenn jemand wie for4zim hergeht und meint, heute hätte man unfassende Regeln eigeführt, die eine Insolvenz wegen Überschuldung regeln, die Wirtschaft früher überhaupt nicht mit der heute vergleichbar wäre und er es normal findet, dass Bereinigungen Ineffezienz tilgen, so muß ich sagen:

      An den Mechanismen der Systeme hat sich rein gar nichts geändert, weil die Eigenschaften der wichtigsten Komponenten des Lebens konstant geblieben sind!

      Zwar mögen einige nachgelagerte Symptomverbesserungen eingeführt worden sein, aber eine Zinswirtschaft vernichtet sich immer noch regelmäßig selbst, weil Zinseszins Welt frißt! Schuld ist auch nach dreitausend Jahre Schuld. Und es macht keinen großen Unterschied, ob man Fronarbeit leisten muß im Sklavenreich, weil am Ende der Römischen Zinswirtschaft nur noch 2000 Freie existierten, die den Rest versklavt hatten ( siehe Heinsohn/Steiger, Geld, Zins, Eigentum )
      Und Geld ist auch nach dreitausend Jahren Schuld, vielleicht sogar noch viel mehr als früher, weil privates Eigentum sozusagen wie Sauerstoff für die Zinsflamme ist, weil nicht nur Realkapital Schuld haben kann, sondern die Schuld dazu führt, das ungeheure Mengen an Papiergeld ( auch wenn die Form Giralgeld ist! ) existieren, die eigentlich wertlos sind! Erkennen kann man es immer dann, wenn die Möglichkeit einer Gesellschaft, neue Schulden zu machen erschöpft sind. Entweder führt man frische Schuldner von außen zu ( alle Imperien ) oder man führt Vernichtungskriege des Realkapitals ( 1.- und 2. Weltkrieg, 30- jähriger Krieg, 100- jähriger Krieg.)

      So lange unsere Gesellschaft die wirtschaftlichen Hintergründe von Kriegen leugnet, so lange wird sie nie etwas ändern, und der nächste Krieg auch in Kerneuropa ist schon vorprogrammiert!


      Jede Gesellschaft ist bisher untergegangen, lest Karl Walker "Das Geld in der Geschichte", und ihr werdet verstehen!
      Avatar
      schrieb am 27.06.03 11:44:08
      Beitrag Nr. 105 ()
      @ Leghorn:
      Ich bin nun in der Tat überrascht, in wievielen Punkten ich Dir in Posting # 102 zustimmen kann.
      Andererseits habe ich den Eindruck gewonnen, daß Du selbst ein bißchen Orwell`sches "Doublethink" betreibst, um Deinen Standpunkt zu untermauern.

      So gestehst Du einerseits einen Aspekt der Totalitarismus-Theorien ein, daß die Ideologien von Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus ein Alternativmodell zur "bürgerlichen Gesellschaft" darstellten, dies auch wollten und in ihrem Kampf gegen diese "bürgerliche Gesellschaft" jedes bis dahin in der Welt gesehene Maß an Unterdrückung und Verbrechen in den Schatten stellten.

      Andererseits gibst Du der "bürgerlichen Gesellschaft" die Mitschuld am Ausmaß der Verbrechen dieser verunglückten Ideologien.

      Das erscheint mir nicht sehr logisch, denn da könnte man dann auch argumentieren, daß doch alle "parlamentarisch etablierten Parteien" der Weimarer Republik mit Ausnahme der Sozialdemokraten "mitschuld" sind an Auschwitz, denn sie alle mit dieser einen Ausnahme haben dem Ermächtigungsgesetz für Hitler zugestimmt.

      Du verstehst meine Frage an Deine Argumentation?

      Von Deiner Argumentation in Posting # 102 könnte man eine "Kollektivschuld" der "bürgerlichen Gesellschaft" für alle Verbrechen ihrer Gegner ableiten und das ist hochgradig unlogisch.

      Zu Deiner Frage nach dem Standpunkt der Totalitarismus-Theorien fällt mir gerade noch ein Text zu deren gesellschaftlichen Implikationen ein, der vielleicht hier hereinpaßt und den ich dann gleich hereinkopieren und danach zu kommentieren versuche.


      @ LostLilith (Posting # 104):
      Ich finde, Du begibst Dich mit Deiner Theorie über die "Zinseszinz-Apokalypse" auf einen Irrweg (falls ich Dich nicht völlig falsch verstanden habe).
      Witzigerweise gibt es nämlich gerade seit ca. 25 Jahren ein innerstaatliches Bankensystem, das aus religiösen Gründen ohne Zinseszins-Operationen auszukommen versucht und ich empfehle Dir, es näher zu untersuchen:
      Im Iran vergeben die Banken nämlich seit der "Islamischen Revolution" Kredite nicht gegen Zins-Gebühren, sondern gegen prozentuale Beteiligungen an den Firmen und Geschäftsleuten, die die Kredite erhalten. In der Tat funktioniert dieses Modell schon einige Zeit, doch dadurch wuchs der bürokratische Apparat der Beteiligungsüberwachung der Banken, wofür noch keine Lösung gefunden wurde.
      Der Iran wird aber auch nicht an diesem Problem zerbrechen, sondern an der mangelnden Beteiligung der verschiedenen Meinungen in der Bevölkerung in der Entscheidungsfindung der Regierung. Diese ist nämlich auf ein System aufgebaut, das in meinen Augen tatsächlich wieder "totalitäre" Züge trägt und diesmal religiöser Art: Daß Religion, Volk, Regierung und Führer eine Einheit bilden, wird ohne weiteres unterstellt; alle Faktoren, die dieser Einheit widerstreben, sind störend. Jeder Pluralismus und damit auch ein Mehrparteiensystem sind unerwünscht. Satellitenempfang ausländischer Radio- und Fernsehsender wird möglichst unterbunden oder gestört. Zeitungen werden natürlich zensiert und mit schöner Regelmäßigkeit geschlossen. Und so weiter und so fort...
      Avatar
      schrieb am 27.06.03 11:57:40
      Beitrag Nr. 106 ()
      Ein Irrweg, ja, aber keiner auf dem ich mich befinde, sondern die Welt seit geraumer Zeit...

      Wäre schön wenn du dir #1 und #2 und #24 in diesem Thread durchlesen könntest, und mir dann dazu deine Meinung dazu sagen könntest!

      http://www.wallstreet-online.de/ws/community/board/thread.ph…



      Von deinem Bankensystem habe ich noch nichts gehört, außerdem ändert das ja nichts an den bestehenden Systemen!
      Avatar
      schrieb am 27.06.03 12:22:01
      Beitrag Nr. 107 ()
      In den hervorgehobenen Teilen des folgenden Texts wird besonders zum Ende hin deutlich, daß auch die "Totalitarismus-Theorien" wie fast jeder theoretisch-politische Ansatz natürlich die Gefahr der Verklärung der eigenen Postion mit sich bringt.
      Andererseits sehe ich zur Zeit aber besonders die Gefahr einer Gegenbewegung wie im letzten hervorgehobenen Absatz vor dem Fazit. Es wird im Moment geradezu üblich, die USA mit ihren durchaus überzogenen Überwachungsmethoden und ihrer aggressiven Außenpolitik als "faschistische Bedrohung" zu betrachten. Ich bleibe dabei, daß dies eine gefährliche Umwertung der eigentlichen Bedrohungen für "westliche Demokratien" ist und eine Verharmlosung der echten "Faschismen" wie (früher?) in einigen Staaten Latein-Amerikas (Argentinien, Chile etc.), des Nahen Ostens (Türkei etc.) und "Totalitarismen" wie in Nord-Korea, Kuba oder auch noch China. In jenen Staaten war bzw. ist das Parlament völlig ausgeschaltet (gewesen), eine "öffentliche Meinung" existierte gar nicht, die Äußerung von Kritik wurde bestraft. Es gab in all meinen Beispielen "Konzentrationslager" für Andersdenkende bzw. diese "verschwanden" einfach. ("Desaparecidos" )
      Sicher, für genau dies wurde oft auch zu Recht die auf den Kommunismus als Bedrohung fixierte Außenpolitk der USA verantwortlich gemacht, doch die Unterdrückung in jenen Ländern ging meist von deren "faschistoid" ideologisierten Regierungen aus. In letzter Zeit sind übrigens in Südamerikas "ABC-Staaten" (Argentinien, Brasilien, Chile) einige Artikel und Bücher darüber erschienen, wieviele männliche deutsche Einzel-Flüchtlinge nach 1945 doch mühelos zu Ausbildern der dortigen Militärs und Polizei wurden und nahtlos von ehemaligen SS-Offizieren zu persönlichen Freunden von Peron, Pinochet und anderen kommenden Diktatoren wurden. In Chile wurde nach 1973 sogar die deutsche "Colonia Dignidad" ein sagenumwoben erfolgreiches Folterzentrum der chilenischen Militär-Junta. Für dies nun ausschließlich den "Faschismus" der USA verantwortlich zu machen, ist schlichtweg absurd angesichts der Verbrechen, gegen die sich ziemlich fanatische "Totalitarismus-Flüchtlinge" wie Henry Kissinger oder Zbigniew Brzezinski zur Wehr setzen zu müssen glaubten, die selbst noch erlebt hatten, wie ihre Bekannten in Konzentrationslager der Nazis oder Kommunisten verschleppt wurden und aus diesen nie wieder kamen.

      Aber nun zur differenzierten Analyse der Wissenschaftler dazu:

      Ideologische Implikationen der Totalitarismustheorie

      Ein weiterer hier noch zu beachtender Einwand gegen die wissenschaftliche Tauglichkeit des Begriffs »totalitärer Diktatur« bezieht sich auf mögliche ideologische Implikationen, also auf unbeabsichtigte, aber wirksame Rechtfertigungs-, Verhüllungs- oder Enthüllungsfunktionen des Begriffs »totalitär«, die sich in politischen Auseinandersetzungen auswirken könnten. Einwände dieser Art gehen fast durchweg davon aus, daß der Begriff »Totalitarismus« schon zu der Zeit, in der er sich - vor allem in der angelsächsischen Emigration nach 1933 - in der politischen Wissenschaft und Soziologie durchzusetzen begann, zwei sehr unterschiedliche Perspektiven verband:
      Zum einen ein kritisch-analytischer Zentralbegriff, ist der Totalitarismusbegriff zugleich ein wertender Gegenbegriff in der und für die politische Auseinandersetzung einer Demokratie liberaler Tradition mit ihren weltpolitischen Gegnern. Er ist ein Begriff, der sich in dieser Auseinandersetzung durch Präzisierung der gegeneinanderstehenden Positionen und durch Festigung des nicht-totalitären Potentials bewähren soll. Je mehr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der politische Ost-West-Gegensatz als fundamentaler Konflikt Konturen gewann und darin mehr und mehr die expansive kommunistische Herrschaftsordnung stalinscher Prägung dominant wurde, um so mehr wurde der Totalitarismusbegriff aus seiner Fixierung am nationalsozialistischen »totalen Staat« herausgelöst und verallgemeinert. In dieser Verallgemeinerung mußte er zunehmend auch die angedeutete Doppelfunktion offenbaren: Zentralbegriff einer wissenschaftlichen Analyse wie auch einer aktuellen politischen Auseinandersetzung weltpolitischer Dimension zu sein.
      Gerade diese Doppelfunktion nun ist es, die den Totalitarismusbegriff unabdingbar in den Zusammenhang ideologietheoretischer und ideologiekritischer Reflexionen rückte: Zum einen wurde in der Analyse totalitärer Diktaturen der Moderne die zentrale Stellung von mehr oder weniger systematisch begründeten Ideologien erkennbar, und es mußte eine der wichtigsten Aufgaben der Totalitarismusforschung sein, die Struktur solcher »totalitären Ideologien« zu erfassen und freizulegen. Zum anderen konnte der Totalitarismusbegriff als Zentralbegriff einer politischen Auseinandersetzung im Ost-West-Konflikt nicht unberührt bleiben vom jeweiligen Stand und den jeweiligen politischen Dimensionen dieses Konflikts. Je weniger diese Dimensionen des Ost-West-Konflikts sich den Tendenzen der Ideologisierung entziehen konnten, um so mehr geriet der Begriff selber in den ideologischen Streit. Er offenbarte im politischen Kräftespiel selber ideologische Implikationen.
      Der Totalitarismusbegriff wirkte in der Bundesrepublik in eine Gesellschaft und ihre politische Kultur hinein, die sich ihre Eigenstaatlichkeit, ihre Ordnungsstruktur als parlamentarisch-rechtsstaatliche Demokratie pluralistischer Prägung sowie ihre ökonomische Wiedergesundung erarbeitete und sicherte angesichts einer politischen Spaltung des Landes und der Etablierung einer als »totalitär« verstandenen Diktatur leninistisch-stalinistischer Prägung im anderen Teil Deutschlands. Weil diese Entwicklung im anderen Teil Deutschlands in der Bundesrepublik als permanente politische Bedrohung empfunden wurde und viele Jahre hindurch wohl auch empfunden werden mußte, entstand ein Klima der geistigen und politischen Auseinandersetzung, das sich mehr und mehr auf einen Anti-Kommunismus festgelegt sah. Der Totalitarismusbegriff wirkte in diese Entwicklung - sie ideologisch verstärkend hinein, ohne daß dies freilich der Totalitarismusforschung selber etwa als Verschulden angelastet werden könnte. Der Begriff als solcher gewann im politischen Spannungsgefüge sein eigenes Gewicht: Wo er vor allem aufklären wollte über den Mechanismus moderner Diktaturen unter Bedingungen von Massengesellschaften, da geriet er zunehmend in die Gefahr, in mancherlei Hinsicht zu einer neuen Form von Ideologisierung des politischen Denkens in einer Demokratie zu werden.
      Vergleicht man die im Begriff des Totalitarismus enthaltenen Ansprüche an ein radikal-kritisches politisches Bewußtsein mit der vielfach sichtbar gewordenen Realität politischen Denkens und Urteilens, dann scheinen Zweifel berechtigt, ob sich unter politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen, die durch das Totalwerden des Ost-West-Konflikts weitgehend bestimmt waren, der Totalitarismusbegriff für die Festigung der Demokratie in Deutschland immer bewährt hat. Bisweilen war der Eindruck kaum vermeidbar, daß die Unausweichlichkeit der Ost-West-Spannung die endgültige Bewältigung des Nationalsozialismus und der ihn verursachenden geschichtlichgesellschaftlichen Mächte geradezu verhinderte.
      Durch die Projektion der totalitären Gefährdung freiheitlicher Demokratie angesichts der sowjetischen Expansion nach dem Zweiten Weltkrieg ins Außenpolitische erschien der Totalitarismus vornehmlich als eine Gefährdung von außen. Der so auf den Bolschewismus beschränkte Totalitarismusbegriff wirkte nur allzuleicht rechtfertigend für eine bequeme sozialpsychische Verdrängung der eigenen Vergangenheit und als Kompensation der in ihr zu kurz gekommenen und gescheiterten politischen Ambitionen.
      Nicht nur erschien Hitlers Überfall auf die Sowjetunion aus der Sicht eines den Totalitarismusbegriff benutzenden politischen Bewußtseins als post festum legitimiert. Das Wissen um die Einheit der westlichen Welt als Reaktion auf die sowjetische Drohung provozierte zudem eine Wertung von 1945, von der aus die Zerstörung des bewährten Bollwerks gegen den Bolschewismus durch die Sieger als rückgängig zu machende Torheit erschien. Churchill wurde die Parole zugeschrieben: »Die westlichen Alliierten haben 1945 vielleicht das falsche Schwein geschlachtet.« Auf solche Weise wurde die Einsicht verdrängt, daß die Bedrohung des westlichen Europa in ihrer Unausweichlichkeit erst durch den Eroberungskrieg des Dritten Reiches heraufbeschworen wurde. Das durch 1945 erschütterte Geschichtsbewußtsein wurde auf solche Weise für viele in bedenklicher Form wiederhergestellt.

      Die Herstellung einer ungebrochenen Kontinuität zwischen nationalsozialistischer Ostpolitik und den Impulsen und Motiven der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus brachte im Grunde die junge Demokratie in Deutschland recht eigentlich um ihre eigenständige Legitimität. Das politische Denken, das mit einem vereinseitigten und - in bezug auf die eigene Gesellschaft und ihre Geschichte - entschärften Totalitarismusbegriff operierte, funktionierte so hintergründig als Element der Unterminierung des demokratischen Potentials, wenn nicht sogar selbst als prätotalitäre Potenz. An rechtsradikaler-Ideologie und Propaganda wurde eine solche Verwendungsweise des Totalitarismusbegriffs besonders offenbar. (Für die fünfziger Jahre aussagekräftiges Material in: Rechtsradikalismus im Nachkriegsdeutschland, Schriften des Instituts für politische Wissenschaft Berlin, Bd. 9, Berlin 1957.)
      Nach 1945 konnten in der Bundesrepublik zweifellos demokratische Wandlungen in Staat und Gesellschaft erreicht werden, die in den fünfziger Jahren zunehmend sichtbar wurden. Für deren Effektivität sprach nicht zuletzt auch die politische Erfolglosigkeit rechts- wie linksradikaler Bestrebungen. Die Demokratisierung war jedoch durch solche politische Bewußtseinsreaktionen, wie sie in einer undifferenzierten Verwendung des Totalitarismusbegriffs zum Ausdruck kamen, gleichsam der Gefahr innerer Aushöhlung ausgesetzt. Nicht nur, daß mit solchen Reaktionen der Staat in die Bedrängnis geriet, wieder autoritäre, obrigkeitsstaatliche Züge anzunehmen; die erwähnten Reaktionen offenbarten zugleich die - keineswegs immer bewußte - Bereitschaft, die eigene Gesellschaft zum Ausgleich der Schlagkraft des feindlichen totalitären Systems diesem anzugleichen. Das alles ist nur ein Indiz dafür, daß im Zuge der Zuspitzung des Ost-West-Konflikts in den fünfziger Jahren in der Bundesrepublik Deutschland eine Mentalität und ein Begriff von Politik sich durchzusetzen begannen, die als Kennzeichen totalitären Denkens ausgewiesen wurden und bisher in Demokratien nur extremistischen, anti-demokratischen Gruppierungen vorbehalten waren: Das Alternativdenken vermöge der Freund-Feind-Schematik.
      Dabei ist es in Bezug auf das Wirksamwerden und die Ausbreitung dieses tendenziell totalitären Urteilsschematismus nicht in erster Linie von Belang, ob und inwieweit er zur differenzierten Wahrnehmung des tatsächlichen politischen Gegners beiträgt oder inwieweit er sie umgekehrt geradezu verbaut. Belangvoll für die Formung des politischen Denkens in Demokratien freiheitlicher Tradition ist vor allem die mögliche innenpolitische Konsequenz - und sie ist unübersehbar. Wenn nämlich der reale Gegner, als Feind schlechthin bestimmt, zum negativen Gegenbild der eigenen Vollkommenheit verblaßt, dann funktioniert ein dahin zielender Denkschematismus als Instanz der Verklärung der eigenen Gesellschaft zum Guten und Vollkommenen. Die eigene Gesellschaft verliert aber dann nur allzuleicht jene Offenheit in sich und gegenüber ihren eigenen Ansprüchen und Möglichkeiten, die zum Wesen freiheitlicher Gesellschaft und politischer Ordnung gehört. So wenig eine die Unvollkommenheit der eigenen Gesellschaft aufdeckende Kritik die Tendenz des Gegners übersehen kann, solche freie und autonome Kritik für seine eigenen Ziele auszumünzen, so wenig kann und darf das um der Freiheit in der Gesellschaft willen dazu führen, Kritik überhaupt nur noch auf den alles überschattenden weltpolitischen Gegensatz zu relativieren und durch solche Ablenkung nach außen in ihrer Berechtigung gleichsam zu unterhöhlen, wenn nicht sogar zu tabuisieren.
      Es waren solche inneren Gefährdungen demokratischer Bewußtseins- und Verhaltensstrukturen in der sogenannten Phase des Kalten Krieges, die einem mit dem Totalitarismusbegriff operierenden Denken angelastet wurden. Je mehr in der Nach-Stalin-Ära - mit Chruschtschow beginnend - Anzeichen für ein Nachlassen der bis dahin dominierenden Ost-West-Spannung unübersehbar zu werden schienen, um so nachdrücklicher führte das zu der Frage, ob nicht die ganze Totalitarismuskonzeption überhaupt aufgegeben werden müsse, wenn eine zeitgemäße, realistische Politik der Entspannung möglich werden sollte. Als Konsequenz eines solchen, vermeintlich politisch notwendigen Abbaus der Totalitarismuskonzeption wurde dann innenpolitisch immer von Faschismus als nach wie vor bleibendem Gefährdungselement der Demokratie liberaler Tradition gesprochen - freilich jetzt in sprachlichen Formulierungen wie: postfaschistisch, quasifaschistisch, faschistoid.

      Solcher Begriffswechsel in der politisch-analytischen Sprache, so sehr manche sachlichen Gründe ihn nahelegen mögen, geschieht freilich selber im Rahmen von realen, gegenüber der Zeit der fünfziger Jahre veränderten gesellschaftlich-politischen Rahmenbedingungen. Er ist seinerseits immer auch politisch-historisch motiviert. Daher muß auch in Bezug auf solche gesellschaftlichen und politischen Veränderungen die Frage nach ihren möglichen ideologischen Implikationen gestellt werden. In einer für die Problematik der Totalitarismustheorie besonders aufschlußreichen Weise hat das in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts Karl Dietrich Bracher sehr eindrucksvoll getan.
      (Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, insbesondere S. 191ff..)
      Bracher geht davon aus, daß nach einem Jahrzehnt der Entideologisierung (gemeint sind die fünfziger Jahre) eine neue Welle der »Re-Ideologisierung« eingesetzt habe, deren Ende nicht (noch nicht?) absehbar sei. Ihr Grund liege in einer Verunsicherung des politischen Denkens, und dieses wiederum weise auf eine Identitätskrise hin, die um so folgenschwerer sei, als sie mit einem Generationswechsel zusammenfalle.
      Für die Bundesrepublik heißt das: In den sechziger Jahren gelangte eine Generation zur politischen Mitverantwortung, für die die Identifikation mit der - aus dem wirtschaftlichen Wiederaufbau nach 1945 hervorgegangenen - gesellschaftlichen und politischen Ordnung nicht mehr selbstverständlich war. Sie wurde im Gegenteil um so fragwürdiger, je mehr die politische und auch wirtschaftliche Ordnung als tendenziell konservativ erfahren wurden. Eben dieser Identitätsverlust führte zur Suche nach neuen ideologischen Orientierungen und Bindungen. Sie wurden primär im Rückgriff auf alte revolutionäre Theorien gefunden, die freilich weniger in einer originären kritischen Aufarbeitung angeeignet wurden, als vielmehr primär unter dem Aspekt ihrer Tauglichkeit für die Rechtfertigung eines sonst meist blinden oder blindbleibenden Aktionismus.
      Als Indiz für eine solche » Re-Ideologisierung« nennt Bracher unter anderem die hier bisher behandelte Diskussion um den Totalitarismusbegriff im Rahmen der mit ihm arbeitenden Totalitarismusforschung. Bracher gewinnt dieser Diskussion eine Perspektive ab, die von der bisher behandelten Polemik gegen die Totalitarismustheorie nicht bedacht wurde. Wo das Arbeiten mit dem Totalitarismusbegriff nur noch als Indiz für einen politisch überholten Antikommunismus diskreditiert und denunziert wird, da hat das selber die ideologische Funktion, der liberalen Demokratie und ihren Verteidigern den Blick für ihre Gefährdung durch totalitäre Systeme zu trüben, wenn nicht ganz zu verstellen. Nach Bracher ist dieser ideologische Effekt besonders in dem Versuch zu erkennen, den Totalitarismusbegriff im Rahmen einer die parlamentarisch-pluralistische Demokratie selbstkritisch angehenden Analyse auszuschalten und an seiner Stelle nur noch - oder doch fast ausschließlich - von faschistischen oder postfaschistischen beziehungsweise quasifaschistischen oder faschistoiden Selbstgefährdungen zu sprechen.

      Mit einem solchen Versuch der Ausschaltung des Totalitarismusbegriffs aus der Diskussion um die stets möglichen Gefährdungen einer Demokratie liberaler Tradition werde gleichsam der Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus tabuisiert mit dem Ziel, nur noch rechte Diktaturen, eben Faschismen, als Gefährdungsquellen von Demokratie auszuweisen. Dadurch aber, so Bracher, werde eine Kritik an der ebenso stets möglichen kommunistischen Gefährdung liberaler Demokratie ideologisch abgeblockt. Und dies muß letztlich auch die Konsequenz einer Qualitätsentleerung des Faschismusbegriffs haben. Wenn alle möglichen Gefährdungen von Demokratie immer schon Faschismus sind oder zumindest faschistoid, dann geht auch der Begriff des Faschismus seiner historisch-politischen Dimension verlustig und verkommt zum beliebigen Instrument ideologischer Denunziation. Er wird zur Leerformel: Je inhaltsleerer er wird, um so tauglicher wird er für ideologische Zwecke.


      Fazit
      Die Verwendung des Totalitarismusbegriffs kann sicher nicht mehr mit der Unbekümmertheit erfolgen, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die fünfziger Jahre hinein möglich war. Theorien über totalitäres politisches Denken und Handeln bedürfen konkreter Differenziertheit, sind aber dann nicht überflüssig. Im Gegenteil: Sie können gerade dann, wenn sie ihre eigenen ideologischen Selbstgefährdungen immer wieder bewußt machen, sich dadurch von ihnen lösen und sich als Medien einer Selbstaufklärung von demokratischen politisch-gesellschaftlichen Ordnungen in verpflichtender liberaler Tradition bewähren. Sie können diese selbstaufklärerische Funktion vor allem dann haben, wenn sie sich auf die Bewußtmachung von zwei Selbstgefährdungsfaktoren der Demokratie immer wieder konzentrieren:
      1. Wo demokratischer Konflikt sich nicht mehr an der Vision eines auf Zeit zu findenden Kompromisses orientiert und über dieses Orientierungsmuster Konsens herrscht, sondern wo er tendenziell zum Orientierungsmuster einer Freund-Feind-Alternative hindrängt, ist totalitäre Gefährdung freiheitlich-demokratischer Gesellschaft und politischer Ordnung unmittelbar gegeben.
      2. Das Volk wird gemäß jeder demokratischen Verfassung als Souverän der Herrschaft angesehen. Wo jedoch der dieses Volk politisch bestimmende Wille nicht mehr als in der Pluralität der Interessen und Gruppen begründet anerkannt wird, sondern als jenseits dieser Pluralität angesiedelte politisch-geistige Instanz und Einheit eigener Art ausgegeben wird, ist der Weg zur Errichtung von totalitären Ordnungen beschritten. In ihnen erheben Minderheiten den Anspruch, Verkörperungen der Wahrheit des Ganzen zu sein und diese in elitärer Herrschaft real zu vollziehen.
      Für beide totalitären Gefährdungen ist die utopisch-ideologische Vision, die sie ihrerseits legitimiert, im einzelnen unterschiedlich, und diese Unterschiedlichkeit darf nicht unterschlagen werden. Für den real-gesellschaftlichen und real-politischen Effekt einer Entmündigung des Volkes und seiner Pluralität in seinem eigenen Namen ist diese Verschiedenheit, zumindest relativ, gleichgültig. Dies bewußt zu halten, kann gerade auch die Theorie des »Totalitären« helfen.
      Literaturhinweise
      Es werden nachfolgend nur besonders wichtige beziehungsweise einflußreiche Schriften zur Totalitarismus-Forschung aufgeführt, soweit sie nicht in den Anmerkungen genannt sind.

      ARENDT, HANNAH, The Origin of Totalitarianism, New York 1951; dt. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/M. 1955.
      DIES., Elemente totaler Herrschaft, Frankfurt/M. 1961.
      DIES., Die ungarische Revolution und der totalitäre Imperialismus, München 1958. ARON, RAYMOND, Die industrielle Gesellschaft, Frankfurt/M. 1954.
      BORKENAU, FRANZ, The Totalitarian Enemy, London 1940.
      BRACHER, KARL DIETRICH, Totalitarismus, Artikel in: Staat und Politik (Fischer Lexikon Bd. 2), Frankfurt/M. 1957.
      BUCHHEIM, HANS, Struktur der totalitären Herrschaft und Ansätze totalitären Denkens, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 8 (1960).
      DERS., Totalitäre Herrschaft. Wesen und Merkmale. München 19622.
      DRATH, MARTIN, Totalitarismus in der Volksdemokratie, Einleitung zu: ERNST RICHERT, Macht ohne Mandat, Köln - Opladen 1958.
      FRAENKEL, ERNST, The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship, New York 1941; dt. Frankfurt/M. -Köln 1974.
      FRIEDRICH, CARL J., Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957.
      GREIFFENHAGEN, MARTIN, Totalitarismus von rechts und links. Ein Vergleich von Nationalsozialismus und Kommunismus, in: Gesellschaft - Staat - Erziehung, 12 (1957).
      HEIMANN, EUDARD, Communism, Facism and Democracy, New York 1938.
      JÄNICKE, MARTIN, Untersuchungen zum Begriff totalitärer Herrschaft, Dissertation, Berlin 1969.
      KIELMANSEGG, PETER GRAF, Krise der Totalitarismustheorie?, in: Zeitschrift für Politik, 21 (1974).
      LANGE, MAx GusTAv, Totalitäre Erziehung, Frankfurt/M. 1954 (Schriften des Instituts für politische Wissenschaft, Bd. 3).
      LESER, HANS-JOACHIM, Aspekte des totalitären Denkens, Berlin 1962.
      DERS., Ideologie - Eine historisch-systematische Einführung, Paderborn 1985.
      Löw, KONRAD (Hrsg.), Totalitarismus, Berlin 1988.
      LÖWENTHAL, RICHARD, The Model of Totalitarian State, in: The Impact of the Russian Revolution 1917-1967, London - New York - Toronto 1967.
      LUDZ, PETER CH., Entwurf einer soziologischen Theorie totalitär verfaßter Gesellschaften, in: Studien und Materialien zur Soziologie der DDR, Köln - Opladen 1964.
      MITCHELL, C. C., Two Totalitarians. The System of Hitler and Stalin Compared, Dubuque-Iowa 1965.
      NEUMANN, FRANZ, Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism 1933-1944, New York-Toronto (zuerst 1942) 1963 (Wiederauflage der z. Auflage von 1944); dt. Frankfurt/M. 1977.
      DERS., Demokratischer und autoritärer Staat. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 1967.
      NEUMANN, SIGMUND, Permanent Revolution. Totalitarianism in the Age of International Civil War, London 19562.
      SEIDEL, BRUNO/JENKNER, SIEGFRIED (Hrsg.), Wege der Totalitarismus-Forschung, Darmstadt 1968.
      SCHLANGEN, WALTER, Theorie und Ideologie des Totalitarismus, Bonn 1972.
      SCHULZ, GERHARD, Der Begriff des Totalitarismus und des Nationalsozialismus, in: Soziale Welt, 12 (1961).
      STAMMER, OTTO, Aspekte der Totalitarismusforschung, in: Politische Soziologie und Demokratieforschung, Berlin 1965.
      Symposium an the Totalitarian State. Proceedings of the American Philosophical Society, 82 (1940), Philadelphia 1940.
      TALMON, JACOB L., Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln - Opladen 1961.
      ZIEGLER, HEINZ OTTO, Autoritärer oder totaler Staat, Tübingen 1932.
      Avatar
      schrieb am 27.06.03 12:28:40
      Beitrag Nr. 108 ()
      Es wirkt absurd, wenn über die USA als faschistischer Staat schwadroniert wird, weil im Zuge der Terrorabwehr die Informationsmöglichkeiten der Sicherheitsorgane erweitert werden, wenn zugleich sich anscheinend kaum jemand darüber aufregt, daß in Rußland die Massenmedien gleichgeschaltet wurden (vor wenigen Tagen wurde der letzte regierungskritische landesweit ausstrahlende TV-Sender geschlossen), eine Jugendorganisation von Putin-Getreuen aufgebaut wird, der Staat in Tschetschenien ungeniert einen Krieg mit Terrormethoden betreibt und Oppositionspolitiker fast wöchentlich Mordanschlägen zum Opfer fallen. Was jenseits des Atlantiks in orwellsche Dimensionen aufgebauscht wird, wird im Fall Rußlands als vereinzelte Auswüchse einer jungen Demokratie in der Fußnote abgehandelt.
      Avatar
      schrieb am 27.06.03 13:09:15
      Beitrag Nr. 109 ()
      Die Frage die man sich stellen muß ist doch folgende:

      Welche Gefahr ist größer:

      Eine Gesellschaft, die von oben gesteuert nur das eine richtige glauben darf und Andersdenkene eliminiert...


      Oder eine Gesellschaft, die auf Grund eines freiwilligen, durch Medien suggestierten Konformitätsprinzip folgenden Druckes nur das eine richtige glaubt?


      ( Wer Kritik äußert, ist Anti-amerikanisch, er ist ein Anti-Patriot. Wer will das schon sein? Was bitte ist der Unterschied zwischen der Stasi, die Unbequeme Meinungen ausschaltete oder den Morddrohungen an Cynthia McCarthy, weil sie als einziges gegen einige Gesetze im Kongress stimmte?)

      Vor diesem Hintergrund bitte ich besonders um Beachtung des Postings in antigones Thread!

      DIE NACHRICHTENGESELLSCHAFT


      Der Medienwissenschafter Joshua Meyrowitz über das von den US-Medien erzeugte Selbstbild Amerikas und die subversive Potenz unkontrollierbarer Nachrichten

      Joshua Meyrowitz ...
      ... zählt zu den renommiertesten Kommunikationswissenschaftlern Nordamerikas. In seinem Buch Die Fernsehgesellschaft
      beschreibt er, wie einstige Informationsbarrieren zwischen sozialen Gruppen durch das Fernsehen niedergerissen wurden. Kindheit und Erwachsensein vermischten sich seitdem, so Meyrowitz´ zentrale These, ebenso wie Privates und Öffentliches bei jedem Einzelnen. Den immer resoluteren Eingriff von Massenmedien in Politik, Gesellschaft und Moral begründet er mit ihrer Funktion - systemkonformen Wirklichkeitsersatz anzubieten.

      FREITAG: Das politische System der USA verlagert sich weiter nach rechts, zugleich verabschiedet sich der überwiegende Teil der Bevölkerung von der Politik, da immer weniger über die wirklichen Absichten der Politiker zu erfahren ist. Wie haben die elektronischen Massenmedien zu dieser konservativen Revolution beigetragen ?

      JOSHUA MEYROWITZ: Ich glaube, wir erleben bei uns eine Kontroverse, bei der zwei Mythen aufeinanderprallen: hier das "gute Amerika" im Stil der Cowboy- und Westernfilme, in denen ein Mann in die Wildnis zieht und dort Gutes tut - und dort eine entgegengesetzte Strömung, die eher mit John Lennon und dem Geist der sechziger Jahre zu tun hat. Auch bei Letzterem spielt die Zentrierung der Kultur auf das bewegte Bild - vor allem das Fernsehen - eine wichtige Rolle. Eben jenes Fernsehen - das durch eine radikale Kommerzialisierung inhaltlich nichts transportieren darf, was den Warenkonsum irgendwie behindert - ruft bezogen auf den individuellen Lebensstil durchaus eine emanzipatorische Wirkung hervor. Das erklärt den eklatanten Widerspruch zwischen den sehr viel weniger konservativen privaten Auffassungen einer Mehrheit der Amerikaner und den politisch rechten Ansichten ihrer Politiker.
      Aber selbst eher nach links tendierende Bürger verfügen einfach nicht über genügend Informationen, um das John-Wayne-Amerika in Frage zu stellen. Ein liberaler Lebensstil verträgt sich offenbar sehr gut mit der Tabuisierung politischer Fragen. Ob wir nicht vielleicht die Monster erst geschaffen haben, gegen die wir jetzt in die Schlacht ziehen? Die Mehrzahl der Amerikaner wird nicht ermutigt, darüber nachzudenken. Und die Medien haben dabei eine Schlüsselfunktion - sie fördern einerseits private Liberalität und verhindern andererseits jede kritische politische Reflexion.

      Amerikas Journalismus gilt vielen europäischen Berufskollegen als Vorbild. Bei Ihnen erscheinen die USA dagegen eher als Medienwüste, in der wirkliche politische Debatten blockiert werden.


      Ja, weil Mythos und Realität unseres Journalismus in einem offenen Widerspruch stehen. Der informierte Bürger als tragende Säule der Demokratie ist seit der Niederschrift unserer Verfassung Grundlage der amerikanischen Republik. Alle Schulen lehren das. Was sie nicht lehren: dass unsere Medien alles andere als demokratisch organisiert sind. Es gibt überall steile Hierarchien, die wie Zensurinstanzen funktionieren. Da bedarf es gar keiner expliziten Absprache darüber, was berichtet wird und was nicht.
      Es ist klar, dass in einem Umfeld, das durch zahllose Werbe-Doppelseiten etwa der Automobilindustrie geprägt ist, kritische Berichte über Autos keinen Platz haben. Das heißt natürlich nicht, dass ein negatives Testergebnis eines bestimmten Modells nicht erscheinen kann. Es ist aber unmöglich, Zweifel am Auto als Transportmittel überhaupt zu formulieren. Man kann nicht fragen, warum unser öffentliches Nahverkehrssystem so schlecht ist. Man darf die Verflechtung von Automobil- und Ölindustrie nicht thematisieren. Völlig unmöglich wäre es, darüber zu schreiben, dass der Durchschnittsverbrauch amerikanischer Autos seit den Achtzigern um acht Prozent gestiegen ist, so dass wir wegen des Öls in Saudi-Arabien seit Jahrzehnten eine anachronistische Monarchie unterstützen, die weder Religions- noch Pressefreiheit kennt. Mit einem solchen Bericht hätte man als Journalist genau die Grenze überschritten, die festlegt, was als "objektiver Journalismus" gilt.

      Dennoch hält sich der Mythos vom "objektiven Journalismus".


      Deshalb muss man ihn ja nachdrücklich in Frage stellen. Eine weitere wesentliche Eigenart des amerikanischen Journalismus ist doch auch, dass sich Recherche im Normalfall auf die offiziellen Aussagen der Amtsträger beschränkt. Wenn man die Berichterstattung über die Aktivitäten der Vereinigten Staaten in den achtziger Jahren in Latein- und Mittelamerika untersucht, stellt man fest, wie verriegelt die amerikanischen Medien gegenüber oppositionellen Bewegungen im eigenen Land waren. Es gab Millionen von Menschen, die an den Universitäten, in Schulen, auf Straßen gegen die US-Politik in der Region protestierten. In den Medien - besonders im Fernsehen - herrschte die stillschweigende Übereinkunft, an der Regierungsversion der Geschehnisse auf dem Subkontinent festzuhalten.

      Es klingt wie eine Ironie der Geschichte, aber die Einseitigkeit der Medien ist in diesem Land viel größer als in einem totalitären System. In einer Diktatur suchen die Menschen nach alternativen Informationsquellen, sie sprechen mit Ausländern oder lesen Untergrundzeitungen. Hier, wo die Pressefreiheit eine Selbstverständlichkeit ist, können die Menschen gar nicht verstehen, warum es so wichtig ist, sich auch aus anderen Quellen als den tonangebenden Massenmedien zu informieren. Sie wollen solchen Quellen einfach nicht glauben, gerade weil
      ihnen der freie Zugang garantiert ist.!!!!!!!!!!!!!!!!

      Lassen Sie uns über Machtstrukturen sprechen, die das amerikanische Fernsehen prägen. Der Kanal NBC zum Beispiel gehört zu General Electric, einem der größten Rüstungskonzerne. In welchem Ausmaß kontrolliert das Big Business wirklich den US-Fernsehmarkt?


      Wenn man die befragt, die in diesen Medien arbeiten, so schwören sie jeden Eid: es gibt keinerlei direkte Einmischung der Konzerne. Andrew Hayward beispielsweise, der die CBS-Nachrichtenredaktion leitet, besteht darauf, dass er noch nie vom Viacom-Konzern, zu dem CBS gehört, irgendwelche Weisungen erhalten habe. Vor kurzem wurde er gefragt, warum die Berichterstattung über den sogenannten "Anti-Terror-Krieg" so einseitig verlaufe. Seine Antwort war ein Ausbruch der Empörung. Ob man mit dieser Frage seinen Patriotismus bezweifeln wolle? Schließlich sei er zuallererst Amerikaner! Wenn Personen wie Hayward für die News verantwortlich sind, bedarf es keiner expliziten Direktive der Mutterkonzerne. Dabei ist er sicher ein sehr fähiger Journalist, aber völlig befangen im gängigen politischen Diskurs und unfähig, Fragen zu stellen, die darüber hinausgehen. Solange aber führende Journalisten keine wirklich bohrenden Fragen stellen, solange die Rolle der USA als unschuldiges Opfer keinerlei Zweifel unterliegt, braucht man keinen Zensor mit der Schere. Nicht, dass solche Fragen die Terroranschläge irgendwie entschuldigen könnten, aber sie würden gewiss helfen, Hintergründe und Zusammenhänge aufzuklären.
      Osama bin Laden ist nicht müde geworden, drei Gründe anzuführen, warum er den 11. September für gerechtfertigt hält: wegen der Unterstützung für die morbide Diktatur in Saudi-Arabien und die US-Militärpräsenz dort; wegen der Aufrüstung Israels durch die USA, ohne dass der Einsatz der gelieferten Waffen irgendwie eingeschränkt würde; wegen des Todes von anderthalb Millionen Irakern, die Opfer der UN-Sanktionen oder amerikanischer Luftangriffe oder einer Zerstörung der Wasserversorgung wurden. Die meisten Amerikaner wissen von all diesen Dingen nichts. Kein Wunder, wenn sie unerschütterlich davon überzeugt sind - wir sind die "good guys" auf diesem Globus.

      Ist das eine Entwicklung des US-Journalismus, die sich erst in den vergangenen Jahren ergeben hat. Wenn ich daran denke, dass die Journalisten, die seinerzeit "Watergate" aufgedeckt haben, heute für die "Washington Post" Artikel über Betrügereien von Sozialhilfeempfängern schreiben, scheint das eine dramatische - fast historische - Veränderung des Journalismus in Amerika.


      Wahrscheinlich überrascht Sie jetzt meine Antwort, aber ich glaube, die Dinge sind heute eher besser als früher. Watergate war so etwas wie eine Entgleisung. Watergate war für die "Post" zunächst eine Einbruchsgeschichte für den Lokalteil. Das Blatt schickte zwei völlig unerfahrene Polizeireporter hin, und die machten - gemessen an unseren journalistischen Standards - einen großen Fehler. Sie holten sich keine offiziellen Verlautbarungen, sondern gingen in die Asservatenkammer der Polizei, fragten dort, was man in den Taschen der Einbrecher im Watergate-Hotel gefunden hatte, und stießen auf die Notizbücher mit den Telefonnummern, die sie zum "Komitee für die Wiederwahl des Präsidenten" führten. Die politischen Redakteure der "Post" glaubten zunächst gar nicht an die Ergebnisse der Recherche von Bob Woodward und Carl Bernstein und brachten in schöner Regelmäßigkeit die Dementis des Weißen Hauses. Die anderen Medien brauchten noch länger, bis sie die Story endlich anpackten. Die amerikanischen Journalisten können auf Watergate stolz sein, weil zwei kleine Polizeireporter die Sache aufdeckten, aber sie müssen sich zugleich schämen, weil die Medien insgesamt jämmerlich versagt haben.
      Man kann also nicht von einem negativen Trend sprechen, der sich erst in den vergangenen Jahren eingestellt hat. Was sich tatsächlich verschlechtert hat, ist die Reaktion der offiziellen Stellen auf journalistische Recherchen, wenn sie denn stattfinden. Ein wichtiger Unterschied zur Berichterstattung aus der Zeit des Vietnam-Krieges ist, dass heute kein Journalist mehr mit Soldaten vor Ort sprechen kann. In Südvietnam wurden Kommandeure oft direkt an der Front befragt. Im Golfkrieg war das schon ganz anders. Das Fernsehmagazin "Nightline" hat in einer Dokumentation gezeigt, wie Journalisten jeder Kontakt mit kämpfenden Einheiten untersagt war, wie bei Pressekonferenzen zuvor alle zulässigen Fragen festgelegt wurden. Im kollektiven Gedächtnis der Amerikaner bleibt die Schlacht am Golf deshalb als Präzisionskrieg ohne zivile Opfer haften. Der eher als liberal geltende Walter Isaacson, der für Time-Magazin schrieb und dann zu CNN ging, verschickte während des Afghanistan-Krieges vor einem Jahr ein Memorandum an die Reporter, das Berichte über Opfer unter der afghanischen Zivilbevölkerung untersagte. Es sei "obszön", so Isaacson, afghanische Opfer zu zeigen - schließlich wären da ja all die Toten des Anschlags von New York.

      Und das wird allseits hingenommen?


      Es gibt auch eine Gegenbewegung: Während in den Medien die Berichterstattung immer weiter verengt wird, gibt es in den USA einen zusehends breiteren Zugang zu unzensierten, unkontrollierbaren Informationen durch das Internet. Vielleicht bin ich zu optimistisch, aber die Spannung zwischen dem durch die Medien erzeugtem Selbstbild Amerikas und der Flut von Nachrichten und Bildern, die durch dieses interaktive Medium ins Land strömen, muss irgendwann zum Bruch führen. Ich glaube dieses System muss zusammenbrechen, weil das Wissen darüber wächst, wie viele Informationen unterdrückt werden.

      Sie haben das Verschmelzen von vorher deutlich unterschiedenen sozialen Handlungsräumen als eine der wichtigsten Wirkungen des Fernsehens bezeichnet. Für Politiker führt diese permanente "Nahaufnahme" zu einer spürbaren Veränderung: Es geht nicht mehr um Inhalte, sondern um die Fähigkeit, Emotionen beim Publikum zu wecken. Folgt daraus, dass die Wirkung des Mediums Fernsehen mit seiner Obsession der Unmittelbarkeit politische Debatten eigentlich unmöglich macht?


      Die Nahaufnahme des Fernsehens rückt Politiker tatsächlich so dicht vor die Augen der Zuschauer, dass sie in ganz anderer Weise beobachtet werden können. Durch das Fernsehen werden Politiker in gewisser Weise "menschlicher". Das bedeutet, dass ganz andere Fähigkeiten von ihnen erwartet werden. Al Gore hatte zum Beispiel im Präsidentenwahlkampf das große Handikap, dass er zu viel wusste. Er wirkte wie ein Streber, mit dem man nicht gern ein Bier trinken geht. Während George Bush mit seiner Naivität und eklatanten Unwissenheit als der nette Junge von nebenan erschien. Über das Fernsehen kommt diese Haltung des scheinbar völlig informellen Gesprächs eben an, komplexere Inhalte lassen sich viel schwerer transportieren.
      Ich denke, das Fernsehen hat dadurch auch eine entmystifizierende Wirkung.

      Besonders in Amerika, wo es diese fast faschistoide Ausrichtung auf eine Führungspersönlichkeit gibt, wo Teamwork nichts zählt, sondern alles vom Mann an der Spitze verkörpert wird, macht das Fernsehen auch Defizite der Politiker sichtbar. Sicher langsam, unterstützt durch das Internet, wird den Menschen klarer, was ihnen ihre Politiker verschweigen. Und ich denke, schon in der nächsten Generation werden wir revolutionäre Zäsuren beobachten.

      Das Gespräch führte Stefan Fuchs


      Freiwillige Selbstzensur in einem Klima der Angst, damit man nicht NonKonformist wird oder noch schlimmer seine Lebensgrundlage in Form von Arbeit verliert?
      Gepaart mit einem Führerprinzip, eingeteilt in eine dualistische Welt, wir gut, die böse?

      Wer würde überhaupt bemerken, das da was faul ist???
      Avatar
      schrieb am 27.06.03 13:16:19
      Beitrag Nr. 110 ()
      Was bitte ist der Unterschied zwischen der Stasi, die Unbequeme Meinungen ausschaltete oder den Morddrohungen an Cynthia McCarthy, weil sie als einziges gegen einige Gesetze im Kongress stimmte?)

      Der Unterschied ist, daß bei der Stasi der Staat selbst die unbequemen Meinungen ausgeschaltet hat und die Stasi alle nur erdenklichen Machtmittel einsetzen konnte, um die "Unbequemen" zu drangsalieren und diese dies auch wissen sollten.
      Du kannst im Fall von Cynthia McCarthy ebensowenig wie bei den von religiösen Fanatikern ermordeten Abtreibungsärzten in den US-Südstaaten sagen, daß dies im Auftrag der Staatsführung geschah, bei der Stasi konntest Du Dir absolut sicher sein!
      Avatar
      schrieb am 27.06.03 13:20:45
      Beitrag Nr. 111 ()
      Das werde ich nicht sagen und es war ja auch nicht so.


      Trotzdem ist das Ergebnis das gleiche. Leute trauen sich nicht mehr ihre Meinung zu sagen weil sie Konsequenzen fürchten müssen.

      Ich kann nur jeden dazu aufrufen, sich nicht einschüchtern zu lassen von diesen Repressalien.


      Ein mündiger Bürger darf immer seine Meinung sagen, so abseits sie von Mainstream auch sein mag, so lange sie die Demokratie nicht gefährdet. Und die wird eher durch die o.g. Prozeße gefährdet, als durch die Meinungen von Millionen Einzelner!
      Avatar
      schrieb am 27.06.03 13:22:35
      Beitrag Nr. 112 ()
      Welche Gefahr ist größer:
      Eine Gesellschaft, die von oben gesteuert nur das eine richtige glauben darf und Andersdenkene eliminiert...

      Oder eine Gesellschaft, die auf Grund eines freiwilligen, durch Medien suggestierten Konformitätsprinzip folgenden Druckes nur das eine richtige glaubt?


      Ganz klar ist die Gefahr größer, die von der erstgenannten Gesellschaft ausgeht, denn deren Führung fühlt sich nie sicher vor Andersdenkenden und nachdem sie erst einmal im Inneren alles konformgeschaltet hat, muß sie sich Feinde nach außen suchen, um für ihre zweifelhaften Maßnahmen eine äußere Rechtfertigung in Form von Sündenböcken zu finden. Die erstgenannte Gesellschaft wird immer kriegsbereit sein, die zweite wird bei zunehmenden Fehlschlägen mit größter Wahrscheinlichkeit die Möglichkeit haben, durch zunehmenden Zweifel an ihrer Führung Kritik zu üben.
      Avatar
      schrieb am 27.06.03 17:19:04
      Beitrag Nr. 113 ()
      @ for4zim (#108)

      »Was jenseits des Atlantiks in orwellsche Dimensionen aufgebauscht wird, wird im Fall Rußlands als vereinzelte Auswüchse einer jungen Demokratie in der Fußnote abgehandelt.«

      Die machtlosen Kritiker der Bush-Administration werden wenig in Rußland ausrichten können; sie scheitern ja schon daran, in Washington Gehör zu finden.

      Und in Moskau hat es nun wirklich Tradition, daß man nur auf den hört, der über Macht verfügt.

      Deshalb ist die viel interessantere Frage:

      Was tut eigentlich die amerikanische Regierung gegen die bedenklichen Entwicklungen in Rußland?





      @ Auryn (#105)

      Es ist schade, daß Du behauptest, ich betriebe Orwell`sches "Doublethink".

      Damit ist dem Gespräch die Grundlage entzogen, denn die Behauptung beinhaltet den Vorwurf, daß ich unseriös argumentiere.

      Du hast Dich am Begriff "bürgerliche Gesellschaft" gestört und ihn voreilig als marxistisch-leninistisch gedeutet, da Du ihn offenbar nur in diesem Zusammenhang kanntest. Das tut mir leid. Aber Du hast kein Recht, Dein Mißverstehen mir als "doublethink" vorzuhalten.

      Du kommst, wie Du an einer Stelle schreibst, aus Rumänien. Ich erinnere mich gut, wie Ceausescu während der 70er und noch während der 80er Jahre in westlichen Hauptstädten hofiert wurde. Hat der Westen keine Verantwortung dafür, daß er den "großen Conducator" so bevorzugt behandelte? - Was den Diktator in seinem Wahn doch nur noch bestärkte. Wirklich keine Verantwortung des Westens wenigstens dafür?

      Ich erwarte keine Beantwortung dieser Fragen. Sie sollen Dich, trotz allem, noch einmal zum Nachdenken anregen.

      mfg
      Leghorn
      Avatar
      schrieb am 27.06.03 19:45:59
      Beitrag Nr. 114 ()
      112: Ich akzeptiere deine Meinung dazu, teile sie aber nicht. Unabhängig davon gefällt mir die aktuelle Entwicklung nicht!
      Avatar
      schrieb am 28.06.03 00:12:08
      Beitrag Nr. 115 ()
      es ist schon ein kreuz mit den rumäniendeutschen und anderen berufsvertriebenen.

      ich kenne sie aus meiner eigenen familie.

      ... ja, dabei war der bub immer so talentiert....
      ein so kluger kopf...
      aber der kommunismus hat verhindert, dass was aus ihm geworden ist.... :laugh:

      das schrecklichste schicksal aber, das dem `volksdeutschen` menschen beschieden sein kann,
      ist es schliesslich unter die `reichsdeutschen` zu fallen und die missachtung zu erfahren, dass die jammertiraden über das durch den kommunismus verfehlte leben nicht loszuwerden sind und keiner mehr zuhören mag... seine und seiner familie vertane chancen - wie schrecklich, aber eben eine story unter anderen.....

      das wird dann gern zum krampf.

      amerika ist gross und weit und der `volksdeutsche` wie der osteuropäer vermutet dort sein glück. deshalb ist alle kritik an amerika sakrosankt und despektierlich. also neudeutsch antiamerikanisch. und alle anmutung an gedankengut, das irgendeine kritik am american way of life mit sich bringt, kann nur schlecht sein, ein sakrileg. wie immer die denker heissen, wenn nur der geruch des `linksdenkers` an ihm haftet, dann regt sich der natürliche widerstand des berufsgeknechteten. denken in kategorien, die über die eigene notlage hinausweisen, sind allemal verdächtig.

      grad so, wie der westerner sich auf den weg machte, um das `leere` indianerland zu seinem eigenen zu machen, sieht der naturalisierte `volksdeutsche` seine kritischen `reichsdeutschen` landsleute als hindernis, sich seinen so lang geträumten traum zu erfüllen. niemals sich selbst. er bekämpft schliesslich jeden gedanken, der hinweis auf besserung ermöglicht. masochismus ist gelernte unterwürfigkeit. das wissen zu können - wenigstens das - unterscheidet das alte vom neuen europa :laugh:
      Avatar
      schrieb am 28.06.03 01:50:02
      Beitrag Nr. 116 ()
      Auch auf die Gefahr hin, daß ich zum Tagesausklang nun zwischen alle
      Fronten gerate:

      @ antigone

      Mir gefallen viele Deiner Postings, und ich stimme mit Dir oft überein.

      Aber Deine generalisierende Beurteilung der "Volksdeutschen" und
      namentlich der Rumäniendeutschen halte ich, mit Verlaub, für ein
      Vorurteil.

      Meine Frau ist Rumäniendeutsche.

      Nichts von dem, was Du schreibst, trifft auf sie zu.

      Ich glaube sogar, soweit ich Dich durch Deine Postings beurteilen kann,
      Ihr würdet Euch ganz gut verstehen.

      Darüber hinaus trifft Deine Charakterisierung auf sehr viele andere
      Rumäniendeutsche, die ich persönlich kennengelernt habe, nicht zu.

      Das Schicksal der Rumäniendeutschen war nicht einfach. Die
      jahrelange Verschleppung nach 1945 eines Großteils der arbeitsfähigen
      erwachsenen Bevölkerung, Männer und Frauen, (unter Zurücklassung
      der Kinder!), in die Sowjetunion, war ein Preis, der allein schon viel
      höher ist als das, was die "reichsdeutsche" Bevölkerung im Durchschnitt
      zahlen hatte dafür, daß die Nazis in Deutschland an die Macht gekommen
      waren.

      Der Anteil von Nazis war unter den Rumäniendeutschen nicht
      geringer als in Deutschland. Nur: Sosehr sie gewollt hätten, sie konnten
      die Nazis in Deutschland 1933 nicht wählen, da sie keine deutschen
      Staatsbürger waren. Das muß in eine gerechte historische Bewertung
      eingehen, wenn man es vergleicht mit dem Preis, den sie anschließend
      zu zahlen hatten.

      Daß es auch unter Rumäniendeutschen, genauso wie unter
      "Reichsdeutschen" Unbelehrbare gab und gibt, das weiß ich sehr
      wohl. Die habe ich auch kennengelernt. Aber bitte keine solchen
      Verallgemeinerungen. Das bringt nichts.

      Ich freue mich auf künftige Postings von Dir, denen ich wieder beipflichten
      kann.

      mfg
      Leghorn

      PS:
      Noch ein kleiner historischer Exkurs:
      Genau die Artikulation solcher Vorurteile haben Oskar Lafontaine sehr viele
      Stimmen unter Rumäniendeutschen (und generell unter Auslandsdeutschen)
      gekostet, die eigentlich treue SPD-Wähler waren. Manche haben ihm diese
      Schmähung bis heute nicht vergessen, obwohl sie sonst politisch seiner
      Meinung sind.
      Avatar
      schrieb am 28.06.03 03:01:04
      Beitrag Nr. 117 ()
      Zusatz:

      @ antigone

      Mein historischer Exkurs war etwas zu weitschweifig, ging aber doch nicht konkret auf Deinen Vorwurf eines generell zu positiven Amerikabildes unter Rumäniendeutschen ein.

      Auch das entspricht nicht meiner Erfahrung.

      Ich sehe in etwa dasselbe Meinungsspektrum wie sonst in der deutschen Bevölkerung.

      Und wenn die Leute über den Kommunismus lamentieren, dann ist das ihr Recht, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger. Toll war dieses Regime wirklich nicht; es hat viele Menschen kaputtgemacht. Ich weiß, daß oft die, die am lautesten klagen, weniger Grund haben als die, die schweigen. Das nervt, vor allem, wenn es in der Familie passiert. Ich kenne das. Aber so sind wir Menschen nun mal.

      mfg
      Leghorn
      Avatar
      schrieb am 28.06.03 18:31:57
      Beitrag Nr. 118 ()
      leghorn
      wieso solltest du zwischen die fronten geraten?
      ich hab kein problem mit dem was du schreibst. dir kann ich im gegenteil im wesentlichen zustimmen. wenngleich auch die mehrheit der deutschen hitler eben nicht gewählt hat. erst der deutschnationale bürgerblock hugenbergs ermöglichte die vorgebliche legitimität des staatsstreichs, der auf anderer ebene bereits verabredet war. vergessen wir nicht z.b. als stellvertreter die hilfreichen händen des baron von schröder (bzw. der schrodersbank, die immer wieder dort auftaucht, wo demokratien durch amerikas gnade aufs schafott geführt werden) zusammen mit den strippenziehern aus dem militär und aus ostelbien. denen steht übrigens auf die stirn geschrieben: wenn demokratie irgendetwas ändern würde, dann wäre das der grund, um sie abzuschaffen.

      zugegeben polemisch, was ich da mir gab.
      es gibt andere `volksdeutsche` wie andere `reichsdeutsche`. gar keine frage.

      ich meine die spezies, die mit dem "schwarzbuch des kommunismus" die welterklärungsformel - auch fürs persönliche scheitern - gefunden hat. das ewige opferlamm, das unbegriffen und eifrig zum nächsten opfergottesdienst aufruft, vermeintlich, um sich diesmal wirklich in den dienst der `guten sache` zu stellen. die koalition der willigen mit dem verengten blick, der das totalitäre zusammenschnurrt auf stalin und konsorten. und die gewillt ist, den nächsten rockschoss zu ergreifen, um sich darunter geborgen zu wissen. wer die vergangenheit so verkürzt, ist für die gegenwart blind. das deutet sich nicht nur an. sich so die gegenwart zu illusionieren, bedeutet, sich als anhänger der religion der us-oligarichie zu outen.
      Avatar
      schrieb am 28.06.03 22:49:59
      Beitrag Nr. 119 ()
      apropos. unbequeme meinungen auszuschalten, ist das geringste aller probleme. es gibt sie einfach nicht mehr. jedenfalls nicht als veröffentlichte. chomsky macht an seinen untersuchungen deutlich, dass die amerikanische öffentlichkeit gleichgeschaltet ist. wenn veröffentlichte meinung im gegensatz zum mainstream steht, dann allerhöchstens in publikationen, die dem gemeinen volk seit jeher als anrüchig verkauft wurden und damit sich selbst disqualifizieren.

      darüber hinaus: intellektuelle, also susan sonntag oder chomsky oder averny, das sind abgedrehte spinner - nicht wahr, for4zim. die diskriminierung bzw. abwertung des nicht käuflichen intellektuellen war übrigens schon ein besonderes merkmal des nationalsozialismus, stalinismus ...

      wenn es aber abweichende meinungen im neuen öffentlichen raum - dem internet - gibt, dann sind die vertreter solcher meinungen im zuge der terrorabwehr ;)(wenn sie mögen, ersetzen sie diesen begriff entsprechend ... durch ein anderes feindbild) :laugh: irre. da outet sich der bürger gerne als überzeugter stalinist. nicht wahr, for4zim :laugh:

      wer eine abweichende meinung vertritt, der ist kein patriot. im amerika der bushisten. bei uns hat das wort nach dem militarismus der kaiserzeit und des hitlerismus immer noch ein g`schmäckle, gott sei dank.

      bei w:o kann man beobachten, wie das im neusprech funktioniert: ersetze den unpatriotischen verräter durch verschwörungstheoretiker. die globale bushistische sprachregelung, die letztlich dazu dient, von den verschwörungspraktikern abzulenken.

      oder ein vaterlandsverräter. den hat kohl kürzlich für kritische journalisten wieder zum leben erweckt. wie verräterisch doch korrupte samt ihrem korrumpierten sprachgut sind :laugh:



      @ leghorn
      was literaturempfehlungen anbelangt von mir noch ein nachtrag: dos passos amerika-trilogie.
      Avatar
      schrieb am 29.06.03 00:00:07
      Beitrag Nr. 120 ()


      Ann Coulter verpasst den letzten Liberalen in den USA gerade den Todesstoss.
      Ihr aktuelles Buch "Verrat", das hinter dem neuen Harry Potter auf Platz zwei der Bestsellerlisten steht, weist die Liberalen bzw. Demokraten als Verräter an der amerikanischen Sache aus.
      McCarthy war nach ihrer Lesart dagegen der Retter der Nation.
      Avatar
      schrieb am 29.06.03 12:51:11
      Beitrag Nr. 121 ()
      es ist einfach unglaublich was man unter dem Deckmantel des inszesnierten Terrorismus für eine Gleichschaltung erreichte-

      die Crazys haben die Macht übernommen, die Demokratie ist weltweit tot!
      Avatar
      schrieb am 29.06.03 16:40:51
      Beitrag Nr. 122 ()
      bbc ein werkzeug des terrors gegen das friedliebende britische kriegstreiberkabinett? ;)

      Blair-Regierung fordert Reue von der BBC

      Es ist der wohl schärfste Konflikt zwischen der BBC und Downing Street seit 1982: In einem Beitrag behauptet der Sender, die Blair-Regierung habe falsche Geheimdienstberichte verbreitet, um kritische Parlamentarier für den Irak-Krieg zu gewinnen. Mehrere Minister sprechen von "Lüge" und fordern einen Widerruf.

      London - Der Kommunikationschef von Premierminister Tony Blair, Alastair Campbell, warf der BBC und dem Korrespondenten Andrew Gilligan vor, bewusst gelogen zu haben. Auch mehrere Angehörige des Blair-Kabinetts verlangten eine Entschuldigung ....


      http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,255147,00.h…
      Avatar
      schrieb am 01.07.03 14:30:53
      Beitrag Nr. 123 ()
      Ich möchte doch meine geschätzten Diskussions-Kontrahenten auch in deren eigenem Interesse bitten, Ihren persönlichen Haß auf meine politische Meinung oder meine Person nicht durch Verallgemeinerungen auf ganze Volksgruppen zu übertragen, da mir dies die Gelegenheit bietet, die grandiose Unkenntnis der Geschichte Osteuropas von meinen Kontrahenten bloßzustellen - zum einen durch Auszüge aus von den deutschen Kultusministerien empfohlenen Büchern, Zeitungsausschnitten und persönlich-satirische Anmerkungen.
      Darüber hinaus sehe ich mich jetzt doch gezwungen, meine Familiengeschichte detaillierter auszubreiten. Für weitere ? nicht zu private - Fragen bin ich gerne bereit.
      Aber worum geht es mir eigentlich?
      Nun, es geht insbesondere um dieses amüsante Posting hier mit seinen lustigen Smilies und meinen leider erst heute folgenden Kommentar weiter unten:

      #115
      es ist schon ein kreuz mit den rumäniendeutschen und anderen berufsvertriebenen.
      ich kenne sie aus meiner eigenen familie.
      ... ja, dabei war der bub immer so talentiert....
      ein so kluger kopf...
      aber der kommunismus hat verhindert, dass was aus ihm geworden ist....
      das schrecklichste schicksal aber, das dem `volksdeutschen` menschen beschieden sein kann,
      ist es schliesslich unter die `reichsdeutschen` zu fallen und die missachtung zu erfahren, dass die jammertiraden über das durch den kommunismus verfehlte leben nicht loszuwerden sind und keiner mehr zuhören mag... seine und seiner familie vertane chancen - wie schrecklich, aber eben eine story unter anderen.....
      das wird dann gern zum krampf. ;)
      amerika ist gross und weit und der `volksdeutsche` wie der osteuropäer vermutet dort sein glück. deshalb ist alle kritik an amerika sakrosankt und despektierlich. also neudeutsch antiamerikanisch. und alle anmutung an gedankengut, das irgendeine kritik am american way of life mit sich bringt, kann nur schlecht sein, ein sakrileg. wie immer die denker heissen, wenn nur der geruch des `linksdenkers` an ihm haftet, dann regt sich der natürliche widerstand des berufsgeknechteten. denken in kategorien, die über die eigene notlage hinausweisen, sind allemal verdächtig.
      grad so, wie der westerner sich auf den weg machte, um das `leere` indianerland zu seinem eigenen zu machen, sieht der naturalisierte `volksdeutsche` seine kritischen `reichsdeutschen` landsleute als hindernis, sich seinen so lang geträumten traum zu erfüllen. niemals sich selbst. er bekämpft schliesslich jeden gedanken, der hinweis auf besserung ermöglicht. masochismus ist gelernte unterwürfigkeit. das wissen zu können - wenigstens das - unterscheidet das alte vom neuen europa ;)

      Das obige Zitat fängt schon mal grundfalsch an, denn ich (Auryn) habe mich oder meine Familie niemals als "Heimatvertriebenen" bezeichnet. Auch habe ich mich nach meiner Erinnerung niemals über meine eigene persönliche Lebenssituation infolge meiner Familiengeschichte beklagt.
      Falls jemand eine gegenteilige Textstelle von mir dazu finden sollte, bitte ich doch sehr um die Angabe der betreffenden Textstelle.
      Darüber hinaus biete ich - Auryn - demjenigen 100 Euro Belohnung, der mir eine staatlich oder nichtstaatlich organisierte Vertreibung von Rumäniendeutschen aus Rumänien heraus nachweisen kann.
      Eine solche Vertreibung hat es von Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und aus Jugoslawien heraus gegeben, aber schon in Ungarn war die Lage ganz anders und IN RUMÄNIEN HAT ES NIEMALS EINE VERGLEICHBARE VERTREIBUNG GEGEBEN !!!
      Ich würde es sehr begrüßen, wenn meine hasserfüllten Kontrahenten nicht von ihrer eigenen Familiengeschichte verallgemeinernd auf die Geschichte meiner Familie schließen würden.
      Die Familien meiner Eltern wurden ebenfalls NIEMALS vertrieben, sondern nach dem Hitler-Stalin-Pakt in damals noch deutsch-sowjetischem Einvernehmen 1940 nach Schlesien umgesiedelt, dort von den sowjetischen Truppen 1945 inhaftiert und als rumänische Staatsbürger deutscher Nationalität nach Rumänien zurückdeportiert. Es kam dabei zwar zur Übergriffen der einfachen russischen Soldaten, doch die Familien meiner Eltern hatten das große Glück, wegen ihrer Herkunft aus der Bukowina auch gebrochen Russisch und Ungarisch zu sprechen, was ihnen bei den russischen Kommandanten sehr half und die Übergriffe beendete. Zurückgekehrt nach Rumänien betrachteten sich die Familien meiner Eltern als eine Art von Glückspilzen, denn sie kamen erst an, nachdem die arbeitsfähige deutsche Minderheit in Rumänien bereits komplett zur Zwangsarbeit in Sowjetunion deportiert worden war.
      Die Familien meiner Eltern wurden nach ihrer Rückkehr in die Bukowina von ihren Nachbarn keineswegs wie in anderen osteuropäischen Ländern diskriminiert, sondern sie überlebten überhaupt nur durch die Hilfe ihrer rumänischen Nachbarn die Hungerjahre nach 1945. Die rumänischen Nachbarn waren jedoch ein ebensolcher Teil von Übergriffen der sowjetischen Besatzungsarmee wie die zurückgekehrten deutschen Familien. Meine Mutter und meine Tanten können sich auch heute noch genau erinnern, dass im Dezember 1947 (-siebenundvierzig!) von abziehenden sowjetischen Truppen ein durchweg rumänisches Nachbardorf von Cimpolung Moldovenesc in der rumänischen Bukowina geplündert und verwüstet wurde. Offenkundig hatten die sowjetischen Truppen immer noch keinen Befehl erhalten, die rumänische Bevölkerung nicht mehr als "Feinde" zu betrachten.
      Andersherum bestand für die normale rumänische Bevölkerung nie ein Grund, die deutsche Minderheit als ihren Feind zu betrachten, da Rumänien mit dem Deutschen Reich bis zum August 1944 verbündet war und das Deutsche Reich im Krieg - anders als in Polen oder der Tschechoslowakei nie einen Anspruch auf rumänisches Territorium erhoben hatte.
      Die kommenden Diskriminierungen gingen niemals von der Bevölkerung aus, sondern von der kommunistischen Regierung, die von Anfang an das eigene Volk im Sinne Stalins umzugestalten suchte.
      Meine Eltern wurden jedoch niemals vertrieben; im Gegenteil, im Vergleich mit den anderen deutschen Opfern von Vertreibungen waren sie Glückspilze.

      Warum sie dann in den 60er Jahren nach Deutschland kamen und ein Drittel meiner Familie weiterhin in Rumänien lebt, werde ich vielleicht noch anhand weiterer Postings zu erklären versuchen.

      Zitat:
      Die nationalsozialistische Eroberungspolitik und Willkürherrschaft im übrigen Osteuropa mit ihren Verbrechen hatte dort einen Haß gesät, dessen bittere, blutige Früchte das deutsche Volk jetzt erntete. Die Verbrechen der einen Seite machen jene der anderen erklärlich; sie rechtfertigen sie indessen nicht.
      Als die sowjetischen Truppen in Osteuropa und dann in das Deutsche Reich einmarschierten, floh die deutsche Zivilbevölkerung in Massen nach Westen, um den Schrecken des Kriegsgeschehens auszuweichen. Meist evakuierten die Behörden zu spät,
      vielfach wurden Flüchtlingstrecks von den sowjetischen Truppen überrollt. ...

      Auch die höheren sowjetischen
      Truppenführer vermochten diesen zügellosen Ausschreitungen kaum Einhalt zu gebieten. Massenhaft kam es zu Vergewaltigungen deutscher Frauen, wobei offenbar noch jene ältere Vorstellung nachwirkte, Frauen seien eine dem Sieger zustehende Beute, besonders bei sowjetischen Soldaten asiatischer Herkunft. Die sowjetischen Soldaten verhielten sich damit völlig anders als die einmarschierenden britischen, amerikanischen und französischen Truppen. Im Westen gab es keine Massenvergewaltigungen, wenn man von einzelnen Exzessen der französischen Kolonialtruppen absieht, und kein massenhaftes Morden der Zivilbevölkerung.
      ...,
      Wie die Nationalsozialisten sich bei ihrer Gewaltpolitik im Osten pauschal gegen die dortigen Völker gewendet hatten, so richteten sich jetzt die Übergriffe der Tschechen, Polen und Jugoslawen unterschiedslos gegen alle Deutschen, nur weil sie Deutsche waren. Doch während die nationalsozialistische Unterdrückungs- und Ausrottungspolitik von oben bürokratisch organisiert und von den zuständigen Stellen nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam ausgeführt worden war, entstanden die antideutschen Pogrome 1944/45 weitgehend spontan von unten, und weite Bevölkerungskreise engagierten sich dabei. In Polen, der Tschechoslowakei und Jugoslawien wurden zahlreiche deutsche Zivilisten in Lager gebracht, wobei man vielfach die KZs der NS-Zeit weiterbenutzte. Zigtausende von Deutschen kamen durch Hunger, Mißhandlung und Mord in diesen Lagern um. Die Jugoslawen griffen auch zu Massenerschießungen, um die Deutschen systematisch auszurotten.
      Ferner verschleppten die Russen über 500.000 Deutsche zu mehrjähriger Zwangsarbeit in die UdSSR, von denen dort ebenfalls viele umkamen.
      Mit dem Ende der deutschen Herrschaft begannen die Polen und Tschechen mit sowjetischer Zustimmung sofort, alle Deutschen östlich der Oder-Neiße-Linie und im Sudetengebiet in brutaler und ungeregelter Weise auszutreiben. Diese gewaltige Bevölkerungsverschiebung war schon während des Kriegs von der tschechischen und der polnischen Exilregierung gefordert und von den Alliierten akzeptiert worden. Ihr Sinn lag darin, Polen und die Tschechoslowakei in ihren neuen Grenzen zu volklich einheitlichen Staaten zu machen, frei von volklichen Minderheiten. Nach den Erfahrungen der Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg glaubten sie, ihre Grenzen nur so gegen Revisionsansprüche sichern zu können. Auf der Potsdamer Konferenz bemühten sich die Westalliierten, die bereits angelaufenen wilden Austreibungen in geordnete und humane Bahnen zu lenken, was dann für die Jahre 1946 und 1947 immerhin einigermaßen erreicht wurde. Ende 1947 waren die Vertreibungen im wesentlichen abgeschlossen. 1950 befanden sich 11,73 Millionen deutsche Flüchtlinge und Vertriebene in der BRD, der DDR und Österreich. 2,11 Millionen deutsche Zivilisten waren bei Flucht und Vertreibung ums Leben gekommen, besonders die weniger Widerstandsfähigen, die Kinder, Alten und Frauen. Doch nicht nur Hunger, Strapazen und Seuchen sowie Kriegshandlungen forderten ihre Opfer, sondern der Tod von etwa 600.000 deutschen Zivilisten war auf Verbrechen der Russen, Polen, Tschechen und Jugoslawen zurück.
      ...
      In Osteuropa kam es allein in Ungarn und Rumänien NICHT zu brutalen Haßausbrüchen gegen die Deutschen. Für die in Ungarn lebenden Volksdeutschen wurde eine Umsiedlung erst von den Alliierten im Potsdamer Abkommen angeordnet. Sie vollzog sich ohne Ausschreitungen und wurde auch nur etwa zur Hälfte durchgeführt, während die übrigen Deutschen in Ungarn bleiben konnten. In Rumänien wurden überhaupt keine Vertreibungen durchgeführt. Die rund 380.000 Deutschen, die nach der von Hitler veranlaßten Umsiedlung, nach Evakuierung, Flucht und sowjetischen Deportationen noch im Land waren, durften bleiben. Doch auch sie wurden enteignet und in eine diskriminierte Stellung herabgedrückt.
      Zitiert aus dem von der Bundeszentrale für politische Bildung empfohlenen Geschichtswerk von Jürgen Mirow: Die Geschichte des deutschen Volkes, S. 959-961.

      Es konnten zwar in den ersten Tagen nach dem Einmarsch der Roten Armee in das rumänische Territorium einige tausend Deutsche vor allem mit Wehrmachtseinheiten fliehen. Eine weitgehende Evakuierung grenznaher Dörfer war jedoch nur im Banat möglich, wo etwa 70-80000, Personen flüchteten. Im Zuge einer deutschen Gegenoffensive gelang es auch, die Einwohner von fünf mittelsiebenbürgischen Dörfern in großer Eile und unvollständig zu evakuieren.
      Eine geschlossene und rechtzeitig vorbereitete Evakuierung war nur in Nordsiebenbürger, das damals zu Ungarn gehörte, in der Zeit vom 10.-19. September 1944 möglich; die letzten Trecks erreichten im November bei Schneetreiben ihre Bestimmungsorte in Nieder- und Oberösterreich. Dem Evakuierungsbefehl leistete hingegen nur der kleinere Teil der Sathmarer Schwaben Folge. Abgesehen von den 215 000. Umgesiedelten und den etwa 60.000 in deutschen Einheiten dienenden Männern dürften im Herbst 1944 mindestens 100.000 Rumäniendeutsche aus dem derzeitigen Staatsgebiet geflüchtet sein, von denen allerdings ein guter Teil nach Kriegsende im Jahre 1945 von den Sowjets wieder zurückgeführt wurde.
      Darunter befanden sich auch die Familien meiner Eltern, die in Schlesien als rumänische Staatsbürger mit deutscher Nationalität zurück nach Rumänien deportiert wurden.
      Für die zurückgebliebenen Deutschen änderte sich zunächst auch nach Durchzug der sowjetischen Truppen nicht viel: Telefone und Rundfunkgeräte wurden zwar sehr bald beschlagnahmt, und die Deutschen erhielten Sonderausweise. Auch der Kreis der Internierten wurde immer stärker ausgeweitet. Die meisten konfessionellen Schulen mit deutscher Unterrichtssprache konnten aber nach einer gewissen Unterbrechung den Schulunterricht wieder aufnehmen.: Mit Beginn des Jahres 1945 änderte. sich :das grundlegend:
      In der Zeit vom 9.-15. Januar 1945 wurden schlagartig etwa 80.000 -,:17-45jährige Männer und 18-35jährige Frauen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. Ausgenommen waren nur Hochschwangere und Mütter mit Kindern unter einem Jahr. Wenn die Sollzahl nicht erreicht wurde, griffen sich die sowjetischen Soldaten willkürlich Ersatzpersonen unter der rumänischen oder ungarischen Bevölkerung. Die noch königstreuen rumänischen Verwaltungen versuchten vielerorts, die Deportationen zu verhindern, doch auch ihnen wurde bei Warnung der Deutschen oder Sabotage der sowjetischen Zwangsmaßnahmen mit der Deportation gedroht. - Viele Kinder blieben elternlos zurück. Manche wurden von rumänischen Nachbarn wie ihre eigenen Kinder aufgezogen bis die Eltern zurückkamen, was aber häufig nicht der Fall war. Soweit keine Großeltern oder Nachbarn vorhanden waren, schalteten sich die Kirchen ein, und es bewährte sich die Solidarität der Nachbarschaften und Dorfgemeinschaften; so daß keine Kinder in staatliche rumänische Waisenhäuser eingewiesen werden mußten. - Die ersten kranken Deportierten wurden von` den Sowjets nicht nach Rumänien; sondern nach Frankfurt/Oder verbracht, von wo, sich viele zu ihren vorher geflüchteten Ehemännern oder Bekannten im Westen absetzten. Die letzten- Deportierten kehrten nach zehn Jahren zurück; bei gescheiterten Fluchtversuchen auch später. Infolge von Hunger und Krankheiten war die Todesrate hoch.
      Insgesamt kamen wohl über zehn Prozent der deportierten Angehörigen der deutschen Minderheit in der Sowjetunion ums Leben.

      ? Die Rumäniendeutschen verloren alle politischen Rechte, das Minderheitenstatut vom 7. Februar 1945 galt für sie nicht: Erst durch Gesetz vom 7. September 1950 wurde ihnen wieder das Wahlrecht zuerkannt.
      ? Durch das zweite Agrarreformgesetz vom 23. März 1945 verloren alle Personen deutscher Nationalität mit Ausnahme der `wenigen, die aktiv als Soldaten ``gegen` Hitlerdeutschland kämpften., entschädigungslos ihren gesamten landwirtschaftlichen Grundbesitz mit Hofstelle sowie lebendem und totem Inventar. In` die Bauernhäuser zogen fremde Kolonisten ein, von deren Gutmütigkeit, es abhing, ob die bisherige Bauernfamilie noch ein Zimmer behalten durfte oder nicht.

      Im sozialistischen Rumänien
      Am 30. Dezember 1947 verzichtete König Michael unter Todesandrohung der Kommunistischen Partei auf den Thron, und es wurde die Volksrepublik Rumänien -ausgerufen. Die Sozialisierungsgesetze vom Sommer 1948 hatten zur Folge, daß außer der Industrie, den Banken, Versicherungen und Genossenschaften auch Hauseigentum und das deutsche konfessionelle Schulwesen verstaatlicht und die zahlreichen deutschen Vereine aufgelöst wurden. Die selbständigen Handwerker waren schon vorher durch Druck veranlaßt worden, Genossenschaften zu bilden und ihre Selbständigkeit aufzugeben. Im März 1949 begann auch die Sozialisierung der rumänischen Landwirtschaft nach sowjetischem Muster.
      Neben dieser Zerstörung der wirtschaftlichen Basis wirkten sich folgende Maßnahmen auf die Rumäniendeutschen besonders aus
      - die Deportation von Banatern, die, in der Nähe der jugoslawischen Grenze wohnten, zusammen mit nicht-vertrauenswürdigen Rumänen und Ungarn in die Baragansteppe;
      - die Zwangsumsiedlung nicht erwerbstätiger Städter auf Dörfer;
      - Schauprozesse wegen ?nationalistischer Umtriebe" und
      - eine Vielzahl von Übergriffen und Benachteiligungen auf örtlicher Ebene. .
      Etwa zehn Jahre nach Kriegsende nahmen Staat und Partei allmählich eine liberalere Haltung gegenüber den Rumäniendeutschen ein. Im Jahre 1956 erhielten die ehemaligen Bauern, aber auch Nichtlandwirte, ihre Höfe und Familienhäuser auf Antrag zurück, allerdings ohne die dazugehörigen landwirtschaftlichen Grundstücke. Diese liberale Phase erreichte ihren Höhepunkt, als der neugewählte Generalsekretär Ceausescu im Jahre 1968 nach einem Gespräch mit rumäniendeutschen Intellektuellen offiziell Fehler in der Behandlung der. Rumäniendeutschen eingestand und der Gründung eines Rates der Werktätigen deutscher Nationalität zustimmte.
      Mit der weltweiten Ölkrise, also vorm Jahre 1974. an, setzte ein härterer innenpolitischer, Kurs ein. Seit 1982 verschlechterten sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in Rumänien so stark stark, daß es zu einer schweren Ernährungs- und Energiekrise kam, die bis zum Sturz Ceausescus anhielt. Nicht zuletzt um davon abzulenken, wurden immer nationalistischere Töne angeschlagen; die nicht offiziell, aber in Wirklichkeit Minderheitenfeindlichkeit zur Folge , hatten und haben.
      (Zitiert aus dem Themenheft der Bundeszentrale für politische Bildung: Informationen zur politischen Bildung, Aussiedler, Heft 222, S. 41.)
      Avatar
      schrieb am 01.07.03 15:09:33
      Beitrag Nr. 124 ()
      Kommen wir nun als nächstes zur Frage, was denn meine Familie nur bewogen haben könnte, das Land dieses genialen Erfinders des "volksrepublikanischen Zepters" zu verlassen:
      http://de.photos.yahoo.com/bc/y64_x_32/vwp?.dir=/Totalitaris…
      Was könnte dies nur gewesen sein?
      Sehen wir uns zur Behandlung dieser Frage doch den Artikel aus der Zeitschrift "Der Spiegel" an, aus dem dieses Foto stammt und der hoffentlich im nächsten Posting meiner Wenigkeit folgen wird.
      Avatar
      schrieb am 01.07.03 15:35:48
      Beitrag Nr. 125 ()
      Oh, der Artikel ist wohl doch so lang, daß ich ihn besser "splitte", sonst bricht die Verbindung zusammen:

      Teil 1 des Spiegel-Artikels
      Aus:
      Der Spiegel, 40. Jahrgang, Nr. 49 vom 1. Dezember 1986, S. 174 ff.

      "Du bist zu groß für ein so kleines Volk"
      SPIEGEL-Report über den rumänischen Staats- und Parteichef Nicolae Ceausescu und sein Land


      Mit der Aura eines roten Monarchen und dem Staatsterror eines Stalin beherrscht er seit über zwanzig Jahren das kommunistische Rumänien. Seine eigenwillige Außenpolitik schuf Abstand zur großen Sowjet-Union, seine Wirtschaftspolitik trieb das Land in, eine Dauerkrise. Doch der Despot Nicolae Ceausescu ist krank. Mit einem Erben aus dem eigenen Familienclan versucht er, sein altertümliches System zu zementieren.

      Die Schriftsteller des Landes preisen ihn als "Titan unter den Titanen", vergleichen sein Wirken mit dem von Julius Cäsar, Alexander dem Großen, Perikles, Napoleon oder Cromwell. Die Maler zeichnen ihn göttergleich vom Himmel herabsteigend, vor leuchtenden Horizonten, ein Messias.
      Zahllose Künstler haben ihm gehuldigt, haben die Zeugnisse ihrer Verehrung schwülstig auf Papier und Leinwand gebracht. Einer, der Poet Dumitru Bradescu, inzwischen zum Hofdichter aufgestiegen, reimte ein preisgekröntes Sonett: "Ich fühle mich hingerissen, ihn zu preisen und ihm die Schläfen zu küssen."
      Der solcherart massenhaft Verklärte ist kein Barockfürst oder osmanischer Potentat, sondern ein Kommunist: Nicolae Ceausescu, 68, seit nunmehr 21 Jahren Parteichef und inzwischen auch Staatspräsident der Sozialistischen Republik Rumänien, Oberbefehlshaber der Armee, Vorsitzender des Obersten Rates für wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung und Chef des Nationalrats der Werktätigen.
      Daß er der Größte, Klügste und Weitsichtigste ist, kann der "Conducator" (Führer), wie er sich gern nennen läßt, täglich in der von ihm streng überwachten Parteipresse lesen, die unter der Dauerdevise erscheint: "Den Weisungen des Genossen Nicolae Ceausescu, entsprechend denken, planen, handeln!"
      Der Personenkult um diesen Conducator ist weit bizarrer als der Götzendienst, der Hitler, Stalin oder Mao je entgegengebracht wurde, nur der Nordkoreaner Kim Il Sung bringt noch mehr Massen zum Jubeln. Der rote Cäsar Ceausescu hat einen Herrschaftsstil entwickelt, der sich kaum noch an den sozialistischen Säulenheiligen Marx und Lenin, dafür um so mehr am Hofzeremoniell ägyptischer Gottkönige orientiert. Das kleine Rumänien, an Fläche etwa so groß wie die Bundesrepublik, aber nur mit 22,6 Millionen Einwohnern, wurde der Exot des Weltkommunismus, regiert von einer Familiendynastie, wie sie keine andere KP je ertragen hat.
      König Nicolae fühlt sich daheim offenbar nicht so gut wie in der weiten Welt. Mehr als 51 Staaten der Erde hat der rote Monarch bisher besucht, viele davon mehrmals. Er saß mit den US-Präsidenten Nixon, Ford und Carter im Weißen Haus, ebenso wie in Maos Gemach neben dem ehemaligen Kaiserpalast von Peking, war beim Schah von Persien und bei Diktator Marcas auf den
      Philippinen zu Gast, machte Staatsvisite in London, Neu-Delhi, Paris und Bonn.
      Damit auch seine Untertanen etwas von dem aufwendigen Polit-Tourismus haben, wurde im Bukarester Nationalmuseum eine wandgroße Weltkarte aufgehängt, die mit bunten Markierungen die weltumspannenden Kontakte des Führers zeigt.
      Weil ihn auf einer seiner zahllosen Auslandsreisen der Kaiser von Japan einmal nicht empfangen wollte, legte sich der Conducator auch nach eine Seidenschärpe in den Landesfarben und ein selbstentworfenes Zepter mit Goldknauf zu.
      Seinen Geburtstag im Januar, später auch den seiner Frau Elens, erklärte die Nationalversammlung in Bukarest zu Staatsfeiertagen, an denen auf pompös organisierten Jubelfeiern auch das Bukarester Opernensemble singt. Textprobe:
      "Ceausescu - Gloria! Ewig wollen wir Dich rühmen, immer unter der ruhmreichen Trikolore schreiten, Du uns voran, als tapferer Kämpfer! Hoch lebe Ceausescu!"

      Doch der so hoch Verehrte herrscht über ein heruntergekommenes Land, das zu den ärmsten in Europa gehört, von seinen Bürgern die größten Opfer und Entbehrungen verlangt und seinen Arbeitern die niedrigsten Löhne zahlt seit vier Jahrzehnten mit dem hohlenVersprechen auf eine glanzvolle Zukunft im Sozialismus.
      Wie in den ersten Nachkriegsjahren sind in Rumänien sogar die Grundnahrungsmittel rationiert, vor den leeren Geschäften stehen lange Käuferschlangen. Schon zwei Winter hintereinander reichte auch die Energieversorgung nicht aus, die Fabriken standen wochenlang still die Bürger mußten in ihren Wohnungen bei den gesetzlich vorgeschriebenen Temperaturen von zwölf Grad Celsius hungern und frieren. Nichts spricht dafür, daß es im kommenden Winter anders wird.
      Reallöhne und Nationalprodukt sind in den letzten Jahren um zehn Prozent gesunken. Durch Fehlplanung in der Wirtschaft hat das Land seine Reserven aufgebraucht, ist im Westen mit rund sechs Milliarden Dollar verschuldet und kann nicht mal die fälligen Zinsen zahlen.
      Die Verantwortung für die Dauerkrise und den kümmerlichen Lebensstandard trägt Ceausescu, dieser "Revolutionär, der selbst der Sonne trotzt". Im Gegensatz zu allen anderen sozialistischen Blockstaaten hat in Rumänien nie eine Wirtschaftsreform stattgefunden, wurde die Wirtschaftslenkung nie auch nur geringfügig dezentralisiert. Der Conducator allein entscheidet, was Industrie und Landwirtschaft produzieren, welche Güter eingeführt oder exportiert werden dürfen. Die zuständigen Ressortminister, die Ceausescu älter auswechselt als sein privates Hauspersonal, sind nur die Sündenböcke für das Dauerdesaster.
      Parlament und ZK, in kommunistischen Ländern ohnehin nur demokratisches Alibi, haben in Rumänien nichts zu sagen. Hohe Funktionäre und Minister werden durch ein Rotationssystem ganz nach Ceausescus Gutdünken zum Rücktritt gezwungen: Vier Außenhandelsminister hat der Conducator allein in den vergangenen vier Jahren verbraucht.
      Aber: Als erster roter Herrscher ließ er am vorletzten Wochenende in einem Volksentscheid seine Untertanen über die Reduzierung des Militäretats abstimmen. Geheim war das Plebiszit freilich nicht. Jeder Wähler mußte seinen Namen und seine Adresse in die Abstimmungslisten eintragen. So war das Ergebnis, wie nicht anders zu erwarten: 99,9 Prozent der Befragten sprachen sich für die Abrüstung aus.
      Dieser seltsame rote Monarch hat dennoch etwas Unsägliches vollbracht: Er hat Moskau getrotzt - aber das moskowitische System der GULAG-Zeit in seinem Rumänien so unverfälscht erhalten wie kein anderer Kommunist, Nordkoreas exzentrischer KP-Chef wiederum ausgenommen.
      Ein schwerfälliger, autoritärer Partei- und Staatsapparat beherrscht das Land, eine allmächtige Geheimpolizei bespitzelt und verfolgt jeden Andersdenkenden, unterdrückt jede von der Parteilinie abweichende Idee. In Rumänien lebt der alte Stalin immer noch.
      Die Verflechtung von Partei- und Staatskadern ist enger als andernorts im Sozialismus: Die örtlichen Parteisekretäre sind zugleich Bürgermeister; die Gewerkschaftsfunktionäre und Vorsitzenden gesellschaftlicher Organisationen werden von der Partei ausgewählt.
      Dabei ist dieser Alleinherrscher keiner der von Moskau eingesetzten Satrapen, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Schutz der Raten Armee in Osteuropa den Willen der Sowjets vollzogen.
      Er gehört auch nicht zu jenen legendären Revolutionären, die sich, wie einst Tito, Mao Tse-tung, Fidel Castro oder Ho Tschi-minh den Weg zur Macht an der Spitze verwegener Partisanentrupps mit der Waffe freikämpfen mußten.
      Auch zur kommunistischen Theorie hat der Conducator wenig beigetragen. Seine gesammelten Werke: "Vom Aufbau der entwickelten Gesellschaft", in rotem Kunstleder herausgegeben, sind zwar inzwischen bis zum Band 28 angewachsen - Marx und Engels haben für ihr Gesamtwerk nur 36 Bände gebraucht. Aber die Sammlung enthält fast nur strohtrockene Reden ohne jede zündende Idee.
      Nicolae Ceausescu ist eher die Karikatur eines Volkstribuns. Er wirkt stets linkisch und verlegen, hält die Massen am liebsten auf Distanz, liest seine stundenlangen Reden mit stotternder Stimme vom Blatt ab und überläßt bei Staatsbesuchen anderen die Konversation.
      Die meisten Rumänen sind das archaische System und den Helden an der Spitze längst leid - zu offenem Protest aber ist es bisher nur selten gekommen. Ein spontaner Streik der Bergleute im Schiltal wurde von der Geheimpolizei durch Massenverhaftungen beendet, ein Hunger-Aufstand im Banat, wo Bauern im vorigen Jahr die staatlichen Getreidedepots zu stürmen versuchten, blutig niedergeschlagen. Drei Versuche im Offizierskorps, das Ceausescu-Regime per Militärputsch loszuwerden, wurden frühzeitig verraten.
      Bukarester Intellektuelle, die noch nicht restlos resigniert haben, versuchen das Phänomen der unangefochtenen Ceau§escu-Herrschaft mit dem Volkscharakter zu erklären. Ein rumänisches Sprichwort sagt: "Mais explodiert nicht." Gemeint ist damit, daß der Maisbrei, jahrhundertelang das Hauptnahrungsmittel des einfachen Volkes, gelehrt hat, sich eher anzupassen als zu revoltieren.
      Ein überstürzt vollzogenes Industrialisierungsprogramm aus der kommunistischen Gründerzeit hatte das Land wirtschaftlich unabhängig und politisch autark machen sollen. So, gingen Milliardenbeträge; meist aus westlichen Krediten, in den Bau von Fabriken und Kombinaten. Allein im Jahr 1969 legte sich das bisherige Agrarland 200 neue Industriezentren zu.
      In nur drei Jahren erhöhte Rumänien seine Stahlproduktion um eine Million Tonnen, eine Steigerung, für die das industrialisierte Schweden 69 Jahre benötigte. Für die Verarbeitung des heimischen Erdöls ließ Ceausescu einen petrochemischen Komplex mit einer Kapazität von jährlich :ih Millionen Tannen bauen -dreimal soviel wie die Rumänen fördern können.
      Um die nötigen Devisen für die Rückzahlung westlicher Kredite zu verdienen, befahl der Conducator dann noch, die Ausfuhr zu steigern - mit schlimmen Folgen für die Versorgung des eigenen Landes. Die ruinänischen Produkte waren im Ausland schwer abzusetzen, mit Ausnahme mancher Agrarerzeugnisse wie Gemüse und Fleisch.
      Doch die ökonomische Besinnung auf die Landwirtschaft kam zu spät: Den jahrelang vernachlässigten Staatsgütern und Genossenschaften fehlten die inzwischen von der Industrie abgeworbenen Arbeitskräfte, es fehlten moderne Ma-. schineu und das Geld für notwendige Investitionen.
      Ceausescu, der alles selbst entscheiden will, dem aber gerade für die Lösung ökonomischer Probleme der nötige Sachverstand und die - Geduld fehlen, hetzte sein Volk per Dekret von einer Massenkampagne m die andere.
      Strafbefangene, später Schulkinder und Studenten, schließlich auch die Industriearbeiter und Beamten mußten wochenlang auf die Felder in die Ernteschlacht ziehen - und fehlten an anderer Stelle. Nach einem Dekret vom vergangenen Jahr muß jeder über 18jährige Einwohner eine Woche im Jahr für die Wohngemeinde beim Straßen- oder Brückenbau unentgeltlich schuften.
      In der Energieversorgung setzte der Conducator erst auf das Öl. Als das versiegte, sollten Atomkraftwerke helfen. Deren Bau verzögerte sich, weil Devisen fehlten. Nun sollen Kohle und Wasserkraft die Versorgungskrise beenden, aber für den Ausbau der Kohlengruben und den Bau von Talsperren, milliardenteure Objekte, fehlt gleichfalls das Geld.
      Der konzeptionslose Zickzack-Kurs in der Wirtschaft und die Dauerkrise in der Versorgung hindern die Parteipresse nicht, ihren Spitzengenossen als "ersten Arbeiter des Landes" und "bäuerlichsten aller Bauern" zu loben. Der im Pariser Exil lebende Schriftsteller Paul Goma hat als weiteres Attribut den "bergmännischsten aller Bergleute" vorgeschlagen.
      Dieser vielfache Held mit der einmaligen Bilanz war ursprünglich nur der ergebene Gehilfe eines Größeren, der ihm Weg und Richtung wies - des Berufsrevolutionärs Georghe Gheorghiu-Dej.
      Der starb 1965 nach 20 Jahren Amtszeit im Alter von 63 Jahren an einer Lungenentzündung. Auch er herrschte autoritär über die Rumänen, in der Sache freilich kaltblütiger und konsequenter als der Conducator, im Stil mit weit weniger Aufsehen um die eigene Person.
      Wieso Gheorghiu, der sich den Namen des politischen Zuchthauses Dej als Untergrund-Namen zugelegt hatte, an dem 17 Jahre jüngeren Mitgefangenen Gefallen fand, läßt sich im Gestrüpp der nachgewachsenen Legenden nicht mehr mit Sicherheit ausmachen.
      Fest steht: Der ungebildete, zu jedem Auftrag bereite Jungkommunist Ceausescu wurde der Vertraute und Meldegänger des eingekerkerten KP-Führers, sein konspirativer Bote zu den illegalen Zirkeln der Partei.
      Mag sein, daß bei der Freundschaft der beiden eine Rolle gespielt hat, dass sowohl Gheorghiu-Dej wie auch der aus dem Flecken Scornicesti im Vorland der Karpaten stammende Ceausescu einst Schuster-Lehrlinge waren.
      Brutal ließ Gheorghiu-Dej nach 1945 alle Konkurrenten beseitigen: Der Untergrund-KP-Chef Stephan Foris wurde nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen wegen "Feigheit" ohne Gerichtsurteil erschossen. Nachfolger Lucretiu Patrascanu, 1948 verhaftet, starb 1954 als angeblicher "amerikanischer Spion" am Galgen. Die langjährige Außenministerin Ana Pauker, Favoritin des Kreml, verlor 1952 alle Ämter.
      Damit ging Gheorghiu-Dej vorsichtig, aber entschieden zur Moskauer Zentrale auf Distanz. Rechtzeitig durchkreuzte er
      Stalins Plan, Rumänien als Sowjetrepublik dem eigenen Reich einzuverleiben. 1958 brachte er die Sowjets dazu, ihre Besatzungstruppen aus Rumänien abzuziehen.
      Mit sicherer Witterung nutzte er den Konflikt zwischen Moskau und Peking und bot sich beiden Seiten als Vermittler an: Schließlich war es auch Gheorghiu-Dej, der Rumäniens Weichen wieder in Richtung Westen stellte. Er besuchte den Präsidenten Eisenhower in den USA, schickte seinen Premier Maurer zu Präsident de Gaulle nach Paris und lud beide zum Gegenbesuch in das sozialistische Rumänien ein.
      Nicolae Ceausescu war bei den geheimen Gesprächen und auf Reisen meistens in der Nähe seines Mentors, lernte und verstand es im Machtgerangel und bei plötzlichen Kurswechseln, im Kielwasser von Gheorghiu-Dej stets auf der Seite der Sieger zu stehen.
      Wegen seines Organisationstalents und seiner unzweifelhaften Loyalität, wohl auch, weil er dem Meister nie gefährlich werden konnte, bekam Ceausescu den Auftrag, die Zwangskollektivierung der Bauern zu vollziehen. 124 000 Landwirte, darunter viele Kleinbauern, ließ der tüchtige Erfüllungsgehilfe wegen "Widerstandes" verhaften.
      Dann setzte er als Vize-Minister der Streitkräfte und Leiter der Obersten Politischen Direktion die Parteilinie auch in der Armee durch und übernahm 1955 das wichtigste Amt im Politbüro: Er wurde zuständig für Organisation und Kader - für die in der roten Nomenklatura alles entscheidende Personalpolitik.
      Schon aus jener Zeit kennt der fleißige Bürokrat alle Kaderakten seiner Weggefährten und die entsprechenden Geheimdienstberichte. So mancher, der ihm heute zujubelt, vermutet, daß Ceausescu alles über ihn weiß.
      Dies mag der wichtigste Grund dafür gewesen sein, daß 1965 nach dem plötzlichen Tod von Gheorghiu-Dej sein Nachfolger als Parteichef Nicolae Ceausescu hieß. Dabei saßen damals im Politbüro Spitzengenossen mit älteren Rechten und Meriten, die zudem in der Bevölkerung, ja selbst beim Parteivolk, populärer waren als der Farblose Ceausescu Doch der war nun, mit 48 Jahren, der jüngste Parteichef im Ostblock und im Westen so gut wie unbekannt.
      Er behielt den Kurs seines Vorgängers weitgehend bei. Diesen Kurs, der trotz geringer Abweichungen auch nach heute gilt und für den für den der Conducator unberechtigt viel Lob aus dem Westen erhielt, hat der deutsche Politologe Jens Hacker als "Politik der abgestuften Auflehnung" umschrieben: Weitgehende nationale Selbständigkeit, aber korrektes Einhalten der Verträge mit der Sowjet-Union und den Bruderländern, freundschaftliche Beziehungen zum Sowjetfeind China, vorteilhafte Wirtschaftsbeziehungen zum Westen, lebhafte Kontakte mit aller Wett, ungeachtet unterschiedlicher Ideologien oder Gesellschaftsordnungen.
      Während sich in Rumänien innenpolitisch nichts bewegte, trieb der neue Mann die Politik der Selbständigkeit gegenüber Moskau zielstrebig weiter. Gegen den wütenden Protest Moskaus und aller Bruderländer nahm Rumänien als erster Ostblockstaat nach der Sowjetunion diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschtand auf und weigerte sich, seine diplomatischen Beziehungen zu Israel abzubrechen.
      Als im August 1968 Ostblock-Truppen den Prager Reformkurs niederwalzten, waren die Rumänen nicht dabei. Mehr noch: Ceausescu ließ das rumänische Parlament einberufen und stellte ex cathedra klar: Der Warschauer Vertrag, das ältliche Militärbündnis, dessen Mitglied auch Rumänien ist, sei "ausschließlich ein Instrument zur Verteidigung der sozialistischen Länder gegen eine Aggression von außen".
      Der Kreml, über den öffentlichen Widerspruch aufgebracht, ließ durchblicken, er könne notfalls auch in Rumänien die sozialistische Ordnung durch eine Militärintervention wiederherstellen. Jedoch - diese sozialistische Ordnung war in Rumänien nie bedroht.
      Und Nicolae Ceausescu zeigte gute Nerven. Auf einer ausnahmsweise wirklich spontanen Großkundgebung von über einer halben Million Menschen vor dem Bukarester Parteihaus rief er zur Gründung von "Patriotischen Garden" auf, einer bewaffneten Volksmiliz "zur Verteidigung unseres stolzen Vatertandes gegen jeden fremden Eindringling". Das Volk jubelte seinem Führer zu.
      Dieser Abend im August wurde zum Schlüsselerlebnis für den bis dahin ungeliebten Parteichef.
      Mit dem Instinkt des ehemaligen rumänischen Bauernjungen, der Fremdherrschaft als Ausbeutung und Demütigung selbst erlebt hatte, glaubte er zu spüren, was diesem Volk außer Brot, Arbeit und Heimstatt am meisten fehlte: Stolz auf eine eigene Rolle in der Geschichte, das Bewußtsein einer unverwechselbaren historischen Identität.
      Die zu schaffen, notfalls auch durch absurde Geschichtsklitterung, wurde Ceausescus fixe Idee. Rumänische Historiker, von Ceausescu ermuntert, entwickelten die von West-Kollegen als unseriös bewertete Theorie, die heutigen Rumänen seien die direkten Nachfahren der Daker, eines Heldenvolkes in grauer Frühzeit mit eigenem Staat und eigener Kultur, das von den Truppen des römischen Kaisers Trajan zwar besiegt, aber nie unterwarfen wurde. Ceausescu "Dies ist die klare Quelle des rumänischen Volkes."
      Längst vergessene, auch nahezu unbekannte "Helden des Volkes" beherrschten fortan die von Ceausescu redigierte Geschichtsschreibung, die weiten Einzug in die Schulbücher, sogar ins Parteiprogramm erhielt.
      Als Stammväter der rumänischen KP gelten Daker-Häuptlinge namens Burebista und Decebal, aber auch die Walachenfürsten Mircea der Alte, Stefan der Große und Michael der Tapfere, weil sie, wenn auch vergeblich, versucht hatten, ihren Besitz mit Hilfe einer europäischen Allianz von den Türken zu befreien.
      Selbst für den Diktator und Hitler-Freund Marschall Ion Antonescu, der im Zweiten Weltkrieg Rumänien an der Seite der faschistischen Allianz in den Krieg gegen die Sowjet-Union geführt hatte, fand die revidierte Geschichtsschreibung freundliche Worte: Antonescu hatte das verlorene Bessarabien und die Nord-Bukowina für Rumänien zurückgewonnen (und wieder verloren).
      Rumänien, dessen Grenzen im politischen Feilschen der Großmächte in knapp 50 Jahren fünfmal hin- und hergeschoben worden sind, stellt Gebietsansprüche an die Bruderländer Sowjet-Union, Ungarn und Bulgarien. Für die Historiker aus Moskau ist der Balkan-Staat nur ein "auf dem Papier ausgebrütetes Monstrum".
      Je länger die KP ihren hauseigenen Ahnenkult betrieb, je öfter sie Ceausescu als direkten Erben verblichener Größen feierte, um so mehr Gefallen fand der Bürokrat an der Spitze an diesem farbenprächtigen Rollenspiel.
      Irgendwann Ende der 60er Jahre, der genaue Zeitpunkt ist schwer auszumachen, glaubte Ceausescu selbst daran, die Inkarnation eines Decebal, Mircea des Alten und Stefan des Großen zu sein - von diesem Tag an "sitzt in Rumänien ein Größenwahnsinniger auf dem Thron", so der rumänische Schriftsteller Paul Goma.
      Die historische Kampagne hatte für die schon seit Jahrhunderten im Land lebenden Minderheiten, besonders die Ungarn und Deutschen, schlimme Folgen. In Siebenbürgen und im Banat wurden die schon von Königen verbrieften Minderheitsrechte aufgehoben, deutsche und ungarische Städte und Dörfer bekamen rumänische Namen, deutsche und ungarische Schulen wurden geschlossen, durch staatlichen Druck die Assimilierung mit dem rumänischen Heldenvolk angestrebt. Von den einst eine Million Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben leben heute nur noch knapp 200 000 im Land.
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      schrieb am 01.07.03 16:02:57
      Beitrag Nr. 126 ()
      Teil 2 des Spiegel-Artikels aus Posting # 125:


      Der Zwang zur Angleichung ging so gar so weit; daß Spitzensportler rumänische Namen annehmen mußten, so die mehrfache Olympia-Siegerin von Montreal, Nadia Comaneci, die als Kind ungarischer Eltern in Wirklichkeit Anna Kemenes heißt.
      Mit der wahnhaften Rumänisierung hat auch Ceausescus rigide Bevölkerungspolitik zu tun (SPIEGEL 43/1986). Befehl des Conducators: Jede rumänische Familie muß mindestens vier Kinder bekommen, damit das Volk bis zur Jahrtausendwende von 22,6 Millionen auf 30 Millionen Menschen anwächst.
      Die Idee zu dem Gebär-Befehl stammt laut Ion Mihai Pacepa, dem 1978 in den Westen geflüchteten ehemaligen Vizechef der Auslandsspionage, von Ehefrau Elena, die ihrem Nicolae auf einer Auslandsreise erklärte: "Ein Mann wie du wird nur alle 500 Jahre geboren. Du bist zu groß für ein so kleines Volk. Laß die Leute etwas dagegen tun."

      Ehefrau Elena hilft ihrem Supermann, wo es eben geht: im ZK - wie einst ihr Mann - zuständig für Kaderfragen; als Vizepremier und als Mitglied des höchsten Machtgremiums, des Exekutiv-Komitees. Kandidat für diese Befehlszentrale ist Ceausescus Sohn Nicu, Minister für Jugendfragen.
      Insgesamt halten mehr als ein Dutzend Personen aus dem engsten Ceausescu-Clan - soweit bekannt-Schlüsselstellungen in Partei, Staat und Wirtschaft besetzt. Ein Nepotismus ohne Beispiel zwingt Rumänien auf Familien-Kurs.
      Im ZK ist die Herrscherfamilie mit acht Mitgliedern präsent. Schwiegertochter Paliana führt die Kinderorganisation "Junge Pioniere", Ceausescus Schwager Gheorghe Petrescu trifft als Vizepremier alle Entscheidungen in der Elektronik- und Maschinenbau-Industrie. Bruder Nicolae Andruta kontrolliert als Generalleutnant und Vize des Innenministers die Polizei und den Geheimdienst, Bruder Ilie ist Vize-Verteidigungsminister, Bruder Ion Vize im Landwirtschaftsministerium.
      Ceausescus Schwager Ilie Verdet ist Bergbauminister, Schwager Vasilie Barbulescu mit wichtigen Ämtern auf dem Agrarsektor betraut, Bruder Florea sorgt dafür, daß die Parteizeitung "Scinteia" weiterhin dem Führer huldigt.
      Geschickt sind die meisten Verwandten in Stellvertreter-Positionen untergebracht und damit für Pannen in den Ressorts persönlich kaum verantwortlich zu machen. Von der obligaten Rotation sind die Mitglieder des Familien-Clans selbstredend ausgenommen.
      Außer seiner Sippe verfügt der Conducator noch über eine ihm treu ergebene Janitscharen-Truppe. Schon seit 20 Jahren sortiert das Ehepaar Ceausescu in den Waisenhäusern des Landes die tüchtigsten Kinder aus und läßt ihnen in einer Sonderschule im Prahova-Tal die beste Ausbildung zukommen. Ober 3000 Waisen, denen Nicolae und Elena Ceausescu Ersatz für Vater und Mutter sind, gingen bisher durch die Familien-Schule und wurden nach dem Abschluß auf wichtigen Posten untergebracht.
      Auch den ältesten Sohn Valentin, 49, haben die Ceausescus adoptiert. Das Kind einer Bauernfamilie aus Bessarabien wurde von den Eltern nach einer Mißernte zum Genossen Parteichef geschickt. Sein Stiefvater brachte ihn auf dem renommierten Londoner College für Wissenschaft und Technologie unter und ernannte den Heimkehrer dann zum Direktor des rumänischen Instituts für Nuklear-Physik.
      Das schwarze Schaf der Familie ist zum Leidwesen ihrer ehrgeizigen Mutter Elena Ceausescus einzige Tochter Elena - Zoe. Die promovierte Mathematikerin am Bukarester Nationalinstitut für Wissenschaft und Technik ist entschieden gegen den Personenkult.
      Überläufer Pacepa will sogar wissen, sie habe den Rummel um ihren Vater "abscheulich" genannt und ihre Mutter verhöhnt: "Sie träumt nur davon, Königin über 40 Millionen Idioten zu werden."
      Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Im Sommer vorigen Jahres wurde bekannt, daß Ceausescu an Krebs erkrankt sei. Seitdem gilt die vordringlichste Sorge des Conducators dem Versuch, einen Nachfolger zu finden, der die Ceausescu-Herrschaft in Rumänien auch in der Zukunft sichert.
      Gegenüber den Untertanen wird die Krankheit noch immer geheimgehalten,
      Jede Nachfrage aus dem westlichen Ausland wird in Bukarest dementiert. Im Fernsehen erscheint ein auf jung geschminkter Ceausescu, auf Photos und Plakaten ist er durch aufgehellte Lidschatten und nach oben gezogene Mundwinkel bis zur Unkenntlichkeit retuschiert.
      Seine erste Nachfolge-Wahl fiel auf Sohn Nicu, 36, der den Vater schon mehrmals auf Staatsvisiten ins Ausland begleitete und im vergangenen Jahr in Moskau und Ost-Berlin auch schon ohne den Conducator politische Gespräche führen durfte. Doch der "Dauphin", wie die Rumänen den Jugendminister spöttisch nennen, hält wenig von der harten Schule für Diktatoren. Statt dessen fällt er durch Affären auf. Prügeleien in Hotelbars, im Vollrausch verursachte schwere Verkehrsunfälle, verbotenes Glücksspiel und zahllose Liebesabenteuer haben ihn im sittenstrengen Ceausescu-Staat disqualifiziert.
      Vor zwei Jahren erschien Nicu auf der Hochzeitsfeier der mehrfachen Turn-Olympiasiegerin Nadia Comaneci, der er erfolglos den Hof gemacht hatte. Zwischen ihm und Nadias damaligem Bräutigam, der als Fußballer im Nationalteam und im Verein "Universitatea Craiova" spielte, kam es zum Streit. Bei der wüsten Schlägerei, die sich daraus entwickelte, mischten auch Nicus Leibwächter und die Kicker von Craiova tüchtig mit.
      Bei Nicus jüngstem Skandal geht es um einen selbstverliehenen Titel. Der Absolvent des Bukarester Polytechnischen Instituts pflegt seine gelegentlichen Aufsätze m Jugend-Zeitschriften mit "Dr. Nicu Ceausescu" zu zeichnen, doch nirgendwo liegt eine Urkunde oder eine Doktorarbeit von ihm vor.
      Trotzdem machte Vater Ceausescu im vorigen Herbst den Versuch, den mißratenen Sohn als Nachfolger durchzusetzen. Doch die zur Wahl bestellten Parteigrößen verweigerten die Zustimmung - selbst die aus der eigenen Verwandtschaft. Wütend ließ der kranke Conducator den Sitzungssaal räumen.
      Nächster Nachfolgekandidat war die Frau, die nach Meinung vieler Rumänen der "authentische Conducator" ist: Ceausescu-Gattin Elena, 70. Die Gastwirtstochter aus Petresti, diplomierte Chemikerin, stammt aus ähnlichem dörflichen Milieu wie ihr Mann und gilt als ebenso skrupellos und gerissen wie er.
      Sie schreibt alle Reden für ihren Mann, kontrolliert und redigiert die Texte von Staatsverträgen und Gesetzen. Auf Elena geht auch die Initiative zu einer bei den Chinesen abgeguckten Kulturrevolution zurück, die sich mangels kulturellem Esprit freilich in dem üblichen Chauvinismus erschöpfte.
      Schon zweimal, 1979 und 1984, versuchte Ceausescu, seine Frau zum Partei-Vize zu ernennen, scheiterte aber an der fehlenden Mehrheit. Auch der Kreml ließ Einwände erkennen.
      Bei einem Staatsbesuch in Belgrad Ende vergangenen Jahres trat sie erstmals gleichberechtigt neben ihrem kranken Mann auf und unterzeichnete -ohne Mandat - die Gesprächsprotokolle.
      Zu ihrem Geburtstag Anfang Januar, erschien ihr Bild ohne ihren Mann auf den Titelseiten. Ein Hofdichter mit Namen Mihai Beniuc durfte eine "Huldigung" auf sie veröffentlichen:
      "So schreitet sie den Weg, der in die Zukunft weist und den die Forschung nur erschließen kann, unter dem stolzen Banner der Partei und an der Seite des genialen Gatten, des größten Steuermanns, den wir je hatten. Traget denn, künftige Generationen, den Lichtstrahl durch die Äonen, von jener weisen Frauen Wissen, das sprühend Leben ließ zum Heile sprießen!"
      Seither wird die weise Frau in der Parteipresse nur noch mit der Standard-Formel "Genossin Akademiemitglied Doktor Ingenieur Elena Ceauescu" zitiert, und sie war es auch, die nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl die Leitung eines Krisenrates übernahm.
      Ob freilich die Rumänen bereit wären, die unbeliebte Frau ohne Widerspruch als dynastische Nachfolgerin des roten Königs hinzunehmen, ist fraglich.
      Am meisten sträubt sich das Militär. Die bereits mehrmals von Stalinisten und Sowjet-Freunden gesäuberten 190.000 Mann-Streitkräfte liegen nicht mehr verläßlïch auf Ceausescu-Kurs -sie fühlen sich vom Conducator mißbraucht.
      Es begann damit, daß Ceausescu Ende der 70er Jahre ohne Rücksprache mit dem Warschauer Pakt den Abbau des Militärbudgets um jährlich zehn Prozent befahl und das Geld in den Bau ehrgeiziger Mammutprojekte steckte. Das Offizierskorps hingegen meint, die Kampfkraft der rumänischen Armee werde durch das Sparprogramm entscheidend geschwächt.
      Zudem wird das rumänische Militär schlechter als in anderen Ostblockstaaten bezahlt, Mannschaften wie Offiziere. Immer öfter müssen die Soldaten als billige Arbeitskräfte mit Hacke und Spaten beim Bau von Großprojekten schuften oder als Staatskontrolleure in der vom Kollaps bedrohten Energieproduktion dienen - in Kohlengruben und Wasserkraftwerken.
      Als Ceausescu unlängst Truppen auf weitere Großbaustellen abkommandierte, darunter die Hafenerweiterung von Constanta und den Bukarester U-Bahn-Bau, zudem nach die Armee unter die schärfere Kontrolle durch die "Securitate", die rumänische Geheimpolizei, steilte, gab es auf einer Bukarester Offizierstagung offenen Protest
      Angeblich kursiert im rumänischen Offizierskorps bereits der Plan, bei einem Ausfall des Conducators eine Militärjunta an die Macht zu bringen.
      Westlichen Geheimdiensten zufolge wäre Moskau, um sich weitere Demütigungen durch den Ceausescu-Clan zu sparen, mit einer "polnischen Lösung" einverstanden. In einem solchen Fall sei die Sowjet-Union sogar bereit, Rumänien zu günstigen Konditionen aus der Dauerkrise zu helfen, die das Land ohnehin wieder mehr an die Seite des ungeliebten Nachbarn zwingt: Der Westen, bislang geduldiger Gläubiger, will keine neuen Kredite mehr geben.
      Gleichwohl kann sich Moskau auch eine andere Lösung vorstellen und hat für diesen Fall als Nachfolgekandidaten auch schon einen Favoriten:
      Ion Iliescu, 56, Sohn eines rumänischen Altkommunisten aus dem Untergrund. Bis 1971 war Iliescu Jugendminister und damit Vorgänger von Ceausescus Sohn Nicu. Dann wurde er Stufenreise degradiert: zuerst zum Parteisekretär in der Nordost-Provinz lasi, später zum Direktor eines technischen Buchverlags. Seit einigen Jahren ist er aus der Öffentlichkeit verschwunden.
      Dieser rumänische Niemand, dem Freunde aber technischen Sachverstand und pragmatisches Handeln nachsagen, hat Mitte der 50er Jahre am Moskauer Institut für Energetik studiert und als Sekretär der rumänischen Studenten eng mit einem gleichaltrigen Russen zusammengearbeitet, der ihn als "klugen Kopf" und "Organisationstalent rühmte.
      Dieser russische Student hat inzwischen Karriere gemacht und ist zum höchsten Amt in der Sowjet-Union aufgestiegen -Michail Gorbatschow, Generalsekretär der KPdSU.

      Private Frage meiner Wenigkeit:
      Können nach der Lektüre meiner letzten drei Postings eigentlich meine geschätzten Kontrahenten nun ungefähr verstehen, was ich mit "Totalitarismus" meine und woher ich meine Kenntnisse habe?
      Avatar
      schrieb am 01.07.03 16:13:48
      Beitrag Nr. 127 ()
      kannst du auch nur einigermaßen verstehen warum wir so besorgt über die Entwicklungen in den USA sind?

      Es gab das land der Freiheit nie, es ist seit Gründung ein Fake, weil selbst die Gründung schon auf Ausmordung und Unterdrückung beruhte. Es hat historisch das noch schlimmere System gegen ein anderes schlimmes System verloren, auch Dankbarkeit über die Befreihung des Übels totalitärer Kommunismus kann darüber nicht hinwegtäuschen.

      Abgesehen von der historischen Lüge der Freiheit zeigt uns aktuell die USA worin die Freiheit wirklich besteht- es gibt keine, die Demokratie wurde schon befreit, uns zeigt sich nun die Fratze der neoliberalen, monopolistischen, Unternehmerinteressen gesteuerten Fratze der Plutokratie, die selbst Krieg nicht scheut, welche Demokratie lächerlich macht und sich statt dessen eine Stasi schafft um angeblich gegen äußere Bedrohungen vorzugehen...
      Avatar
      schrieb am 01.07.03 16:14:52
      Beitrag Nr. 128 ()
      Oh, den Augenzeugenbericht nach dem Artikel im selben SPIEGEL-Heft hätte ich ja beinahe vergessen:

      "Man muß eben immer auf den Fügen sein"

      SPIEGEL-Reporter Olaf Ihlau über die Versorgungsmisere in Ceausescus Rumänien
      (Gesonderter Report in "Der Spiegel", 40. Jg., Nr. 49 vom 1. Dezember 1986, S. 194.)

      Das Gerücht, wunderbar und schwer glaubhaft, macht schon seit dem frühen Morgen die Runde durch Sibiu. Gute Nachbarn wecken einander, Verwandte und Freunde in den Vororten werden alarmiert. Die Nachricht klingt ungeheuerlich: "Im Magazinul Central soll es heute Salami geben."
      Das wäre die erste Lieferung von Wurstwaren seit drei Monaten für Sibiu, das einstige Hermannstadt und Kulturzentrum der Siebenbürger Sachsen am Fuße der rumänischen Karpaten.
      Die sensationelle Ankündigung ist die Mühe vorzeitigen Aufstehens und langen Anstehens wert. Wie aus Nibelheims Nacht huschen im mittelalterlichen Stadtkern aus Gassen - und Torbögen schemenhafte Gestalten, tapsen durch die Pfützen des Marktplatzes, den drei Funzeln fahl beleuchten.
      Vor dem Lebensmittelladen auf der Strada Balcescu reicht die Schlange der Wartenden gegen 6 Uhr bereits 40 Meter weit, in Dreier-Reihen. Nur die Salami ist noch nicht da.
      Als einziges Angebot auf den weißen Kachelbänken der Fleischabteilung türmen sich kunstvoll errichtete Säulen aus Dosen mit Ölsardinen oder vietnamesischem Garnelen-Gulasch, Marke "Song Lo". Damit die Auslage nicht so kümmerlich wirkt, hängen drumherum Illustriertenphotos, die saftige Schinken zeigen -ein Hohn für die Schlangen-Menschen draußen vor dem Schaufenster.
      Sie haben im Magazinul Central während der letzten Wochen allenfalls mal geräucherte Schweinepfoten ergattern können oder ein Gemengsel aus Schweinefett, Knorpel und Fleischfasern, das als "Gehacktes" firmierte.
      "Wir sind ein armes Land geworden, alles, was wir produzieren, muß in den Export", sagt eine Zuschneiderin der Lederwarenfabrik "13. November". Dort hat sie wie andere Kollegen die Frühschicht geschwänzt, um auf Wurstjagd zu gehen.
      Niemand, im Werk nimmt ihr das übel. Jeder im Armenreich des sozialistischen Königs Nicolae Ceausescu weiß, daß das Organisieren von Nahrungsmitteln mit Schlangestehen den Vorrang genießt vor der Erfüllung irgendwelcher Arbeitspflichten. Ohnehin ist es schwer genug, sich das Nötigste zu besorgen. Kartoffeln, Gemüse- und Obstkonserven gibt es zwar ausreichend, aber viele Grundnahrungsmittel sind rationiert.
      Die Lebensmittelkarte erlaubt kein Jonglieren. Das Limit sind der Kauf von lediglich 300 Gramm Brot pro Tag, von 600 Gramm Speiseöl sowie je einem Pfund Zucker, Weizen- und Maismehl im Monat. Von Geflügel, Fleisch, Käse, von Wurst, Butter, Kaffee oder Schokolade für die Kinder können die Rumänen meist nur träumen.
      Da wird dann die Fixierung aufs Essen zur Obsession. "Verhungern brauchst du nicht, aber du redest und phantasierst wirklich nur noch vom Essen", mokiert die Lederarbeiterin sich über die Banalität ihres Daseins. Seit drei Stunden wartet sie nun schon fröstelnd.
      Ihr Nachbar in der Schlange studiert die Zeitung "Scinteia". Das Parteiorgan ist wieder einmal vollgepflastert mit byzantinischen Ergebenheitsadressen der Provinzkomitees an des Landes obersten Zuchtmeister Nicolae Ceausescu.
      Dem "genialen Strategen des sozialistischen Aufbaus" wurde soeben der
      Titel "Held der Neuen Agrarrevolution" verliehen, einer Revolution indes, die ihren Kindern die schönsten Früchte vorenthält.
      Dabei wurden in diesem Jahr 28 Millionen Tonnen Getreide, eine Rekordernte, eingefahren. "Noch nie war die Weizenähre so prall, der Maiskolben so körnerreich", jubeln die Zeitungen.
      Das mag wohl sein. Doch die 22,6 Millionen Bewohner dieser Ecke des Balkans, die der verbannte römische Dichter Ovid vor fast 2000 Jahren schaudernd "das Ende der Welt" nannte, erhalten davon wenig.
      Denn auf Weisung Ceausescus bezahlt Rumänien seine Schulden im Westen, die Ölkäufe von den Sowjets mit Lebensmitteln. Die Folge ist eine Orgie irrwitziger Entsagung und forcierter Genügsamkeit.
      Dazu zählt auch der Verzicht auf Salami. Nach sechs Stunden Warten beginnt die Schlange vor dem Magazinul Central sich murrend aufzulösen. Am Bordstein parkt ein Polizeiwagen. Drüben, an der Ecke vor dem Hotel "Römischer Kaiser", haben sich zwei Uniformierte mit Sprechfunkgeräten postiert. Auch in der Schlange selbst stecken ein paar seltsame Lederjacken-Typen.
      Weniger zu interessieren scheint die Polizei dagegen eine Horde von Angetrunkenen, die bereits am späten Vormittag die Stadtturm-Kneipe am Marktplatz umlagert, gleich neben der barocken katholischen Kirche. Alkoholkonsum gilt im Reich des Despoten Ceausescu als Ventil zur Entgiftung der Seelen.
      Durch den Vorgarten kullern leere Bierflaschen des lokalen Gebräus "Sadu". Daneben ist nur noch Wodka zu haben, zu essen nichts außer Kartoffelbrei mit Tunke und hartem Weißbrot. Auffallend viele junge Leute lungern vor dieser überfüllten Schenke herum, stieren trübe auf den leeren Marktplatz.
      "Das Leben hier ist bloß noch Maloche, selbst in die `Bruderländer` -dürfen wir nicht mehr fahren, weil das zu teuer wäre", klagt ein Autospengler, 25. Er verdient 2200 Lei im Monat, 440 Mark.
      Viel läßt sich damit nicht anfangen. Schon ein einfacher Wollpullover kostet 467, ein Regencoat 830, ein Nappa-Mantel sogar 4500 Lei. Und wollte der Autospengler seinen Eltern, bei denen er noch wohnt, zum Sonntag vom Privatmarkt ein Huhn spendieren, würde dafür ein Wochenlohn draufgehen.
      Am meisten indes ärgert ihn, daß er sechs Jahre wie ein Asket gelebt hat, um sich einen gebrauchten Dacia-Wagen kaufen zu können. Der steht jetzt in eine Plane gehüllt nutzlos vor dem Haus, denn es gibt, wenn überhaupt, höchstens 26 Liter Benzin pro Monat.
      Sibiu gilt noch als relativ gut versorgte Stadt. In den umliegenden Dörfern Transsilvaniens, wo noch viele Siebenbürger Sachsen ausharren, sind die Regale der Alimentara-Lebensmittelläden nahezu leer.
      Oft werden selbst die Grundrationen knapp. "Hunger leiden wir nicht, aber man muß eben immer auf den Füßen sein", raunzt Rosie, eine 74jährige Einwohnerin von Stolzenburg, das heute Slimnic heißt. Die Frau hat sich gerade einen Brotfladen abgeholt. Der muß für vier Tage reichen. Die Lebensmittelkarte bekam Rosie auch nur, weil ihr Sohn Wilhelm - wie alle Feierabendbauern dem Staat pro Kopf der Familie im Jahr 50 Eier, einen Zentner Kartoffeln und ein Huhn abliefert.
      Kurz vor Weihnachten soll das Schwein geschlachtet werden, das im Garten neben dem Kaninchenstall gemästet wird. Mit Mais und Kartoffeln, was ziemlich teuer kommt. Deshalb geht auch die Hälfte des Schweins an Freunde, die dafür 4000 Lei geboten haben. Sich zudem ein Kalb oder eine Kuh zu halten, würde nicht lohnen. Schlachten zur privaten Nutzung ist verboten; Spitzel finden sich überall, selbst in den noch überwiegend deutschstämmigen Gemeinden. "Wenn du nicht tanzt, wie sie singen, bist du fertig", sagt Wilhelm bitter.
      Seine Familie hat genügend eingemacht und eingekellert, um einigermaßen durch den Winter zu kommen, Die Großstädter aber, vor allem jene in den Wohnzellen der Arbeitervororte Bukarests, haben solche Möglichkeiten der Selbstversorgung und Lagerung nicht.
      Sie müssen geduldig anstehen, taucht irgendwo unverhofft etwas auf: zum Beispiel Quark und schrumpelige Tomaten auf der Piata Amzei, wo ineinander verknäulte Menschenschlangen die Verkaufsstände umwinden.
      Oder einige Loren mit Hühner-Gekröse auf dem Großmarkt Bucur Ober. Das ist dann Stadtgespräch, denn viele Bukarester haben seit zwei Jahren kein Geflügel mehr im Angebot gesehen.
      "Erstaunlich, daß es immer noch schlechter werden kann", wundert sich ein westeuropäischer Botschafter. Selbst in den Diplomatenläden sind neuerdings halbe Schweinsköpfe oft., die einzige Fleisch-Offerte:
      Doch im Namen aller "Werktätigen der Hauptstadt" versicherte Bürgermeister Constantin Olteanu dem "illustren Führer" auf einer ZK-Sitzung untertänigst, daß "die gesamte Nation ihre Gedanken dankbar auf den Gestalter der neuen Geschicke des Vaterlandes richtet".
      Der läßt, Milliarden verpulvernd, die Utopien seiner sozialistischen Ordnungsträume mit dem Aufbau eines monumentalen "politisch-administrativen Zentrums" in erdrückende Tektonik meißeln. Auch ein Triumphbogen aus Maßgrün bemaltem Zement ist auf dem Gelände .der Bukarester Industriemesse für den Conducator bereits errichtet.
      Seine Inschrift feiert die 21 Jahre der Herrschaft Nicolae Ceausescus als das "goldene Zeitalter Rumäniens".
      Avatar
      schrieb am 01.07.03 16:23:10
      Beitrag Nr. 129 ()
      @ LostLilith:
      Lies bitte meine Einleitung in Posting # 107 und Du wirst sehen, daß ich "annähernd" verstehen kann.
      Kannst DU mich annähernd verstehen?

      Ich hätte nach wie vor gerne von Dir und meinen anderen Kontrahenten hier die Frage beantwortet, warum in den letzten 50 Jahren in Europa die politischen Aufstände mit Tausenden von Toten immer nur in Osteuropa stattgefunden haben,

      warum Osteuropa geradezu übersät ist von Gedenksteinen für die Opfer des Totalitarismus und

      warum seit 1945 Millionen von Menschen ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um in ein von den USA so "despotisch" geführtes System zu flüchten wie das der Bundesrepublik Deutschland, Großbritanniens, Frankreichs oder auch dieser schrecklich "faschistischen USA" selbst.

      Warum also?


      Wieso verhungern in Nord-Korea die Menschen und nicht im - von so schrecklicher Unterdrückung geprägten - "Westen"?
      Avatar
      schrieb am 01.07.03 16:28:15
      Beitrag Nr. 130 ()
      Ach ja, und wieso lese ich hier eigentlich nur selten etwas zur Hungersnot im Simbabwe von Robert Mugabe oder ähnlichen Leuten wie ihm, dessen/deren Truppen aber gleichzeitig am Bürgerkrieg im Kongo teilnehmen?
      Weil er oder seine Gesinnungsgenossen "tapferer Gegner" der USA sind?
      Avatar
      schrieb am 01.07.03 16:28:46
      Beitrag Nr. 131 ()
      Weil es ins große Spiel paßt-

      laß doch mal Nordkorea aus dem Spiel und Frage dich mal, warum in Afrika hunderte von Millionen Menschen hungern!

      Und hat man nicht immer gerne Kriege exportiert?

      Dann ist es doch klar das im Kernland der macht es friedlicher zugeht, siehe Rom, da war es genauso, bis man das eigene Volk nicht mehr durch Brot und Spiele beschäftigen konnte...

      Deine Heiligen haben dazu immer Waffen geliefert, wenn ein Geschäft zu machen war.

      Es ist wie bei Orwell: Gäbe es kein Ozeanien, müßte man es erfinden um die kriegswirtschaft weiter zu rechtfertigen.

      Woher wohl auf einmal der neue globale Feind Terror kommt? Zufall?
      Avatar
      schrieb am 01.07.03 16:36:46
      Beitrag Nr. 132 ()
      Es ist auch daran zu erinnern, daß es komischerweise in der Zeit nach 1918 ausschließlich kommunistische Länder mit Einparteiensystemen waren, in denen Hungersnöte auftraten, die mehr als 100.000 Todesopfer, ja sogar Millionen Todesopfer forderten. Noch im Jahrzehnt 1980 bis 1990 haben zwei afrikanische Länder, die sich offiziell "marxistisch-leninistisch" nannten - Äthiopien und Mocambique -, solche der verheerendensten Hungersnöte durchgemacht.
      In Nordkorea ging nach offiziellen nordkoreanischen Angaben zum Erhalt für UNO-Lebensmittelhilfe die Bevölkerung zwischen 1995 und 2003 um bis zu 6 Prozent zurück. Mit anderen Worten: Es sind in Nordkorea möglicherweise 3 Millionen Menschen in aller Stille verhungert.

      In welchen Ländern finden doch gerade zur Zeit die größten Hungersnöte statt, LostLilith?
      Avatar
      schrieb am 01.07.03 16:42:08
      Beitrag Nr. 133 ()
      Oh, das wollte ich ja auch noch als Antwort auf Posting # 118 bringen, weil doch "antigone" scheinbar nicht nur mich über alles "liebt", sondern auch das "Schwarzbuch des Kommunismus".
      Tja, was schrieb denn der Spiegel über die Rezeption dieses Buches in Deutschland?:

      Der S p i e g e l, Nr. 2 7 / 1 9 9 8 vom 26.06.1998, S. 176ff.

      Z E I T G E I S T
      Die Wirklichkeit wird ausgepfiffen

      Das auf deutsch erschienene "Schwarzbuch des Kommunismus" erregt die Gemüter - vor allem jene Linken, die vom Gulag immer gern geschwiegen haben.
      Von Reinhard Mohr

      Zum Buch:
      Stéphane Courtois und andere: "Das Schwarzbuch des Kommunismus". Piper-Verlag, München, Zürich.

      Im März 1990 wurde im Tagungssaal des Zentralkomitees der SED am Werderschen Markt in Ost-Berlin ein denkwürdiger Film gezeigt. Die in PDS umgetaufte einstige Staatspartei der DDR hatte zur öffentlichen Vorführung eines sowjetischen Dokumentarstreifens über das erste Zwangsarbeitslager geladen, das noch zu Lebzeiten Lenins, am 6. Juni 1923, eingerichtet worden war: Solowki, die "Wurzel des Gulag", wie es im Kommentar hieß. Etwa 60 Menschen verloren sich in der heiligen Halle des soeben zusammengebrochenen DDR-Sozialismus und sahen zu, wie der Dichter Maxim Gorki 1929 dem Vorzeige-Lager einen Besuch abstattete. Freilich bekam er nur das extra für ihn errichtete, blitzsaubere Potemkinsche Sträflingsdorf zu Gesicht - die "blutige Treppe", über die gefesselte Häftlinge hinabgestoßen wurden, bis sie als blutige Klumpen Fleisch ihr Leben ließen, wurde ihm vorenthalten. Auf das Versprechen, daß ein paar Gefangene freigelassen würden, sang er das Lob der Sowjetmacht. Titel seiner Reportage: "Unsere Errungenschaften". Als das Licht im Saal wieder anging, herrschte einige Sekunden lang Schweigen - dann kehrten die Worte zurück. "Außergewöhnliche Methoden" im russischen Bürgerkrieg dürften nicht mit dem späteren Terror in eins gesetzt werden, erklärte der Moskauer Parteihistoriker Wladlen Loginow: "Gewalt ist nicht Gewalt. Man darf sich nicht an Äußerlichkeiten orientieren." Sein Kollege Firsiw ergänzte, daß zu Zeiten Lenins "noch streng wissenschaftlich argumentiert" worden sei, während es später die bekannten "Deformationen" gegeben habe. Eine Dame fragte schüchtern, wer denn eigentlich unterscheiden könne, was der Klassenfeind und was das Volk sei. "Man traut sich ja sonst nichts. PDS", machte ein rot beschriftetes Bettlaken Mut zur munteren Vergangenheitsbewältigung.
      Acht Jahre später, im Juni 1998, versinkt eine Diskussionsveranstaltung in West-Berlin über das gerade auf deutsch erschienene "Schwarzbuch des Kommunismus" (SPIEGEL 48/1997) trotz mehrfachen Eingreifens der Polizei im grotesken Tumult. Drei Dutzend pöbelnde Twens aus der "Jeunesse dorée der postkommunistischen Nostalgie" ("taz" ) sorgen mit Trillerpfeifen und Sprechchören dafür, daß aus der ernsthaften Debatte über die Bilanz stalinistischer Verbrechen im 20. Jahrhundert ein lärmendes Spektakel wird, in dem der Faschismus abermals verdammt und der Kommunismus gepriesen wird. "Im Land der Täter von Auschwitz darf die Relativierung dieses Menschheitsverbrechens nicht als akzeptabler Diskussionsbeitrag hingenommen werden", dekretiert ein Flugblatt der politisch korrekten Zensurfreunde. Schöne junge Frauen, "den Furor christlicher Märtyrer im Blick" ("Frankfurter Rundschau" ), entrollen ein Transparent mit der Aufschrift "Wer zählt die Opfer des Kapitalismus?" und rufen dem französischen Mitautoren des Schwarzbuches, Stéphane Courtois, zu: "Scheiß-Aufklärung. Spring doch vom Eiffelturm!" Die Berliner Travestieshow dummdreister Provokation blieb unter den verschiedenen Podiumsdiskussionen die Ausnahme, doch trägt die ganze bisherige Auseinandersetzung mit der deutschen Ausgabe des Ende 1997 in Frankreich veröffentlichten "Schwarzbuch des Kommunismus" durchweg travestiehafte Züge. Dieselben Linken, die nichts dabei finden, daß der grüne Vorstandssprecher Trittin die Bundeswehr kurzerhand in die verbrecherische Tradition von Hitlers Wehrmacht stellt, entsichern ihre geistigen Handfeuerwaffen, wenn auch nur der Versuch unternommen wird, Kommunismus und Faschismus als totalitäre und mörderische Systeme zu "vergleichen" - was ja keineswegs bedeutet, sie "gleichzusetzen". Auch 60 Jahre nach den stalinistischen Schauprozessen gibt es sie noch, die Tabuwächter jener großen Menschheitsutopie, die um keinen Preis "angeschwärzt" werden darf. Ein Fortschritt ist immerhin zu verzeichnen: Als nach dem Zweiten Weltkrieg Arthur Koestlers antistalinistischer Schlüsselroman "Sonnenfinsternis" in Paris erschien, kauften die französischen Kommunisten alle greifbaren Exemplare auf und vernichteten sie. Das ist dem "Schwarzbuch" nicht widerfahren. Man reibt sich die Augen und glaubt es kaum:

      Das "Elend linker Immunisierungsversuche" - Die ideologiegetränkte Abwehr funktioniert, und die Verdrängung historischer Tatsachen kennt weder Zeit noch Grenzen

      Ob 1945, 1990 oder 1998 - die Abwehr funktioniert, die Verdrängung historischer Tatsachen kennt weder Zeit noch Grenzen. Mal direkt und brachial, mal wissenschaftlich drapiert, offen zynisch oder verdruckst - das Thema wirkt wie ein Katalysator aller ideologischen Reflexe seit den sechziger Jahren. Der Publizist Christian Semler, als einstiges SDS-Mitglied und führender Maoist der siebziger Jahre selbst eine historische Figur der Linken, diagnostizierte kürzlich treffend das "Elend linker Immunisierungsversuche". Alte Wunden brechen wieder auf, Verdrängtes kehrt zurück. Die Debatte in den Feuilletons, Veranstaltungssälen und intellektuellen Hinterzimmern der Republik ruft vor allem jene auf den Plan, die wesentliche Teile ihrer politischen Biographie bedroht sehen. Ihr seit 1989 bereits schwer ramponiertes Weltbild muß ebenso gerettet werden wie die identitäts- und sinnstiftende Existenz als unbeugsame Kritiker der westlich-kapitalistischen Gesellschaft. Dabei folgen sie der Logik projektiver Schuldzuweisung: Sie protestieren gegen die "Relativierung von Verbrechen" und betreiben sie selbst. Sie klagen strengste Sachlichkeit ein und stecken voller Ressentiments. Sie protestieren gegen die Verharmlosung von Auschwitz und mißbrauchen das einzigartig Schreckliche als billige Chiffre ihrer angeschlagenen Diskurshoheit - und als Instrument der Verharmlosung. Sie kritisieren den ideologischen Renegateneifer von Courtois und klammern sich selbst an ranzige ideologische Muster vergangener Zeiten. So tauchte der Schriftsteller Peter O. Chotjewitz plötzlich aus der Versenkung auf und attackierte im Feuilleton der "Zeit" die angebliche "Geschichtsklitterung vom Bolchicaust": Dieses Buch zähle auch jenen Eisenbahner zu den rund 80 Millionen Opfern des Kommunismus, der sich "auf der Baikal-Amur-Magistrale eine Grippe" zugezogen habe. Das Schwarzbuch sei ein "Autodafé der Glaubensreinigung", das der "Auslöschung" der kommunistischen Idee und der "Apotheose" des Kapitalismus diene. Der preisgekrönte Essayist Lothar Baier entledigte sich eine Woche später an gleicher Stelle der historischen Wahrheit über den sowjetischen Klassengenozid, indem er die traditionelle Lager-Frage linker Ideologen stellte: In welche - politische - Gesellschaft begibt sich der Leser dieses Werkes? Anhand einiger Sätze des Klappentextes und angreifbarer Zitatfetzen aus dem Vorwort von Courtois gelingt die gewünschte Antwort nach Hausmacherart: Natürlich begibt sich der Leser in die Nähe von Holocaust- Leugnern und Verharmlosern des Faschismus sowie unseriöser, aufs Medienspektakel versessener Geschäftemacher, die nicht einmal richtig aus dem französischen Original übersetzen können. Auftrag erfüllt, Gegner entlarvt, Thema erledigt. Noch kürzer macht es der Publizist Rudolf Walther: "Nolte läßt grüßen", ruft er aus und meint, damit alles gegen Courtois gesagt zu haben, dem er selbst "grobschlächtigen Reduktionismus" vorhält. Manfred Hildermeier, Historiker an der Universität Göttingen, repräsentiert dagegen jene Kritiker, die den Kern der auf fast tausend Seiten ausgebreiteten Tatsachen nicht bestreiten, aber die böse Absicht un terstellen, die es zu entlarven gelte - entscheidend sind hier nicht die Fakten, sondern "die Frage nach dem cui bono". Auch bei ihm zieht stets der Soupçon durch die Zeilen, hier solle der Linken endgültig der Prozeß gemacht werden nach dem Motto: Rot schlägt Braun - der Kommunismus war noch schlimmer als der Faschismus. Dieser Generalverdacht trübt Wahrnehmungen wie Argumentation: Wie andere moniert Hildermeier die schwankenden Zahlenangaben auf durchaus fragwürdiger Berechnungsgrundlage - mal sind es 80, mal 100 Millionen Tote - und kritisiert den Vergleich mit jenen 25 Millionen Opfern des Nationalsozialismus. Doch er selbst beteiligt sich an der unseligen Rechnerei, die nicht die geringste Erschütterung über die schiere Dimension des Schreckens erkennen läßt: "Es gibt gute Gründe, die ,mehr als sechs Millionen` Hungertoten der Jahre 1932/34 nicht nur um eine Million zu kürzen, sondern sie vor allem nicht in einer Reihe mit den Opfern des NKWD aufzulisten", formuliert der Historiker ganz akkurat und korrigiert fleißig noch andere Zahlen nach unten: "Statt 7 bis 8 Millionen Insassen von 53 Arbeitslagern und 425 Arbeitskolonien - lassen sich ,nur` rund 3,5 Millionen belegen und statt einer selten präzisierten, aber auf mehrere Millionen geschätzten Anzahl ,vorzeitiger` Todesfälle ,nur` 2,3 Millionen." Daß 2,3 Millionen Tote nicht "mehrere Millionen" Tote sind, mag dem unbefangenen Zeitgenossen neu sein, der sich gar nicht ausmalen möchte, welcher Sturm der Entrüstung losbräche, wenn irgend jemand solche Zahlenspiele mit den Opfern des Holocaust triebe. Doch genau dies gehört zum Diskurs der Abwehr und seiner langen Geschichte der ideologischen Einäugigkeit. Wie vor 30, 40 oder 50 Jahren orthodoxe Kommunisten, denen die letzte Phrase ausgegangen war, so verkündet noch heute Professor Hildermeier, wenn er nicht mehr weiter weiß, daß er sowieso schon alles weiß: "Dem Kenner sagt das meiste wenig Neues." Dabei hindert ihn, Ironie der Entlarvung, seine vernebelnde Semantik, den eigenen Klartext zu erkennen: Denn für die allermeisten wird sehr vieles überraschend neu sein - wenn sie es denn lesen wollen.

      Der Katechismus des linken Spießers pflegt die negative Utopie vom "Furor teutonicus"

      Schon auf der tumultuösen Berliner Veranstaltung warnte Wolfgang Wippermann, Historiker an der Freien Universität, vor den Folgen dieser Lektüre, die "eine ermüdende Reihung von Mordgeschichten" biete. Im "Neuen Deutschland" konzedierte er, daß "die Bilanz der Regime in der Sowjetunion, China, Kambodscha etc. zweifellos grausig" sei, doch müsse gefragt werden, "ob es sich hier wirklich um kommunistische bzw. sozialistische Systeme gehandelt hat". Nach einer kleinen, aber feinen Zitatfälschung, mit der er Courtois drei Buchstaben unterjubelt - als habe dieser von "nur" 25 Millionen Opfern der Nazis gesprochen -, kommt Wippermann zum eigentlichen Thema: Das Schwarzbuch betreibe die "Dämonisierung des Kommunismus" und erscheine zur "rechten Zeit", in der die "direkte und indirekte Relativierung des Holocaust durch Leugnung und vergleichende Verharmlosung schon weit verbreitet ist". Nun schon auf der Zielgeraden, durchstößt er die Lichtschranke zur letzten Erkenntnis, die mit dem schlichten Glaubenskatechismus des linken deutschen Spießers identisch ist: "Revisionismus ist gefährlich. Er bedroht unsere politische Kultur und stellt den mühsam errungenen Konsens in Frage, daß der Holocaust und nicht die Verbrechen des Kommunismus der Zivilisationsbruch in diesem Jahrhundert gewesen ist. An diesem Konsens sollten die Deutschen festhalten, weil es Deutsche waren, die für den Holocaust die Verantwortung trugen."
      Perfekte Tautologie, Ethno-Logik: Deutsche, weil es Deutsche waren.
      Hier wird gar nicht mehr versucht, wissenschaftliche oder politische Kritik zu üben. Es geht weder um Opfer noch um Täter, weder um Vergangenheit noch Zukunft, schon gar nicht um die Wirklichkeit. Es geht nur noch ums gekränkte intellektuelle Ich, um die allerletzte Schwundstufe der innerweltlichen Erlösungsreligion: die negative Utopie vom Furor teutonicus. Triumphal weisen die Gesellschaftskritiker von vorgestern im selbstgezimmerten Laufstall ihrer ideologischen Bornierung auf das einzige, was ihnen noch geblieben ist vom utopischen "Anspruch auf den ganzen Menschen" (Heinrich August Winkler). Es ist der deutsche Anspruch auf das richtige, auf das einzig richtige Weltverbrechen. Das ist die ganze Moral von der Geschichte.
      Avatar
      schrieb am 01.07.03 16:55:12
      Beitrag Nr. 134 ()
      Leider muß ich wieder an die "Veröffentlichungs-Arbeit", aber Ihr habt ja ein bißchen was zu lesen bis morgen.
      Keine Fragen sonst zu meinem Posting # 123 und meiner von "antigone" leider mißdeuteten Familiengeschichte oder dem Inhalt der folgenden Postings?
      Na dann vielleicht morgen,
      bis dann,
      Auryn
      Avatar
      schrieb am 02.07.03 21:56:15
      Beitrag Nr. 135 ()
      auryn
      dass du meinen namen immer in gänsebeinchen setzen musst, erinnert mich an die springerpresse der sechziger jahre, die die existenz der ddr trotz offensichtlichen vorhandenseins leugnete, indem sie so verfuhr. ahnlichkeiten zwischen deinen ergüssen und dieser art der berichterstattung sind natürlich rein zufällig. :laugh:

      deine familiengeschichte scheint derart prägend für deine politologischen einsichten gewesen zu sein, dass mir dazu der "berufsvertriebene" einfiel. der kann seinem schicksal einfach nicht entrinnen. dass der hitlersche faschismus und seine nutznießer auslöser für den zweiten weltkrieg waren und all die greuel in seinem gefolge, stört den berufsvertriebenen in der regel weniger.

      sein denken kreist ein für allemal um das unrecht, das ihm durch den kommunismus widerfuhr. der tellerrand der geschichte wird auf diese weise nicht mal sichtbar. die einsicht ist erwünscht.
      Avatar
      schrieb am 02.07.03 23:08:14
      Beitrag Nr. 136 ()
      um dich als "berufsvertriebenen", was die `aufstände` der letzten jahre anbelangt, auf den aktuellen stand zu bringen - eine kleine randnotiz. und dir sei in deiner verblendung versichert, es gab eine menge dieser art von aufständen, die nicht in osteuropa zu verorten sind.


      "Wie die Hölle"


      Irak. Nach dem Sturz des Saddam-Regimes schaffen die amerikanischen und britischen Truppen es nicht, das Chaos im Land unter Kontrolle zu bringen. Der Widerstand gegen die Besatzer wächst und nimmt zum Teil blutige Formen an.

      Das war kein kleiner Angriff. Das war ein Aufstand“, berichtet Ahmed Hassan, ein Augenzeuge der Ereignisse, die sich Dienstag vergangener Woche in Majar Al-Kabir, einer Stadt im Süden Iraks, abspielten und sechs britische Militärpolizisten das Leben kosteten. Was genau passiert ist, war bis Ende der Woche noch nicht klar. Sicher ist nur: Es war die bedeutendste Widerstandsaktion gegen die amerikanischen und britischen Besatzer, seit diese den Irak vor drei Monaten vom Saddam-Regime befreit hatten. Begonnen hat es scheinbar harmlos. Eine Routinepatrouille im Bazar der Stadt. Die Soldaten mit den roten Baretten werden mit lautem Schimpfen empfangen. Steine fliegen. Die Briten schießen in die Menge, zunächst mit Gummigeschossen, dann, als das Feuer erwidert wird, mit scharfer Munition. Eine regelrechte Schlacht entbrennt: „Die Leute feuerten auf die Soldaten von überall“, schildert Ahmed Fartosi, Mitglied einer internationalen Hilfsorganisation, „die Straße war wie die Hölle.“ Ein den britischen Rotkappen zu Hilfe kommender Helikopter bekommt einen Granattreffer ab. Zwei Militärfahrzeuge werden zu Schrott geschossen. Die Briten ziehen sich zurück. Vier Iraker bleiben in ihrem Blut liegen – nach einer anderen Version sind es mindestens sieben. Gleichzeitig aber belagert eine Menschenmenge, bewaffnet mit AK-47-Gewehren und Granatwerfern, die etwa 300 Meter vom Markt entfernte Polizeistation, wo sechs Mitglieder der British Royal Military Police neu rekrutierte irakische Polizisten einschulen. Als die Angreifer beginnen, das Gebäude zu stürmen, feuern die Briten zurück. „Die ganze Stadt war auf der Straße“, erzählt ein Augenzeuge.

      Nach einer Stunde geht den Briten die Munition aus: Die Menschenmenge dringt in die Polizeistation ein, und was dann passiert, ist umstritten: Werden die sechs Engländer beim Angriff erschossen, im Gebäude kaltblütig mit Genickschuss „hingerichtet“ oder schlicht vom Mob gelyncht? Was an den Ereignissen in Majar Al-Kabir schockiert, ist jedoch nicht so sehr die Brutalität und auch nicht die Anzahl der Toten – seit der offiziellen Beendigung des Krieges sind im Irak bereits etwa 70 Mitglieder der angloamerikanischen Truppen bewaffneten Aktionen zum Opfer gefallen. Viel bedenklicher erscheint der Ort des Geschehens.

      Heißes Pflaster
      Für die Besatzungsmächte galt bisher der von sunnitischen Moslems bewohnte Zentralirak als heißestes Pflaster. Im Kernland des ehemaligen Machthabers Saddam Hussein häuften sich die Anschläge auf die US-Streitkräfte, welche die Region kontrollieren und durch zum Teil brutales Vorgehen bei der Entwaffnung der Bevölkerung und bei Demonstrationen kollektiven Hass auf sich ziehen. Untergetauchte und versprengte Saddam-Hussein-Anhänger schlagen zu, mobilisieren und reorganisieren sich – so lautet die Version der Regierung von George W. Bush. Der schiitische Süden galt bisher als vergleichsweise stabil. Die britischen Befreier gingen behutsamer vor als ihre US-Kollegen weiter nördlich. Und besonders viele Saddam-Anhänger hat es unter den Schiiten nie gegeben. Die Funktionäre der Baath-Partei Saddams waren in Majar Al-Kabir, noch bevor die britischen Soldaten in die Stadt einzogen, von der einheimischen Bevölkerung verjagt worden: „Wir haben unsere Stadt selbst befreit“, sagt Talal Ahmed, ein Geschäftsmann und Sprecher der lokalen Polizei, „dazu haben wir die Ausländer nicht gebraucht. Wir brauchen sie auch jetzt nicht.“

      Der Widerstand im Land wächst zusehends. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht Militärfahrzeuge der Alliierten angegriffen, patrouillierende Soldaten beschossen oder Pipelines in die Luft gejagt werden. Und offenbar ist der Widerstand nicht nur ein Rückzugsgefecht von Saddam-Loyalisten, von versprengten „dead-enders“, wie US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sie abschätzig nennt. Gegen die Heckenschützen und Guerillaaktionen haben die US-Truppen in den vergangenen Wochen zwei groß angelegte Aktionen unter den Codenamen „Peninsula Strike“ und „Desert Scorpion“ lanciert, bei denen hunderte von Irakern festgenommen wurden, die mittlerweile mehrheitlich jedoch wieder in Freiheit sind. Und es kommt vor, dass die nervösen US-Soldaten in die Menge von Ex-Armee-Angehörigen schießen, die dagegen protestieren, keinen Sold zu bekommen.

      Gefeuert
      Solche Vorfälle schüren die Bitterkeit über das Besatzerregime nur. Selbst Adnan Pachachi, ein 80 Jahre alter ehemaliger Außenminister und einer der meistrespektierten Exil-Iraker, der von Teilen der US-Administration als kommender Mann gehandelt wird, beklagt die militärischen Überreaktionen der Amerikaner: „Die Anarchie wird sich weiter ausbreiten, solange nicht eine glaubwürdige irakische Regierung etabliert wird.“ Genau das jedoch will der Chef der neuen Zivilverwaltung nicht: Paul Bremer, der seit Mitte Mai, nach dem „Disaster“ („Newsweek“), das sein Vorgänger Jay Garner hinterlassen hatte, hinter dem schwer bewachten Palasttor im Zentrum Bagdads residiert. Der 61-jährige Bremer, Diplomat und Spezialist im Kampf gegen Aufständische, der bei seinem Antritt als „Sheriff mit Anzug und Krawatte“ gepriesen wurde, will Ordnung schaffen, bevor er die Iraker zum Zuge kommen lässt. Was und wen immer er installiert, wird mit dem Adjektiv „provisorisch“ oder „interim“ versehen. Kürzlich wurde lokalen Journalisten erklärt, was das bedeutet: Wenn etwa ein bestellter Bürgermeister oder Gouverneur sich als korrupt oder unfähig erweise oder eine belastende Vergangenheit habe, werde er gefeuert, was der offensichtlich überforderte Dolmetscher so übersetzte: „Dann werde auf ihn geschossen.“ Die Teilnehmer an der Pressekonferenz waren keineswegs irritiert. Aus ihrem Erfahrungshorizont heraus hielten sie es für normal, dass ein Beamter, der von oben „fallen gelassen“ wird, nicht nur seinen Job verliert. Mehrfach musste ihnen versichert werden, dass feuern in diesem Fall nicht erschießen heißt.

      Auch sonst ist der Aufbau einer Übergangsverwaltung mit größten Schwierigkeiten verbunden. Um zu verhindern, dass Saddam-Loyalisten wieder ans Ruder kommen, muss jeder, der in der neuen Administration unterkommen will, ein Papier unterschreiben, in dem er versichert, kein Mitglied der aufgelösten Baath-Partei gewesen zu sein. Nun gibt es einerseits kaum einen Beamten, Polizisten oder sonst einen fähigen Verwalter, der nicht in irgendeiner Weise mit der einst allein und total herrschenden Partei verbunden gewesen wäre. Zum andern werden auch düstere Erinnerungen geweckt: Unter Saddam Hussein mussten Irakis, die einen Staatsposten wollten, ebenfalls ein Papier unterschreiben, um ihre Treue zur Baath-Partei zu schwören. Damit bestätigten sie, keiner anderen Partei, nicht einer kurdischen Gruppierung oder einer schiitischen Organisation anzugehören. Wurde der Betreffende für schuldig befunden, einen falschen Schwur geleistet zu haben, wurde er hingerichtet.

      Seit Kriegsende sind die westlichen Medien der Frage nachgegangen, ob die Bush-Administration und die Blair-Regierung den Krieg mit der unwahren Behauptung, Saddam verfüge über Massenvernichtungswaffen, angezettelt haben. Seit einigen Tagen freilich häufen sich Kommentare mit einem andern Tenor: Die Koalition hat den Krieg zwar brillant gewonnen, nun droht sie den Frieden zu verlieren. Und zwar aus eigenem Verschulden. „Das Pentagon zog in den Krieg in der Annahme“, schreibt etwa Thomas L. Friedman in der „New York Times“, „dass man die irakische Armee, Bürokratie und Polizei köpfen, die Saddam-Loyalisten an der Spitze entfernen könnte“ und dann mit dem so gesäuberten Staatsapparat das Land regieren werde. Das habe sich, so Friedman, als Irrtum erwiesen: „Alles kollabierte und hinterließ ein Sicherheits- und Verwaltungsvakuum, das zu füllen die US-Armee nicht vorbereitet war.“ Tatsächlich klagen auch schon die amerikanischen Soldaten und Offiziere vor Ort immer öfter, dass sie zu wenige seien, um die Sicherheit gewährleisten zu können, dass sie nicht als Polizisten ausgebildet seien, geschweige denn als Administratoren, die fähig wären, den Nachkriegs-Irak zu strukturieren – und dass der notwendige Nachschub an Truppen und auch zivilem Personal fehle. So wird die Situation im Land immer instabiler und chaotischer.

      Hoffnungsschimmer
      Düstere Perspektiven. Einen schwachen Hoffnungsschimmer bietet allenfalls die erste Meinungsumfrage, die nach dem Fall Saddams im Irak durchgeführt wurde. Zwar erteilen die 1200 befragten Einwohner Bagdads aller Volksgruppen und Glaubensrichtungen den Besatzungstruppen die schlechtesten Noten, wenn es um die Sicherheit im Land, den Wiederaufbau und die Wirtschaft geht, und nur sechs Prozent der Menschen glauben, dass die Amerikaner zum Wohl des Irak im Lande sind. Trotzdem will die Hälfte, dass die ausländischen Soldaten bis zur Bildung einer ständigen irakischen Regierung im Land bleiben; bis zur Bildung einer Übergangsregierung, sagen 25 Prozent. Nur 17 Prozent forderten einen sofortigen Abzug. Auch Yitzhak Nakash, Irak-Spezialist der Brandeis-University, durchbricht die pessimistische Irak-Grundstimmung, wenn er darauf hinweist, dass der schiitische Klerus bisher noch nicht gegen die angloamerikanischen Truppen mobilisiert: „Keiner der religiösen Führer hat bislang eine Fatwah gegen die US-Truppen ausgesprochen.“ Und die wichtigsten Würdenträger der Schiiten – die immerhin 60 Prozent der irakischen Bevölkerung ausmachen – rufen dazu auf, von bewaffnetem Widerstand gegen die Besatzer abzusehen. Die erwähnte Umfrage wurde freilich schon vor fast einem Monat gemacht. Seit den blutigen Ereignissen von Majar Al-Kabir haben sich die führenden schiitischen Ajatollahs noch nicht gemeldet.

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      schrieb am 03.07.03 09:57:55
      Beitrag Nr. 137 ()
      Aggression der Supermacht USA
      gegen Europa

      Einleitung von Alexandre Del Valle* zu seinem Essay «Kriege gegen Europa» (Teil I) 4.1.2001

      Der Titel des vorliegenden Buches** kann polemisch wirken, geschrieben aus der Opferperspektive oder sogar aggressiv. Dieses Essay ist aber weit davon entfernt, parteiisch zu sein, noch gründet es in einem leidenschaftlichen Antiamerikanismus, welcher für gewisse intellektuelle und politische Kreise Frankreichs typisch ist. Die Bilanz, die wir aus der echten Aggression der Supermacht Amerika gegen Europa ziehen - unter anderem im Zusammenhang mit dem kürzlich erfolgten Krieg der Nato gegen Serbien und Ex-Jugoslawien - will die Spannungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten nicht etwa verschärfen, da beide ursprünglich der gleichen Kultur entstammen und ihre Schicksale seit der Kolonisation Amerikas durch die Europäer bis heute eng verbunden sind.

      Wir sind weit davon entfernt, ein ganzes Volk zu beschuldigen oder zu verurteilen - das übrigens sehr heterogen, isolationistisch gesinnt und kaum an internationaler Politik interessiert ist. Vielmehr geht es uns darum aufzuzeigen, dass die führende Klasse Amerikas - hohe politische Verantwortliche, Industrielle, Finanziers, Strategen, professionelle Berater und sogar Vertreter des Showbusiness - vor allem seit Ende des kalten Krieges von einem extremen Machtwillen geprägt ist. Dieser ist eine Form von imperialistischem Nationalismus, möglicherweise ebenso entstanden aus dem struggle for life, aus der puritanischen Heiligsprechung des materiellen Erfolges, wie aus den Interessen und den wirtschaftlichen Erfolgen der Neuen Welt in den letzten Jahren.

      Das führt die Regierung der Vereinigten Staaten dazu, eine Strategie der globalen Hegemonie zu entwickeln. Wir haben es de facto mit einer Nation zu tun, die ihr Überleben und ihr Fortbestehen in der totalen Beherrschung der Welt sieht, was die amerikanischen Strategen schamhaft global leadership nennen.

      Konkurrierender Gegner

      Ist es anti-germanisch, anti-slawisch oder anti-französisch, wenn man konstatiert, dass französische, deutsche, slawisch-russische Eliten einst mit Hilfe des Bonapartismus, des Nationalsozialismus oder des sowjetischen Kommunismus ihre globale Hegemonie unter Inkaufnahme schrecklicher menschlicher Dramen bewusst ausgedacht und organisiert haben? Ist es eine Majestätsbeleidigung gegenüber den betroffenen Völkern, wenn man die klassischen Strategien des divide et impera, den Zynismus und den erbarmungslosen und inhumanen Charakter totalitärer oder diktatorischer Regime beschreibt, die seit dem Ende des 18.Jahrhunderts aufeinander gefolgt sind - Vorgehensweisen, die übrigens jeder Hegemonialpolitik innewohnen? Hindert etwa der intellektuelle Konformismus des politisch Korrekten die Forscher daran, die Formen des «amerikanischen Imperialismus» objektiv zu untersuchen?


      Dieser ist in seiner Art totalitär - weniger brutal zwar als der Nazismus oder der Kommunismus, aber auch extrem gewalttätig, wie man seit Beginn der 90er Jahre beobachten kann. Washington versteckt aber; und das ist nachvollziehbar - die Zwangsmassnahmen seines globalen Hegemoniestrebens hinter der universellen Moral der Menschenrechte, den «westlichen Werten», dem humanitären «Recht auf Einmischung» oder sogar dem neuem Konzept des «humanitären Krieges».

      Befreit diese Tatsache die Beobachter davon, den unilateralen, gewalttätigen, für die ganze Welt destabilisierenden und immer antidemokratischeren Charakter der amerikanischen Aussenpolitik festzuhalten?

      Wie man feststellen kann, sind die Lehren unserer Vorfahren weit davon entfernt, überholt zu sein, und die Kunst der Rhetorik als Macht- und Kriegsinstrument ist aktueller denn je.

      Wie wir in diesem Essay zeigen werden, zielt die Aussenpolitik der Vereinigten Staaten hauptsächlich darauf, die amerikanische Hegemonie, seit dem Ende des kalten Krieges ohne Rivalen, aufrechtzuerhalten und das Aufkommen geo-ökonomischer Konkurrenten, hauptsächlich in Asien und in Westeuropa, zu verhindern. Die US-Aussenpolitik wendet sich somit zum grossen Teil gegen die Interessen der europäischen Nationen. Obwohl die Politik darin besteht, Freund und Feind zu bestimmen, wie es der Politologe Julien Freund festhielt, und die Strategie die Aufgabe hat, die durch die Politiker vorgegebenen Ziele umzusetzen, ist es notwendig, zunächst die Feindschaften und die Bedrohungen zu hierarchisieren, denn in der internationalen Politik wie auch in den Militärwissenschaften war es schon immer gefährlich, ja verhängnisvoll, an zwei Fronten gleichzeitig zu kämpfen.

      Wir definieren also Amerika nicht als existentiellen Feind der Europäer, sondern als konkurrierenden Gegner innerhalb des westlich-europäischen Raumes. Ein oft gefährlicher Gegner, entschlossen, alle Mittel anzuwenden, um seine Ziele zu erreichen und das alte Europa daran zu hindern, sich von seiner leadership zu befreien, der aber, ob man es will oder nicht, ein Zweig der europäischen Zivilisation ist, ihr «westlicher mutierender Ast». Der existentielle Feind oder eher die hauptsächliche «geo-zivilisatorische» Bedrohung, um Huntington zu paraphrasieren - noch nicht!!!! verkörpert durch einen bestimmten Feind - ist unbestreitbar repräsentiert durch den theokratischen Totalitarismus, den der Islamismus darstellt, vertreten durch mehrere Regime der moslemischen Welt, ungeachtet ihrer Unterteilung: Saudi-Arabien, Pakistan, Sudan, Afghanistan, Iran, Tschetschenien (vor dem letzten russisch-tschetschenischen Krieg) usw., einige von ihnen sind jetzt schon im Besitz von Atomwaffen - oder kurz davor, sie zu besitzen; darüber hinaus profitieren sie vom finanziellen Manna des Erdöls.

      Diese fundamentale Bedrohung der Werte, der kollektiven Sicherheit, der Souveränität und sogar des Überlebens der europäischen Staaten, die gleichzeitig vom Erdöl der Golfstaaten abhängig und durch die unkontrollierte aussereuropäische Immigration und den islamischen Terrorismus sozial erschüttert sind, ist umfassend und existentiell, sie ist viel älter als unsere moderne Zeit, aber aktueller denn je, da sie durch die Globalisierung ihre Mittel und Wirkungsfelder erweitern kann. Man kann also diese fundamentale Bedrohung nicht auf die gleiche Stufe stellen wie die amerikanische Gegnerschaft, die in einem gewissen Sinne intern ist, zur europäisch-westlichen Zivilisation gehörend, also endogen.


      Islamismus instrumentalisiert durch die USA

      Wie eine zunehmende Zahl von amerikanischen Verantwortlichen und Intellektuellen, die sich dieser fundamentalen Bedrohung für Europa und den Westen bewusst sind, verlangen, müssten die drei grossen Komponenten der europäischen Zivilisation - Amerika (dessen Kern die USA bilden), Westeuropa mit der Europäischen Union und das slawisch-orthodoxe Europa, dessen strategisches Herz Russland ist -, die verschieden stark kollektiv bedroht sind, idealerweise sich mehr einig sein als je zuvor angesichts der Bedrohung aus dem Süden. Dies wird angeheizt durch die rachsüchtige Fahne des Islamismus, bereit, gegen Europa zu kämpfen, dem nie vergeben werden wird, den Dar-al-Islam kolonisiert zu haben. In den USA gehen sogar einige aufmerksame Beobachter so weit zu sagen, dass ihr Land sich an die Spitze einer grossen westlich-europäischen Koalition stellen müsste, um der Bedrohung durch den islamischen Süden zu begegnen.

      Ungeachtet der Tatsache, dass die ehemaligen islamistischen Verbündeten der Amerikaner - wie Oussama Ben Laden, ägyptische Fundamentalisten oder die Taliban - dem «grossen Satan» den Krieg erklärt haben, beharren die amerikanischen Administrationen darauf, die gefährliche pro-islamische Strategie zu verfolgen, die während des kalten Krieges von der CIA, dem Pentagon und dem State Departement entwickelt worden war, mit dem Ziel, Sowjetrussland zu schwächen, was einige der grössten amerikanischen Spezialisten strategischer Probleme wie Samuel Huntington, Henri Kissinger oder auch Yossef Bodansky bedauern. Trotz des wachsenden Anti-Amerikanismus der Islamisten und in der arabisch-moslemischen Welt im allgemeinen fahren die amerikanischen Strategen damit fort, überall in der Welt die «Fanatiker Allahs» zu instrumentalisieren mit dem Ziel, Russland, China und sogar Indien einzukreisen, vor allem aus wirtschaftlichen und geo-strategischen Gründen, die wir in der Folge darlegen werden.

      In der Tat verhält sich der amerikanische «Alliierte» angesichts der globalen Bedrohung, die der Islamismus darstellt, nicht immer als solidarisches Mitglied der westlichen Zivilisation. Ganz im Gegenteil, die führenden Leute der Vereinigten Staaten von Amerika haben «mit der westlichen zivilisatorischen Einheit gebrochen», wie es Professor Samuel Huntington beschrieben hat, indem sie sich auf die Seite der Türkei, von Saudi-Arabien oder der islamischen Republiken der Ex-UdSSR gestellt haben, gegen Russland und somit indirekterweise auch gegen die Europäische Union, indem sie systematisch den antidemokratischen und chaotischen islamischen Einheiten (Afghanistan, Kuwait, Bosnien, Kosovo) auf Kosten der anti-islamistischen Pole (Irak, Russland, Ex-Jugoslawien) zu Hilfe eilen.

      Solange die amerikanische Aussenpolitik ihren anti-orthodoxen und pro-islamistischen Kurs, der für die Gesamtheit der europäischen und westlichen Gesellschaften äusserst schädlich ist, nicht korrigieren wird, können die Europäer die Nato legitimerweise als ein oberflächliches multilaterales Verteidigungsbündnis betrachten, das einzig im Dienste von kurz- oder mittelfristigen amerikanischen geo-ökonomischen Interessen handelt und das somit unfähig ist, die europäischen Nationen zu verteidigen. Wie man sich aufgrund des Kosovo-Krieges bewusst werden konnte, welcher der Nato die Gelegenheit gab, ihre wahre unilaterale Natur zu enthüllen und die Grundlagen des internationalen Rechts mit Füssen zu treten, indem sie die legalen Institutionen (Uno) umging, ist sie nichts anderes als der wichtigste Teil einer amerikanischen Strategie der «globalen Hegemonie», welche die Schaffung von Krisenherden und die Vermehrung von Konflikten mittlerer Intensität überall in der Welt, wo sie ihre Ausbreitung rechtfertigen will, erforderlich macht.


      http://www.zeit-fragen.ch/ARCHIV/THEMEN/INDEX.HTM
      Avatar
      schrieb am 03.07.03 10:25:38
      Beitrag Nr. 138 ()
      Divide et impera

      USA verhängen Sanktionen über 35 Staaten

      Die Festnahme des ehemaligen Obersts der jugoslawischen Volksarmee, Veselin Sljivancanin, durch die serbische Antiterrorpolizei und dessen jetzige Überstellung an das Den Haager Tribunal folgte einer strengen Dienstanordnung aus Übersee. Bei ihrer Nichtbefolgung wäre Belgrad Finanzhilfe gestrichen worden. Bereits eingestellt wurde die Militärhilfe an Serbien-Montenegro. Aber nicht deshalb, weil die serbische Führung sich geweigert hätte, mutmaßliche Kriegsverbrecher auszuliefern, sondern weil sie im Gegenteil bisher noch nicht bereit war, mutmaßlichen Kriegsverbrechern, sollte es sich um Amerikaner handeln, Immunität zu gewähren und dies in einem bilateralen Abkommen mit den USA zu fixieren.

      Das konnten selbst die absolut US-hörigen Belgrader Behörden – noch – nicht über sich bringen: für die eigenen Bürger eine Dauerflugverbindung nach Den Haag einzurichten und gleichzeitig US-Bürger vor dem Zugriff der internationalen Strafjustiz zu bewahren; genau die Sorte von US-Bürgern, die aus der Luft über Monate Kriegsverbrechen an der jugoslawischen Zivilbevölkerung begangen haben. Es besteht kaum ein Zweifel daran, daß sich die Regierung Serbien-Montenegros auch diese Zumutung bieten lassen wird. Sie hat sich bislang geziert, um eine Eruption des nationalen Unmuts zu vermeiden. Die nächste Frist wird sie nicht mehr verstreichen lassen.

      Insgesamt sind es 35 Staaten, die für ihre Weigerung, mit dem IStG zu kooperieren, mit militärischem Liebesentzug bestraft wurden. Die US-Sanktionen werden ihre Wirkung kaum verfehlen, die Gruppe der 50 Länder, die den USA bereits das Recht zur alleinigen Rechtsprechung vertraglich eingeräumt haben, wird schnell anwachsen. Das auf das Staatenkollektiv bezogene Völkerrecht erodiert.

      Ein historisch gewachsenes System internationaler Beziehungen, das zumindest den Anspruch auf kollektive Sicherheit verfolgte, löst sich in seine Bestandteile auf, wird ersetzt durch ein System von Einzelbeziehungen, die von den USA mit dem Rest der Welt unterhalten werden. Noch nie ist der imperialistische Grundsatz des Divide et impera auf so drastische und umfassende Weise umgesetzt worden wie gegenwärtig von den USA.



      All in the name of war against terror?


      Cui bono?

      Die Privatisierung des Völkerrechts, die Nationalisierung der internationalen Sphäre durch die hegemoniale Nation ist nicht über Nacht erfolgt. Sie ist der konzentrierte Ausdruck einer seit dem Ende der Sowjetunion entstandenen Weltordnung, in der die Einteilung in Staaten, die zur Intervention kraft eigenen Gesetzes ermächtigt sind, und in solche, die zur Intervention freigegeben werden, als selbstverständlich vorausgesetzt wird.
      Avatar
      schrieb am 04.07.03 09:11:23
      Beitrag Nr. 139 ()
      #134 Auryn,

      ich schrieb eine Antwort auf deine Frage, aber sie verschwand während des Übergangs zur "Vorschau Ihres Postings" - war wohl bei den Herrschaften von W: O unbeliebt.

      Ich schreibe jetzt noch einmal den 2. Teil meines Postings:
      Würdest du rückblickend sagen können, daß das eventuell erzwungene Verlassen der Heimat in Richtung "Westen" (Gänsefüßchen von dir übernommen) für einige das Aufwachsen in "Freiheit" (Gänsefüßchen von mir) und relativem Wohlstand bedeutete, daß also der üble Auslöser unbeabsichtigt Gutes bewirkt hat? - Die brauchst diese Frage nicht zu beantworten, ein JA könnte hier als Rechtfertigung von Gewalt bzw., um beim Thema zu bleiben, Totalitarismus, mißdeutet werden.
      Avatar
      schrieb am 04.07.03 09:17:23
      Beitrag Nr. 140 ()
      #126

      Habe ich was falsch verstanden? Auf alle Fälle folgende Info:

      <Biografie

      Michail Sergejewitsch Gorbatschow wurde am 2. März 1931 in Priwolnoje, Stawropol, geboren.

      Nach Abschluss der Schule mit Abitur studierte Gorbatschow von 1950 bis 1955 Jura in Stawropol.

      1952 trat er in die KPdSU ein und heiratete 1956 Raissa Maksimowna. 1962 wurde Gorbatschow zum Abteilungsleiter des Gebietskomitees der KPdSU ernannt. Dieses Amt bekleidete er bis 1966.

      Im Anschluss daran war er bis 1968 als Parteichef der KPdSU in Stawropol tätig. 1971 wurde der Funktionär Mitglied im ZK der KPdSU in Moskau und 1980 Mitglied des Politbüros.

      Hier erwarb sich Gorbatschow so große politische Verdienste, dass er im März 1985 zum Generalsekretär der KPdSU ernannt wurde. Nach dem einseitigen Moratorium für Atomtests traf er erstmals im Dezember 1985 zu Gesprächen mit US-Präsident Ronald Reagan in Genf zusammen.

      Im Oktober 1986 scheiterten allerdings die Gespräche bei der Gipfelkonferenz zum SDI-Projekt durch Reagan in Reykjavìk. Nachdem gegen Jahresende 1987 in Washington das INF-Abkommen unterzeichnet worden war, begann die DDR im Februar 1988 mit dem Abbau der Mittelstreckenraketen.

      Zwei Monate später beschloss man im Rahmen des Afghanistan-Abkommens den Abzug der sowjetischen Truppen aus dem seit 1979 besetzten Land. Dies wurde in Afghanistan als Sieg des Jihad-Führers Osama bin Laden gewertet.

      Im Mai 1989 besuchte Gorbatschow in seiner Funktion als sowjetischer Staatschef Peking. Dies war die erste freundschaftliche Begegnung beider Staaten seit 30 Jahren.

      In Moskau wurde er am 25. Mai 1989 zum ersten Staatspräsidenten der UdSSR gewählt.

      Im Oktober 1989 besuchte Gorbatschow zum 40jährigen Jubiläum der DDR Erich Honecker. In der DDR wurde der sowjetische Staatspräsident von der Bevölkerung allgemein als Hoffnungsträger für Staatsreformen begrüßt.

      Am 10. November 1989 geschah das Unglaubliche: die innerdeutschen Grenzen öffneten sich. Am 10. Februar 1990 stimmte Gorbatschow der Deutschen Einheit zu.

      Unter Einfluss Gorbatschows fiel auch Anfang August desselben Jahres die Entscheidung zur Einführung von Presse- und Religionsfreiheit in der UdSSR.

      Am 12. September 1990 traf sich Gorbatschow mit Helmut Kohl zur Unterzeichnung des Zwei-Plus-Vier-Vertrages über die Deutsche Einheit in Moskau.

      Schließlich folgte im Oktober 1990 die Einführung der Marktwirtschaft in der UdSSR. Am 19. Dezember 1990 beendete die Unterzeichnung der KSZE-Charta in Paris offiziell den Kalten Krieg.

      Für seinen innenpolitischen Einsatz in der UdSSR sowie für sein Engagement zur weltweiten Friedenssicherung wurde Gorbatschow am 10. Dezember 1990 in Oslo mit dem Friedensnobelpreis bedacht.

      In Moskau wurde am 31. März 1991 offiziell die Auflösung des Warschauer Paktes bekannt gegeben. Am 31. Juli traf US Präsident George Bush zur Unterzeichnung des START-Vertrages mit Gorbatschow in Moskau zusammen.

      Obwohl der kommunistische Putschversuch gegen Gorbatschow in Moskau am 19. August 1991 scheiterte, führte er dennoch einen erheblichen Machtverlust des Staatsmannes herbei, der am 24. August 1991 von seinem Amt als Generalsekretär der KPdSU zurücktrat.

      Am 25. Dezember 1991 legte Gorbatschow auch das Amt des Staatspräsidenten nieder, das von seinem Nachfolger Boris Jelzinübernommen wurde.

      Gorbatschow zog sich fortan ins Privatleben zurück, beteiligte sich jedoch auch weiterhin am öffentlichen Leben seines Landes.

      Einen schweren Schicksalsschlag erlitt Michail Gorbatschow durch den Tod seiner Frau am 20. September 1999. Raissa Gorbatschow, die an Blutkrebs erkrankt war, hatte die Karriere des Staatsmannes im Hintergrund maßgeblich unterstützt.


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      Avatar
      schrieb am 04.07.03 09:26:13
      Beitrag Nr. 141 ()
      Trotz offensichtlicher Zensur durch W: O habe ich noch eine Frage: Ist die Geschichte deiner Familie typisch oder atypisch für den Personenkreis, aus dem du stammst?
      Avatar
      schrieb am 04.07.03 15:57:56
      Beitrag Nr. 142 ()
      ... und bitte keine Vorwürfe, weil ich doch eigentlich streike (Thread im Sofa) ... im Augenblick chatte ich "schwarz". :D
      Avatar
      schrieb am 04.07.03 18:23:45
      Beitrag Nr. 143 ()
      Liebste "antigone"
      (ich schreibe übrigens auch andere Gesprächspartner wie z.B. "for4zim" häufig in Gänsefüßchen, um sie aus dem üblichen Text hervorzuheben, wenn ich mehreren gleichzeitig antworte, aber wenn Du nicht mehr hervorgehoben werden willst, antigone, dann folge ich natürlich Deinem geschätzten Wunsch),

      leider ist es ja wohl so, daß Du in der Zeit unserer virtuellen Bekanntschaft grundsätzlich immer meinen Fragen ausgewichen bist oder sie grundsätzlich falsch verstehen willst.
      Zum einen habe ich nie behauptet, wie Du einmal mehr in Posting # 135 - vermutlich böswillig - unterstellst, daß der Massenmörder Hitler am Zweiten Weltkrieg nicht schuld wäre. Entweder Du liest nur noch heraus, was Du zu lesen glaubst, oder Dein Haß auf mich ist so grenzenlos, daß Du einfach etwas erfindest. Findest Du nicht, daß Deine Behauptungen langsam in Richtung einer bewußten "Verleumdung" abdriften?

      Wenn ich sage, daß Stalin bereits in den 20er und 30er Jahren Millionen Menschen in Lager sperren und ermorden ließ, wo bestreite ich dann die Verantwortung Hitlers für den Zweiten Weltkrieg oder für die historische Einzigartigkeit der deutschen Nazi-Verbrechen?

      Es wäre doch schön von Dir, "antigone", wenn Du in Deiner einfach grandiosen Verblendung im Gegenzug auch nur ein einziges Mal zu den Verbrechen des "kommunistischen Totalitarismus" Stellung genommen hätte. Ich kann mich nämlich nicht erinnern, von Dir jemals eine kritische Zeile zu Stalin oder dem GULag-System gelesen zu haben. Ist der Mann für Dich schlicht "der Größte" gewesen, oder darfst Du seine Verbrechen nicht kommentieren, weil das Deine Ansicht relativieren könnte, daß die "US-Amerikaner" die größten "Verbrecher" der Menschheitsgeschichte sind?
      (In gewisser Art und Weise erreicht Dein Humor zusammen mit Deinen frei erfundenen Beschuldigungen und Deiner Lieblingsbezeichnung "Berufsvertriebener" für mich übrigens geradezu "Berlusconische" Qualitäten. Möchtest Du mich nicht auch gleich für eine Hauptrolle in einem KZ-Streifen vorschlagen? Das würde zu Deinem grandiosen Humor doch hervorragend passen, nicht wahr? Als Du das letzte Mal eine meiner Fragen zu Lumumba nicht beantworten wolltest, ohne Dir selbst zu widersprechen, hast Du ja freundlicherweise Thread 647066 für mich eingerichtet. Was steht denn als nächstes für mich auf dem Programm, um Deinen haß auf mich zu befriedigen? Ein bißchen Stacheldraht plus Minenfeld um diesen Thread herum, damit ich ja nicht herauskann und Du weiter die Unwahrheit über mich verbreiten kannst?)
      So beispielsweise in Deinem Posting # 136, als Du wie üblich Aufstände zitieren möchtest, die nicht in Europa stattgefunden haben und mich weiterhin gerne als "Berufsvertriebenen" bezeichnest.
      Daher wiederhole ich für Dich gerne nochmal meine Fragen, denen Du bisher weiter standhaft ausgewichen bist:
      Ich hätte nach wie vor gerne von Dir und meinen anderen Kontrahenten hier die Frage beantwortet, warum in den letzten 50 Jahren in Europa die politischen Aufstände mit Tausenden von Toten immer nur in Osteuropa stattgefunden haben,

      warum Osteuropa geradezu übersät ist von Gedenksteinen für die Opfer des Totalitarismus und

      warum seit 1945 Millionen von Menschen ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um in ein von den USA so "despotisch" geführtes System zu flüchten wie das der Bundesrepublik Deutschland, Großbritanniens, Frankreichs oder auch dieser schrecklich "faschistischen USA" selbst.


      Warum also?

      Wieso verhungern in Nord-Korea die Menschen und nicht im - von so schrecklicher Unterdrückung geprägten - "Westen"?
      Avatar
      schrieb am 04.07.03 18:37:37
      Beitrag Nr. 144 ()
      @ Mirabellchen,
      Zu Deinen Fragen aus Posting # 136:
      Ich schreibe jetzt noch einmal den 2. Teil meines Postings:
      Würdest du rückblickend sagen können, daß das eventuell erzwungene Verlassen der Heimat in Richtung "Westen" (Gänsefüßchen von dir übernommen) für einige das Aufwachsen in "Freiheit" (Gänsefüßchen von mir) und relativem Wohlstand bedeutete, daß also der üble Auslöser unbeabsichtigt Gutes bewirkt hat?


      Du müßtest "Zwang" genauer definieren. Man wurde niemals "hinausgeprügelt" wie vielleicht in anderen Ländern. Man wurde auch nicht direkt dazu aufgefordert, aber jeder Deutsche war bis in die 70er Jahre hinein für die kommunistischen Beamten automatisch ein "Hitlerist", besonders wenn er es wagte, sich über irgendeinen Mißstand an der Arbeitsstelle oder irgendwelche Gesetze oder Dekrete zu beklagen. Ab den 70er Jahren kam für meine restliche Familie in Rumänien zusätzlich noch die katastrophale Versorgungslage mit sporadischen Hungerwochen dazu und schließlich ab Mitte der 80er Jahre sogar die Wiedereinführung von Lebensmitteln- und Rationierungskarten wie in Deutschland im Zweiten Weltkrieg - eben genau so, wie es der Artikel aus dem Spiegel weiter unten beschreibt.
      Mir ist allerdings der Sinn Deiner Frage nicht ganz klar geworden im Hinblick auf "das Gute". Ja, sicher, ist es für mich und meine Familie seit den 60ern ein vielfach besseres Leben gewesen als in einer Diktatur, aber die Rumänen selbst und ein "assimilierter Teil" meiner Familie hatten normalerweise nie die Möglichkeit zur Ausreise, falls sie nicht gerade mit Sprühflugzeugen der Agro-Komplexe nach Griechenland oder Jugoslawien geflüchtet waren.

      - Die brauchst diese Frage nicht zu beantworten, ein JA könnte hier als Rechtfertigung von Gewalt bzw., um beim Thema zu bleiben, Totalitarismus, mißdeutet werden.
      Och, da ich hier für Kontrahenten wie "antigone" vermutlich bereits der "katholisch-liberal-antikommunistisch-evangelisch-faschistisch-kosmopolitische Nazi-Jude" bin, macht mir das auch nicht mehr so viel aus.
      Im Prinzip also JA !
      Avatar
      schrieb am 04.07.03 18:47:19
      Beitrag Nr. 145 ()
      Oh, Verzeihung, "Mirabellchen"! Ich meinte natürlich Posting # 139, nicht Posting # 136.

      Zu Deiner Frage aus Posting # 140:
      Nein, was solltest Du falsch verstanden haben?
      Gorbatschow bekleidete 1986 beim Erscheinen des besagten SPIEGEL-Artikels noch eben jenes Amt und Deine biographische Übersicht ist doch übereinstimmend, oder habe ich etwas übersehen?

      Zur Frage nach der "Typisierung". Ja, für den Familienteil aus der Bukowina, der erst in den 60er Jahren nach Deutschland kam, ist meine Haltung typisch.
      Es gibt allerdings einen Teil, der in der Wehrmacht im Westen "diente" und das Glück hatte, 1945 gleich im Ruhrgebiet Arbeit zu finden und dort Familien zu gründen. Deren Kinder aus dem sich ergebenden "Inter-Generationen-Konflikt" wählten zum grenzenlosen Entsetzen des "deutschrumänischen" Teils der Familie nach 1970 doch tatsächlich Parteien mit einem so ekligen "K" in der Abkürzung, was dazu führte, daß sich bei Familientreffen wie z.B. Beerdigungen in meiner Familie schnell eine Stimmung entwickelt, auf die die heutigen Enkel so reagieren, daß sie sich bei überraschenden Anrufen in solche Treffen hinein mit dem Spruch melden: "Entschuldigen Sie bitte den Lärm hier, aber hier ist Zirkus Aljoscha"!
      ;)
      Avatar
      schrieb am 04.07.03 19:14:31
      Beitrag Nr. 146 ()
      auryn.
      ganz einfach.
      mich interessiert die gegenwart mehr als die vergangenheit.
      Avatar
      schrieb am 04.07.03 19:15:28
      Beitrag Nr. 147 ()
      Ah, das hätte ich doch beinahe wieder vergessen:
      Da sage noch einer, meine Threads wären mit ihren historischen Hintergründen "nicht aktuell" für die behandelten Länder.
      Vorgestern erst, am 2. Juli 2003 haben die Staatsoberhäupter von Rußland (Putin) und Rumänien (Iliescu[, immer noch]) nämlich den ersten gemeinsamen "Freundschaftsvertrag" unterzeichnet, der die bis zu Gorbatschow geleugnete Existenz des Geheimen Zusatzprotokolls vom 23.08.1939 aus dem Hitler-Stalin-Pakt (bzw. dem Molotow-Ribbentrop-Abkommen) anerkennt, das damals Osteuropa zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion aufteilen sollte.
      Dieses wird nun erstmals auch von Rußland gegenüber Rumänien als "Unrecht" bewertet und völkerrechtlich für "null und nichtig" erklärt.

      Im Gegenzug erhebt Rumänien keinen juristisch-völkerrechtlichen Gebietsanspruch mehr auf die damals von Hitler und Stalin dem Sowjetischen Staatsgebiet zugeteilten ehemals rumänischen Territorien der Nord-Bukowina und Bessarabien (heute: Moldawien)
      http://www.rferl.org/nca/features/2003/05/06052003153923.asp
      Die National-Chauvinisten in Rumänien werden trotzdem mit Sicherheit von einem "schlechten Geschäft" für Rumänien sprechen.
      Avatar
      schrieb am 04.07.03 19:25:23
      Beitrag Nr. 148 ()
      Ad Posting # 146:
      Es wäre schön, wenn Du unter Berücksichtigung von Posting # 147 zur Kenntnis nehmen könntest, daß aufgrund der Geschichte der kommunistisch-totalitären Systeme Osteuropas dort immer noch ganz andere Dinge als "aktuelle Gegenwart" betrachtet werden als in Westeuropa.
      Du wirst es vermutlich nicht glauben, aber selbst mir kommen manche "politische Situationen" in Osteuropa zu "unkritisch" gegenüber den USA vor, z.B. daß ausgerechnet Rumänien das allererste Land sein mußte, das den USA vertraglich zugesichert hat, niemals-niemals-niemals einen US-Soldaten an diesen bösen, bösen Internationalen Gerichtshof auszuliefern.
      Andereseits wirst Du solche Sachen in Osteuropa nie verstehen können, wenn Du nicht versuchst, etwas von dessen Geschichte zu erfahren und zur Kenntnis zu nehmen.
      Es war die Geschichte des Kommunismus in Osteuropa in den letzten - nicht nur 50 - sondern 70 Jahren mit seinen Zwangsarbeitslagern und seinen Hungersnöten, die dafür verantwortlich ist / sind, daß große Teile von Osteuropa nun die USA mit offenen Armen einlädt, dort Stützpunkte und alles mögliche zu errichten.
      Avatar
      schrieb am 04.07.03 19:33:16
      Beitrag Nr. 149 ()
      auryn,
      das verstehe ich sehr gut.
      ich kenn ja meine pappenheimer.

      es ist die identifikation mit dem aggressor.
      und es wird den menschen zum verhängnis werden
      bzw. bedeutet die verlängerung ihrer vergangenheit
      in ihre zukunft.
      Avatar
      schrieb am 04.07.03 19:48:08
      Beitrag Nr. 150 ()
      antigone,
      genau da hast Du aber noch eine "sehr große Aufklärungsarbeit" in Osteuropa zu leisten, bei deren Bewältigung Du auf meine Mitarbeit leider verzichten müssen wirst, denn beispielsweise in Bezug auf die Bundesrepublik Deutschland sehen ungefähr 90 Prozent aller Osteuropäer die Bundesrepublik Deutschland als leuchtendes Vorbild für den Aufbau einer relativ reichen, überaus gelungenen Demokratie mit schon jahrzehntelang recht gut funktionierender "sozialer Marktwirtschaft", wobei dieser Aufbau aus der Sicht der "verblendeten" Osteuropäer nicht möglich gewesen wäre ohne den US-Marshall-Plan und den militärischen Schutzschirm der USA über Westeuropa gegen die Sowjetunion.
      Du wirst daher einige Probleme dabei haben, die Osteuropäer davon zu überzeugen, daß es ihnen ohne die "US-Aggressoren" und unter dem Schutz anderer früherer "Freunde" oder gar "Brüder" wie Rußland viel besser gehen würde als mit ihren neuen "Freunden".
      Aber ich wünsche Dir trotzdem "viel Spaß" bei Deiner "Aufklärungsarbeit" bei den Leuten in Osteuropa.
      Wenn Du mal zufällig auf die Massengräber in Katyn oder zu den "Heldenfriedhöfen" für die Aufständischen in Budapest oder Rumänien zu sprechen kommst, solltest Du aber speziell bei den dortigen Angehörigen der Opfer mit dem Setzen von Smilies oder dem Tragen von Smilie-Buttons sehr viel vorsichtiger sein als bisher.
      Avatar
      schrieb am 04.07.03 20:16:23
      Beitrag Nr. 151 ()
      :confused:
      wie komm ich denn dazu aufklärungsarbeit in osteuropa zu leisten? im übrigen bist du tatsächlich noch nicht im jahre 2003 angekommen. wie sonst kämst du auf die idee, die geschichte der nachkriegszeit läßt sich 1:1 für osteuropa auf heute übertragen?
      Avatar
      schrieb am 07.07.03 18:00:26
      Beitrag Nr. 152 ()
      Nun, man kann natürlich nicht erwarten, dass osteuropäische Länder wie Rumänien, welche erst seit 13 Jahren keine Unterdrückung und keine Zensur mehr kennen, sich so schnell entwickeln wie die westeuropäischen Länder. Um auf den westlichen Meinungs-Standard dieser lokalen Diskussionen hier zu gelangen, müssen die osteuropäischen Länder erst einmal - wie das am Boden liegende Deutschland - die grausame Unterdrückung und Ausbeutung durch die US-Amerikaner kennengelernt haben. Ich vermute, erst dann, wenn die Rumänen endlich in so bitterer Armut und Rechtlosigkeit leben wie die beinahe schon völlig ausgebluteten und demoralisierten Deutschen, dann werden die Rumänen endlich erwachen und sich gegen ihre US-amerikanischen Ausbeuter und Parasiten erheben und dem "grausigen Hyänentum" der USA genauso ein Ende bereiten wie ihrem früheren Diktator Ceausescu. Bis in Rumänien allerdings von den USAso ein Unterdrückungs-Regime installiert werden kann wie in Deutschland, dauert es vermutlich noch einige Zeit, denn Rumänien zieht mit seinem mittelalterlichen Aussehen immer mehr Touristen an ? leider nicht nur aus Westeuropa, sondern vor allem aus den USA und Japan, aber die Rumänen werden ja schon sehen, was sie davon haben, ihre künftigen Ausbeuter und Mörder zu beherbergen.
      Falls jemand von Euch die mittelalterlichen Stadtbilder Rumäniens genießen will, bevor zuviel US-Imperialisten durchs Bild laufen und außerdem "des Empfangens des WDR-3-Programms mächtig" sein sollte, so riete ich ihm, heute um 20.15 Uhr eben jenes einzuschalten:
      http://dyninet.wdr.de/inetepg/ObjekteZurSendung.asp?Sendung=…

      Was übrigens in Rumänien auch erst in den letzten Jahren gekauft und gelesen werden durfte, sind so komische Bücher wie der 50er Jahre Bestseller "Die Revolution entlässt ihre Kinder" des ehemaligen überzeugten Kommunisten, späteren Kreml-Astrologen (und übrigens auch meines leider nur sehr kurzzeitigen Ex-Professors) Wolfgang Leonhard, der einst der beste Freund vom Ex-Stasi-Chef Mischa Wolf war. Leider brach Prof. Leonhard gleich 1945 seine Karriere in Ost-Berlin ab, u.a. weil seine Mutter so seltsame Erlebnisse in der Sowjetunion hatte, die sie auch in einem Buch verarbeitet hatte.
      Wie gesagt; dieses Buch ist in Deutschland nicht mehr erhältlich und es interessiert ja auch keinen mehr, in Rumänien wird es aber wegen der zeitverzögerten Erfahrungen mit dem kommunistischen Totalitarismus gerne gelesen und gilt dort immer noch als sehr interessant, weil man ja so etwas fast 50 Jahre nicht lesen durfte und man ähnliche Erfahrungen machen konnte - zunächst mit einem Herrn Gheorghiu-Dej und dann mit seinem Musterschüler, Herrn Ceausescu. Man darf sich natürlich nach der Lektüre fragen, welchen Einfluß dies auf das Verhältnis zu den USA und Westeuropa haben könnte, wenn man ähnliche Erfahrungen vor noch gar nicht so langer Zeit machen konnte.

      Kleiner Auszug gefällig aus "Susanne Leonhard: Fahrt ins Verhängnis", Freiburg/ Breisgau 1983 (?):

      Klappentext am Schluß des Buches:

      Als Susanne Leonhard am 26. Oktober 1936 in Moskau verhaftet wurde, war ihr Sohn Wolfgang fünfzehn Jahre alt gewesen, jetzt war er 27. Er war Mitglied der Gruppe Ulbricht und Dozent an der SED-Parteihochschule. Bei einem der nächsten Gespräche kam es zur politischen Verständigung. Ihr Sohn vertraute ihr seine geheimen Gedanken und Pläne an. Er berichtete über seine Opposition gegen das Ulbrichtsche und Stalinsche System.
      Wolfgang (Wolodja) stand auf Seiten der Verfemten und befeindeten Jugoslawen und Susanne Leonhard verstand, daß ihre Odyssee noch lange nicht zu Ende war.
      Sie blieb zunächst noch in Ost-Berlin, war dort für einen Verlag tätig und stand in ständiger Beziehung zu ihrem Sohn, der am 12. März 1949 aus der damaligen Sowjetzone Deutschlands nach Jugoslawien floh. Durch einen telefonischen Hinweis hatte er ihr das Datum genannt. Sie floh gleichzeitig nach Westdeutschland, nahm ihren Wohnsitz in Stuttgart und schrieb dort ihr Buch "Gestohlenes Leben". Das Manuskript war bereits im April 1950 abgeschlossen, aber erst später gab sie es zur Veröffentlichung.
      Anfangs lebte sie in der Befürchtung, durch eine offene Abrechnung mit dem stalinistischen System sich zwangsläufig auf die Seite derjenigen gedrängt zu sehen, die den Kommunismus ablehnen. Dann aber verwarf sie ihre früheren Bedenken. Sie erkannte, daß es in Deutschland und in der ganzen Welt viele Menschen gibt, die ihren sozialistischen Ideen treu geblieben sind, aber dennoch das stalinistische Zerrbild eines "sozialistischen Staates" offen an den Pranger stellten.
      "In diese Front reihe ich mich mit meinem Buch über die Sowjetunion ein. Ich bin dieselbe überzeugte revolutionäre Sozialistin geblieben, die ich war, als ich im Spartakusbund unter Karl Liebknecht kämpfte und gerade, weil ich das Ziel des Kommunismus in der Erlösung der Menschheit aus der Sklaverei sehe, empöre ich mich dagegen, daß der stalinistische Sklavenhalterstaat von seinen treuen Anhängern wie von seinen heftigsten Gegnern als kommunistisch bezeichnet wird". An dieser Überzeugung hat sie die letzten dreißig Jahre bis zu ihrem Tod unbeirrt festgehalten.

      Text-Auszug ab Seite 165ff.:
      Hunderte und aber Hunderte von Müttern sind nicht so glücklich gewesen, ihre Kinder wiederzufinden, die nach der Verhaftung der Eltern in NKWD-Kinderheimen Aufnahme fanden. Insbesondere für Ausländer war es schwer, etwas über den Verbleib ihrer Kinder zu erfahren. Unter den Tausenden von Verschleppten aus den okkupierten Gebieten und von illegalen Grenzgängern, die im Lager waren, haben nur die wenigsten Antwort bekommen auf ihre Gesuche. Dem lag vielleicht eine bestimmte Absieht zugrunde: die Kinder sollten russifiziert und dem elterlichen Einfluß für immer entzogen werden. Es ist indessen auch denkbar, daß die schrecklichen Kriegswirren das Wiederauffinden der Kinder unmöglich gemacht haben. Sarah Reich gehörte zu jenen Frauen, die ihren Gram nie verwinden konnten und von Selbstvorwürfen in dumpfe Verzweiflung getrieben wurden. Frau Sarah Reich-Pfeffer, eine polnische Jüdin aus Rumänien, war mit ihrem Manne und ihren fünf Kindern, von denen zwei schon halb erwachsen und drei unter 15 Jahren waren, vor den Hitler-Deutschen geflohen. Sie hatten die sowjetische Grenze überschritten, in der Hoffnung, Asyl zu finden, und waren als "mögliche Spione" alle verhaftet worden. Es ging von Gefängnis zu Gefängnis, und eines Tages, nach einer stundenlangen Fahrt auf einem unverdeckten Lastwagen bei Schneefall, als sie durchfroren und naß irgendwo angekommen waren, hatte eine Person - offenbar eine Gefängniswärterin freundlich zu ihnen gesagt: "Die jüngeren Kinder können jetzt mit mir gehen und sich etwas aufwärmen, es gibt heißen Milchkaffee und Brötchen."
      Der vierzehnjährige junge war dazu bereit, die beiden kleinen Mädchen aber verbargen sich scheu hinter der Mutter und wollten nicht gehen. "Aber ihr Dummerchen, ihr Kleinen, geht nur, geht", hatte die Mutter gesagt, "die gute Tante gibt Euch was Warmes zu trinken und zu essen", und hatte die Kinder sanft hinausgedrängt. Sie hat ihre drei jüngeren Kinder niemals wiedergesehen, und alle Nachforschungen blieben erfolglos. Ich habe selbst mehrmals Gesuche für Sarah Reich geschrieben. Einige blieben gänzlich unbeantwortet, nur einmal kam die Antwort: "Über das Schicksal der Kinder ist nichts bekannt."
      Und nun saß die unglückliche Mutter im Lager und weinte die bittersten Tränen darüber, daß sie ihre Kinder selbst fortgeschickt habe. "Aber, liebe Frau Reich", trösteten wir sie, ?Sie brauchen sich doch keine Vorwürfe zu machen, so oder so hätte man Ihnen die Kinder weggenommen." - "Ja, aber die Kinder werden sich doch ihr ganzes Leben lang an meine Worte erinnern, und sie werden doch nicht verstehen, daß ich keine Ahnung gehabt habe, wohin man sie fortgelockt hat", weinte sie fassungslos. Und darauf wußten auch wir nichts mehr zu sagen.
      Das schlimmste für den Menschen, der jahrelang der Freiheit beraubt ist, sind nicht die körperlichen Leiden und Entbehrungen, auch nicht die moralischen Erniedrigungen, denen der Gefangene ausgesetzt ist, sondern seine völlige Loslösung aus dem Menschenkreis, dem er einstmals im Leben angehört hat, das grausame Verlorensein in einer neuen Existenz, aus der sich keine Fäden zum ehemaligen Leben knüpfen lassen. Die unglücklichen Menschen, die in den Jahren 1937 und 1938 als angebliche "Volksfeinde" in fernöstlichen Lagern isoliert wurden, sind meistens zu langjährigen Freiheitsstrafen mit Entzug des Korrespondenzrechts verurteilt worden. Wir kleinen "Staatsverbrecher" hingegen hatten das Recht, viermal im Jahre einen Brief an Verwandte zu schreiben und Post in unbegrenzter Menge zu empfangen, was allerdings nicht bedeutet, daß wir alle an uns abgesandten Briefe wirklich bekamen.
      Und überdies brachte auch mancher der so sehnlich erwarteten Briefe statt Freude - schweren Kummer.
      Wenn ich nach Schluß der Kontorarbeit die Baracke betrat, lagen meistens schon alle schlafend auf ihren Pritschen. Eines Tages jedoch, als ich die Türe zu unserer Baracke öffnete, schlug mir gleich eine Welle der allgemeinen Erregung entgegen. Viele waren noch wach. Gruppen in aufgeregtem Geflüster, überall verweinte Augen, hier und dort ein Schluchzen. Ob wieder jemand gestorben war? Eingeschüchtert durch die Nähe eines mir unbekannten Unglücks kletterte ich auf mein Bett hinauf. Meine Nachbarin flüsterte mir zu: "Gut, daß Du schon da bist. Die Polina Sergejewna hat einen Brief von ihrem jungen bekommen, du, den mußt Du lesen, sonst glaubst Du es nicht." Und schon schwang sie sich hinunter und brachte mir den Brief - drei eng vollbeschriebene Bogen waren es. "Zwölfeinhalb Jahre ist der Junge alt, lies!" sagte sie.
      Im Lager lernt man so viele traurige Menschenschicksale kennen, daß man allmählich abstumpft: dieser Kinderbrief jedoch ist mir für immer im Gedächtnis geblieben. Deshalb ist es mir möglich, seinen Inhalt nach so vielen Jahren, wenn auch nicht ganz wort-, so doch zumindest völlig sinngetreu wiederzugeben. Der Knabe, von dem die Mutter ungefähr ein halbes Jahr keine Nachricht erhalten hatte, schrieb:
      "Meine liebe, gute, geliebte Mamotschka!
      Wenn ich Dir sonst geschrieben habe, dann brauchte ich gar nicht erst nachzudenken. Ich habe mir einfach vorgestellt, wir sitzen einander gegenüber wie früher bei uns zu Hause, und ich erzähle Dir was aus der Schule oder vom Spielen. Aber heute ist es mir so schwer, Dir zu schreiben, daß ich gar nicht weiß, wie ich anfangen soll. Ich bin nämlich so ganz schrecklich traurig, weil ich fürchte, daß mein Brief Dir großen Kummer machen wird.
      Und doch kann ich nichts dafür. Liebe, allerbeste Mamotschka, glaube mir, ich bin unschuldig. Du weißt doch, Mamotschka, ich bin Dein ehrlicher Jurij. Weißt Du das noch, hast Du das noch nicht vergessen? Du hast mir doch immer gesagt, daß Lügen und Heucheln das Häßlichste auf der Welt ist, und Du hast auch gewußt, ich habe Dich nie angelogen. Und jetzt, da Du arme, liebe Mamotschka fern von mir bist und da es Dir so schlecht geht im Lager, wohin sie Dich geschickt haben, da könnte ich es noch viel weniger übers Herz bringen, Dich zu belügen.
      Liebe Mamotschka, Du hast sicherlich schon am Anfang gesehen, daß der Brief nicht aus Moskau ist. Ich bin seit 14 Tagen in der Strafkolonie für jugendliche Verbrecher in N., und vorher war ich 5 Monate im Gefängnis. Und nun will ich Dir genau erzählen, wie alles war und wie ich hierher gekommen bin und Du darfst nicht weinen, Mamotschka. Alles wird noch einmal gut werden.
      Du hattest doch beim Weggehen gesagt, unser Zimmer bleibt mir erhalten; die Komarows dürfen es mitbenutzen und werden für mich mitkochen, von unserem Geld natürlich. Ich hatte Dir ja auch geschrieben, es ginge alles ganz gut. Aber nur die erste Zeit. Und dann habe ich immer so wenig zu essen bekommen, daß ich oft großen Hunger hatte, und ich dachte, ich werde mir etwas Geld verdienen und Brot kaufen, damit ich abends besser einschlafen kann, denn vor Hunger kann man oft nicht schlafen.
      Ich bin auf den Bahnhof gegangen und habe Leuten das Gepäck getragen. Meistens haben sie mir Geld gegeben, manchmal auch Brot, und einmal hat mir eine Frau außer Brot noch einen großen schönen Apfel gegeben. So hatte ich schon zwei Wochen immer Gepäck getragen, da kam einmal ein Mann, der in großer Eile war, und er trug mehrere Koffer; er rief mir zu: "Du Junge, hier, bleib mal vorläufig stehen bei den Koffern", und er setzte zwei neben mir ab, "ich komme dann zurück und hole sie". Ich stand da und wartete, aber ich sah den Mann nur noch einmal von weitem um die Ecke gucken, und statt herzukommen, rannte er weg. Und da kam ein Polizist auf mich zu, packte mich an der Schulter und sagte, ich müsse mitgehen. Da war ich verhaftet und kam ins Gefängnis.
      Mamotschka, liebe, gute Mamotschka, Du kannst Dir das vorstellen, der Untersuchungsrichter im Gefängnis hat mir nicht glauben wollen, daß es so gewesen ist, obwohl ich es ihm immer wieder Wort für Wort so erzählt habe, wie es war. Immer wieder hat er gesagt, ich kenne diesen Mann, er hat mich geschickt, die Koffer zu stehlen, und ich soll sagen, wer der Mann ist. Und wenn ich sagte, daß ich doch nicht weiß, wie er heißt, daß ich ihn selbst eben erst gesehen habe, da hat er mich immer angebrüllt: "Das kennen wir schon, die alte Geschichte, der große Unbekannte ist`s wieder mal gewesen. junge, wenn Du die Wahrheit nicht sagst, schlage ich Dir alle Knochen im Leibe kaputt." Aber ich habe doch nichts anderes sagen können, weil ich nichts anderes wußte. Vom Gefängnis will ich Dir gar nichts schreiben, und nun bin ich hier in der Kolonie.
      Sorge Dich nicht unnötig um mich, liebste, beste Mamotschka, es geht alles ganz gut. Ich besuche die 6. Klasse, und nachmittags arbeite ich in der Schreinerwerkstatt. Die meisten Jungen beenden nur vier Klassen und arbeiten als Vollarbeiter, aber wer gute Zeugnisse und Lust zum Lernen hat, kann weiter in die Schule gehen, das ist doch sehr fein, nicht? Allerdings gibt es nur eine Siebenjahrschule, und unseren Traum, daß ich Ingenieur werde, den müssen wir nun aufgeben. Aber gräme Dich nicht deswegen, meine gute Mamotschka, es wäre ja doch sowieso nicht möglich gewesen, nachdem Papa weg ist. Vielleicht ist es sogar sehr gut so, daß ich hier ein Handwerk erlerne. Wenn ich ein guter Tischler werde, dann kann ich später auch für Dich sorgen, Mamotschka, nicht wahr? Wir wissen ja nicht, ob der liebe Papa jemals wiederkommt, und wenn ich groß bin, dann gehe ich in eine Möbelfabrik arbeiten, und wir leben zusammen, Du und ich, dann wird alles noch gut.
      Das unangenehmste sind hier die großen Jungen, die immer schreckliche Schimpfwörter gebrauchen und richtige Verschwörungen anzetteln, vor allem gegen Neue. Ich habe mich erst ganz von ihnen absondern wollen, denn ich will mich nicht an Dingen beteiligen, die streng verboten sind, zum Beispiel heimlich rauchen, Wodka trinken und Karten spielen. Aber so einfach ist das nicht, wie ich dachte, denn da ist eine ganze Bande, die die Macht hat und den anderen befiehlt.
      Die meisten dieser Burschen sind Taschendiebe gewesen, aber auch Banditen sind darunter. Sie sind zu jeder Gemeinheit fähig, z. B. wenn sie etwas stehlen, dann schieben sie es einem Unschuldigen unter und denunzieren ganz Unbeteiligte. Die ersten Tage bin ich fortgesetzt gehänselt und gequält, heimlich gepufft und geschlagen worden, meine Brotration haben sie mir vor der Nase weggeschnappt und so weiter, sie wollten sehen, ob ich "dicht halte". Ein älterer anständiger Junge, der auch unschuldig hierhergekommen ist, hat mich über diese Verbrecherbande aufgeklärt und mir geraten, nicht zu zeigen, was ich von ihnen denke, sonst würde ich hier kaputtgehen. So habe ich mich also gut gestellt zu den Jungen.
      Diesen Brief hier zum Beispiel könnte ich ohne diese Burschen nicht abschicken. Wir dürfen nur einmal im Monat schreiben, einen kurzen Brief, und der geht durch die Zensur. Aber siehst Du, Mamotschka, ich wollte Dir doch mal alles ganz ausführlich schreiben, und das konnte ich nur heimlich. Es ist eine sehr strenge Kontrolle, daß niemand aus unserer Kolonie mit draußen Verbindung hat, aber die Bandenmitglieder haben natürlich Beziehungen zu den Bewohnern des nächsten Dorfes, mit denen sie Handel treiben.
      Liebste Mama, denke aber bitte nicht, daß für mich eine Gefahr ist. Ich lasse mich von diesen Jungen nicht zum Schlechten verleiten, niemals werde ich ein Kartenspieler oder Dieb werden. Du kannst um mich ganz beruhigt sein. Mach Dir keine Sorgen!
      Abends sehne ich mich immer schrecklich nach Dir. Ich träume davon, daß Du plötzlich an mein Bett trittst und mir einen Gutenachtkuß gibst. Denkst Du auch öfters an mich, liebe Mamotschka? Manchmal stelle ich mir vor, wie es sein wird, wenn wir uns später wiedersehen und einander alles erzählen. Bist Du dort auch mit Kriminellen zusammen, oder seid ihr politischen allein unter Euch?
      Unser Direktor und der Schulleiter haben schon einige Male Bemerkungen darüber gemacht, daß ich der Sohn von Staatsverbrechern sei, aber man wolle mir das nicht zum Vorwurf machen; unsere Gesetze seien so großzügig, daß Kinder für die politischen Verbrechen ihrer Eltern nicht büßen müßten.
      Ich weiß aber doch, daß du unschuldig bist, Du bist ja nur Papas wegen verhaftet worden, das haben alle damals gesagt. Und Papa soll ein Verbrecher sein? Das kann ich auch nicht glauben. Es wird alles ein Irrtum sein, und es klärt sich noch auf. Für mich bist Du die liebste aller Mamas in der ganzen Welt. Und verzeih mir, Mamotschka, wenn ich manchmal ungehorsam gewesen bin. Denke nie mehr an das, was nicht ganz schön war, sondern immer nur an all die vielen herrlichen Stunden, die wir zusammen verlebt haben.
      Schreibe mir, Mamotschka, wie es Dir geht und was Du machst,
      aber erwähne diesen Brief nicht, weil er heimlich abgeht. Am Sonntag schreibe ich Dir den erlaubten Brief, auf den Du antworten kannst. Bis dahin grüße und küsse ich Dich von ganzem Her
      Dein Sohn Jurij."
      Man kann sich denken, welche Gefühle dieser Brief in den Herzen der von ihren Kindern getrennten Mütter auslöste. Jede Mutter war von tiefem Mitgefühl für die Mutter Jurijs erfüllt, und jede fragte sich, wie wohl ihr Kind sich verhalten würde, wenn ihm ein so entsetzliches Unglück zustieße wie jenem Knaben. Nicht jeder Junge ist so charakterfest und tapfer, so verständig und frühreif im dreizehnten Lebensjahr ...
      Wenige Tage nach diesem Brief erhielt Polina S. den ersten offiziellen Brief ihres Jurij. Er schrieb kurz, daß er nach mehrmonatiger Haft in diese Kolonie gekommen sei, wo es ihm gut gefalle, daß er sich aber erkältet habe und in die Krankenabteilung überführt worden sei. Nach einem Monat kam der nächste Brief mit der Bitte, die Mutter möge sich nicht sorgen um ihn, seiner Meinung nach sei der Husten schon viel besser, und er werde wohl bald wieder gesund werden. Nach diesem Brief hörte die Mutter nichts mehr von ihrem Jungen. Sie schrieb ihm wieder und wieder. Keine Antwort. Sie erbat und erhielt die Erlaubnis, beliebig oft an wen sie wolle zu schreiben. Sie schrieb an das NKWD, an den Arzt, an den Leiter der Kolonie, an die oberste Leitung aller dieser Kolonien für jugendliche Verbrecher, an die Nachbarsleute ihrer Wohnung, an -ich weiß nicht an wen sie noch schrieb, um Nachricht über ihr Kind zu bekommen. Alles erfolglos. Nach zwei Jahren erhielt sie die trockene Mitteilung vom GULAG (Lagerhauptverwaltung/, ihr Sohn Jurij sei kurz nach Vollendung seines dreizehnten Lebensjahres an galoppierender Schwindsucht
      Einen Brief von ihrem zehnjährigen Töchterehen, das nach Verhaftung der Eltern in einem Kinderheim des NKWD Aufnahme gefunden hatte, bekam die Ärztin Fanja Aronowna. Fanja litt an Asthma und war eine völlig unpolitische Ärztin. Aber ihr Bruder war Sinowjew, der intime Freund Lenins in der Zeit des Züricher Exils und - wie mein früherer Mann Bronski - sein Begleiter auf seiner Reise im plombierten Zug nach Petrograd im April 1917.
      Bei den Machtkämpfen nach dem Tode Lenins hatte Sinowjew eine wenig fair zu nennende Rolle gespielt. Erst verbündete er sich mit Stalin gegen Trotzki, dann mit Trotzki gegen Stalin - und unterlag. Als Alleinsieger ging der verschlagene und machtgierige Stalin aus den Kämpfen hervor.
      Es war erstaunlich, wie stark Fanja A. ihrem Bruder ähnelte: das gleiche Profil, der gleiche geschwungene Mund, das gleiche lockige Haar, nur die Augen waren bei Sinowjew größer und ausdrucksvoller als bei seiner Schwester.
      Auf dem Fünften Weltkongreß der Komintern, der am 17. Juni 1924 im Kreml eröffnet wurde, hatte ich Sinowjew sprechen hören. Seine blendende Rhetorik zog alle Zuhörer in ihren Bann. Er wurde im Sitzungssaal stürmisch gefeiert, und keiner der Uneingeweihten hätte vermuten können, daß sein Stern schon im Sinken begriffen, und hinter den Kulissen sein Sturz bereits eine beschlossene Sache war. Grigorij Sinowjew war eins der ersten Opfer Stalins. Später haben noch viele, ja fast alle alten Bolschewiki sein Schicksal geteilt.
      Ich erinnere mich gut an Sinowjews Auftreten auf dem Fünften Weltkongreß. Obwohl seine Rede ein oratorisches Meisterwerk gewesen war, hatte Sinowjew mir als Redner nicht gefallen. Seine geckenhaften Allüren, seine nach Effekten haschende Diktion, sein ganzes arrogantes Schauspielergehabe waren mir damals äußerst unsympathisch gewesen. Denselben auf dem Bewußtsein unbestreitbarer Prominenz beruhenden Dünkel glaubte ich auch in den Zügen seiner Schwester zu finden. Aber vielleicht tat man ihr Unrecht, wenn man ihr Mangel an Kameradschaftlichkeit und betonte Reserviertheit vorwarf. Vielleicht bemühte sie sich einfach, unbemerkt und zurückgezogen dahinzuleben.
      Fanja hatte nur zu zwei Frauen in unserem Zelt näheren Kontakt. Die eine war eine junge Ärztin, Anfang der Dreißig, eine schöne, elegante Frau. Sie versuchte mit allen Mitteln, ihrer Freundin Fanja alle möglichen Privilegien zu verschaffen. Die andere Frau war eine ältliche, unscheinbare Person, die in dem Moskauer Krankenhaus, in dem Fanja A. Abteilungsleiterin gewesen war, unter ihr als einfache Wärterin gearbeitet hatte. Sie war wohl von ihrer Chefin öfters zu persönlichen Dienstleistungen herangezogen worden - kurz, Grund genug, sie als "Trotzkistin" ins Lager zu schicken. Anna P., so hieß sie, diente auch hier ihrer Herrin in echt russischer Beflissenheit.
      Das Verhältnis dieser beiden Frauen zu Fanja, das an sich von einem rührenden Mitgefühl für die von einem so schweren Schicksalsschlag betroffene Schwester Sinowjews diktiert war, mochte wohl dazu beigetragen haben, Fanja in die reservierte Stellung einer ?prominenten" Gefangenen zu bringen. Manche Mitgefangenen beneideten sie vielleicht auch der kleinen materiellen Vergünstigungen wegen, die sie genoß, anderen wieder - wie mir mißfiel einfach ihre Art, über ihre Schicksalsgenossinnen hinwegzusehen und sich vom ?Plebs" zu distanzieren. Sie erfreute sich keiner besonderen Beliebtheit. Was hat aber Sympathie oder Antipathie zu sagen angesichts des Schicksals einer Mutter, die, als sie den Brief ihres inniggeliebten Kindes las, mit einem Herzanfall ins Krankenhaus gebracht werden mußte? Ihr zehnjähriges Töchterchen schrieb aus einem NKWD-Kinderheim:
      "Mama,
      damit Du es gleich weißt: dies ist der einzige Brief, den ich Dir schreibe und von nun warte nicht mehr auf Briefe von mir. Ich habe bisher nicht gewußt, daß Du eine Trotzkistin und Verräterin bist. Aber nun weiß ich es, und will Dir nie mehr schreiben.
      Ich bin in einem schönen Kinderheim und es geht mir sehr gut. Hier lernen wir, unser großes sozialistisches Vaterland lieben, aber alle Volksfeinde, solche, wie Onkel Grigorij und Dich, die verachten und hassen wir bis in den Tod.
      Irina".
      Wir aber, Mütter und Schwestern eben solcher Kinder, litten mit ihr. Wir dachten an die kleine Irina, die der Mutter auf ewig verloren war, und wir weinten und bangten um unsere eigenen Kinder. Werden wir sie je wiedersehen? Werden sie dann noch unsere Kinder sein oder fremde Wesen in Feindschaft gegen uns erzogen?
      Fanja A. sah alt und hinfällig aus. War sie nur von der Krankheit so erschöpft? Ihr Gesicht zeigte völlige Hoffnungslosigkeit, und der letzte Rest von Dünkel war aus ihren Zügen gewichen. Sie ahnte wohl, daß sie bald sterben würde. Sie wurde dann nach Workuta verlegt. Dort wurde sie erschossen.

      Auszug von Seite 156 f.:
      In einem Rundschreiben des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR vom 21. Mai 1928 hieß es in der Erläuterung des Gesetzeserlasses über die Verwendung von Gefangenenarbeit im Dienste der Industrialisierung (Erlaß vom 26. März 1928), es sei geplant, "die Verwirklichung einer Reihe von wirtschaftlichen Projekten mit großen Einsparungen" sicherzustellen - "mit Hilfe einer weitgehenden Ausnutzung der Arbeitskraft von Personen, die zum Schutze der Gesellschaft zu Freiheitsentzug verurteilt worden sind." Die Ware "Arbeitssklaven", die mit diesem Erlaß für die Industrialisierung der Sowjetunion zur Verfügung gestellt wurde, war wohl in der Stalin-Ära die einzige, die niemals zum Defizitgut gehörte, denn das NKWD, das die Funktionen eines großen wirtschaftlichen Unternehmers ausübte und dessen unvergleichlichem Eifer ohne Zweifel die Verwirklichung der gewaltigen Fünfjahrespläne in erster Linie zu "verdanken" ist, war ständig an der Wiederauffüllung der Arbeitslager interessiert.
      Für einen Unternehmer, der - wie der Sowjetstaat mit seinem damaligen Manager, dem NKWD - kein Geld in seine Arbeitskräfte zu investieren brauchte, gab es kein Motiv, sich sonderlich um die Existenz und um das Wohlergehen seiner Sklaven zu sorgen. Da der einzelne Zwangsarbeiter jederzeit ersetzt werden konnte, stand einer Senkung der Unterhaltskosten unter das Existenzminimum kein ökonomisches Interesse des Sklavenhalters des NKWD, entgegen. Daher konnte man in der Sowjetunion getrost dazu übergehen, die Lebensmittelrationen der Gefangenen grundsätzlich etwas geringer zu bemessen, als das menschliche Existenzminimum, und, auf dieser Mindestration fußend, ein raffiniertes System der differenzierten Brotund Essenszuteilung, die proportional zur Normerfüllung abgestuft wurde, aufzubauen und dieses System noch zu ergänzen durch erhöhte Zuteilungen und Prämien, die einen Anreiz für den Sklaven bedeuten, mehr und mehr zu arbeiten. "Wer nicht genug arbeitet, bekommt nicht genug zu essen!" war die Parole. Der Selbsterhaltungstrieb des Gefangenen erwies sich - verglichen mit der Antreiberei durch die Knute eines altorientalischen Sklavenhalters - als der weitaus stärkere Antrieb zur Arbeit.
      Täglich hatte man Gelegenheit, sich über die funktionale Abhängigkeit der Ernährung vom Leistungssoll zu informieren, und diese Koppelung war nicht einmal die schlechteste Methode, den
      gewünschten Nutzeffekt aus der Arbeit des "Sklaven" zu erzielen, denn andererseits trug sie dazu bei, den Gefangenen am Leben zu erhalten.
      Das Hauptnahrungsmittel des Gefangenen war Brot. Die Rationen blieben nicht immer die gleichen. Vor dem Kriege erhielten die Invaliden 500 Gramm, später nur noch 450 Gramm und während einer durch Transportschwierigkeiten verursachten Versorgungskrise sank die Ration zeitweise auf 400 Gramm.
      Etc.
      Avatar
      schrieb am 07.07.03 18:07:02
      Beitrag Nr. 153 ()
      auryn
      was du als neuigkeit präsentierst, hab ich schon gelesen, als du mit den eierschalen hinter deinen ohren beschäftigt warst... und du scheinst es immer noch zu sein. vielleicht schaffst du es ja im laufe der vor dir liegenden lebensjahre, irgendwann fuss in der gegenwart zu fassen :kiss:
      Avatar
      schrieb am 10.07.03 12:16:15
      Beitrag Nr. 154 ()
      Tja, liebste antigone,
      genau dies ist leider der große Unterschied, den Du nicht mehr wahrhaben willst, weil Dir nämlich Deine Abneigung gegen die USA "über alles, über alles in der Welt" geht.
      Du konntest Dich bereits in den 50er Jahren über die Verbrechen des kommunistischen Totalitarismus informieren, wenn Du wolltest.
      Die wahren Opfer dieser Verbrechen mußten aber über ihr Leiden über 45 Jahre hinweg schön Stillschweigen bewahren, denn sonst wäre ja ein gewisser Relativismus zu den von Dir immer so gern hervorgehobenen "Verbrechen des US-Imperialismus" entstanden und man hätte sich in der Zeit bis 1989 in Osteuropa fragen müssen, welche Seite mehr Legitimation für ihre Regierungen beanspruchen konnte, und welche Verbrechen nun wirklich gar nicht mehr zu rechtfertigen sind - auch und besonders wenn man die Utopie einer "freien, klassenlosen Gesellschaft aufbauen will", nicht wahr?

      Aber damit es Dich freut, mal etwas "neueres" von mir lesen zu können, habe ich noch ein "viel aktuelleres Buch", das erstmals IN Deutsch in Rumänien erschien, bis heute in Rumänien viel diskutiert wird und dort gerade in deutscher Sprache reißenden Absatz fand.
      Es geht hierbei übrigens um "Deportierte", nicht um "Berufsvertriebene", wie Du, geschätzte antigone, solche Menschen so gerne bezeichnest.
      Man beachte auch das viel aktuellere Erscheinungsdatum!

      Aus:
      Russland-Deportierte erinnern sich
      Schicksale Volksdeutscher aus Rumänien 1945-1956
      Erstausgabe: Bukarest im Jahre 1992
      Verlag der Zeitung Neuer Weg
      ISBN 973-0-00008-5
      S. 139

      Adele Borcea, geb. Schneider (Sibiu / Hermannstadt):
      Der Mantel brannte auf meinem Rücken

      Im Januar 1945 wurden wir von vier russischen Soldaten abgeholt, d. h. meine Schwestern Mathi (21 Jahre) und Erna (12 Jahre), mein Bruder Franz (33 Jahre) und ich. Unsere Geschwister Viktor
      (il Jahre) und Hilda (7 Jahre) blieben zu Hause bei unserem Vater. Unsere Mutter. war lungenleidend, sie starb 1940. Franz war schon verheiratet und hatte zwei Kleinkinder, die bei seiner Frau blieben. Weil mein Vater arbeiten gehen mußte, sorgte niemand auf die beiden Kinder. Sie erkrankten an Typhus, Scharlach, bekamen
      Läuse und die Krätze. Ohne Medikamente sind sie gesund geworden.
      Mit einem Lastwagen führten die Russen uns zur Schule Nr. 2
      und am nächsten Tag 4 Uhr morgens verlud man uns auf Viehwaggons. Die Reise bis nach Jenakiewo dauerte einen Monat, denn der Zug mußte immer warten, bis eine Linie frei war. Einige sind schon auf dem Weg gestorben, weil man uns verdorbene Fische zum Essen gab.
      Wir drei Schwestern kamen ins Lager Nr. 4, unser Bruder ins
      Lager Nr. 6. Erna arbeitete in der Küche, Mathilde und ich haben Schutt weggeräumt und beim Wiederaufbau der zerstörten Häuser gearbeitet. Unser Lager war außerhalb der Ortschaft neben einer Fabrik. Wir schliefen in einem großen Zimmer mit Stockbetten wie beim Militär.
      Das Essen war sehr schlecht. In der Früh aßen wir Krautsuppe, in der man die Krautblätter zählen konnte, oder wir tranken einen Tee. Die Brotration betrug 250 Gramm. Kartoffeln aßen nur die russischen Offiziere, die Deportierten aber sammelten die Kartoffelschalen vom Mist, wuschen, kochten und aßen sie. Fast täglich gab es stinkende Fische. Es waren eingesalzene Fische, die schon verdorben waren und deshalb fürchterlich stanken. Vor ihnen habe ich mich so geekelt, daß ich jetzt nicht einmal den Anblick der Fische ertrage. Abends gab es wiederum Krautsuppe.
      In dem ersten Winter mußten wir einen acht Meter tiefen Kanal graben. Zweimal fiel ich in den tiefen Graben, aus dem ich nicht mehr herausklettern konnte. Mit Leitern holte man mich dann heraus. Ungefähr vierhundert Männer und Frauen arbeiteten hier. Zuerst mußten wir mit der Spitzhacke die Schnee- und Eisdecke aufbrechen. Die Sitzhacke ist mir einmal vom Eis abgerutscht und ich habe mir damit in den Unterschenkel geh aut. Deshalb lag ich einen Monat im Krankenhaus. Beim Verbinden haben die Assistentinnen mir beim Wechseln des Verbandzeuges immer wieder die Wunde aufgerissen, so daß mein Fuß nie richtig verheilte.
      Wir wurden bei der Arbeit streng bewacht. Unsere Aufpasserin war ekelhaft, wenn sie sah, daß wir zwei Minuten stehen, um auszuruhen, hat sie uns schon angeschrien: "Dawai, dawai, robota, robota!" Sieben Uhr morgens trieb man uns zur Arbeit und um 17 Uhr kamen wir ins Lager zurück.
      Die Männer starben in Rußland wie die Fliegen. Die Frauen hatten viel mehr Kraft. Viele erkrankten an der Ruhr, wegen dem schlechten Wasser und dem verdorbenen Essen. Meine Schwester Mathilde erkrankte an Typhus. Außerdem plagten uns die Läuse und die Wanzen. Über 120 Personen starben in 10 Monaten im Lager. Die Toten legte man oft zu zweit in die Grube, darüber warf man einfach Erde. Es gab keinen Friedhof, keine Kreuze, nichts. Ich will daran eigentlich nicht mehr denken, aber im Alter erinnert man sich an so vieles.
      Im Lager waren auch Rumäninnen, die nach ihren Ehemännern deutsche Namen trugen. Eine meiner Nachbarinnen war sogar eine Zigeunerin, die Lebzeltner heißt, war auch in Rußland. Sie war schwanger und entband dort ihr Kind. Die Kleinkinder blieben im Krankenhaus oder im Zimmer, wo die Frauen schliefen. Nach der Geburt mußten die Mütter bald arbeiten gehen. Viele Kinder starben vor Hunger und Kälte. Einige Frauen zeugten mit Russen Kinder, weil diese ihnen ein besseres Essen versprachen, doch das waren nur leere Versprechungen.
      Bald nach unserer Ankunft waren unsere Kleider von zu Hause zerschlissen. Meine Schwester Erna nähte mir aus einem Bettleintuch eine Hose. Das war verboten und deshalb wurde sie mit einem Jahr Karzer bestraft. Wir haben auch Kleider verkauft, um Essen zu kaufen, z. B. Bohnen oder ein Stück Kuchen für 5 Rubel, für dieses Geld mußten wir viel arbeiten! Von dem kleinen Lohn zog man uns das Geld für Essen und Schlafen ab.
      Von einer Frau, die dort starb, erbte ich einen Mantel, den abwechselnd ich und Mathilde anzogen. Einmal war ein schreckliches Schneegestöber, die Schneedecke war zwei Meter hoch. Die Bahnli
      nien waren ganz verschneit und wir mußten 24 Stunden lang die Linien freilegen, ohne uns zu erwärmen und ohne etwas zu essen. Meine Schwester gab mir zuerst den Mantel, sie sollte ihn in der Früh anziehen. Unsere Hände erfroren so stark, daß wir sie nicht mehr biegen konnten. Als wir vor Kälte und Schwäche reihum umfielen, führten uns die Russen in ein geheiztes Zimmer. Das Zimmer wurde durch eine Mauer geheizt. An diese lehnte ich mich an. Nach einiger Zeit fragte jemand: "Brennt hier etwas? Es riecht nach ver
      branntem Stoff."
      Meine Cousine, die neben mir stand, riß mich vom Ofen weg: Mein Mantel hatte im Rücken ein großes Loch! Ich hatte gar nicht gespürt, daß mein Rücken brennt, so erfroren war ich. Natürlich schimpfte meine Schwester mit mir, denn auch sie trauerte um den Mantel. Diese Cousine und auch die Pitters Hilde und die Tilli Gräser starben in Rußland an Typhus. Wir begruben sie gerade am Tag meiner Heimkehr, im November 1945.
      Wegen der Unterernährung und der Nässe waren damals meine
      Hände und Beine so dick angeschwollen, daß ich nicht mehr arbeiten konnte. Die Russen sagten, daß sie keine Kranken, sondern Arbeiter brauchen, deshalb schickten sie uns nach Hause. Somit mußten sie uns nicht umsonst Essen geben. Viele sind auf dem Rückweg gestorben. Die Toten wurden auf den Bahnhöfen abgeliefert: Was mit ihnen geschah, erfuhren wir nie. Im Zug erhielten wir besseres Essen, damit wir uns erholen. In Focsani blieben wir einen Monat in Quarantäne. Meine Geschwister blieben alle bis 1949 in Rußland.

      S. 60:
      Eugenia Gerzanich (Timisoara / Temeswar):
      Mein Kopf fror fest

      Schon die Abfahrt am 13. Januar 1945 war schrecklich. Um mich zu retten, wäre es genug gewesen, wenn ich nach Arad gefahren wäre. Meine Mutter war schon 60, mein Vater war tot, also hätten sie meine Eltern nicht deportieren können. Einige versteckten sich und kamen davon. Der Zahntechniker Bauer versteckte sich auch, man nahm aber seine hochschwangere Frau, die nahe an der rumänischen Grenze aus dem Waggon geholt wurde, da sie die Geburtswehen spürte. Was mit ihr geschah, weiß ich nicht. In Jassy ist einer Frau die Flucht gelungen. Nachher erfuhr ich, wer sie gerettet hat. Zwei Offiziere aus Temeswar waren damals in Jassy und sie lief denen in die Arme. Sie erklärte ihnen ihre Lage und diese gaben ihr Geld für die Fahrt nach Hause.
      Wir kamen nach Saporoshje, ins schlimmste und größte Lager so sagen wir, die wir dort waren. Anfangs hausten wir in einem ausgebombten Haus, das kein Dach hatte, und draußen waren -30 Grad Celsius. Das Stroh für die Strohsäcke mußten wir aus dem Schnee ausbuddeln. Einen einzigen Brunnen gab es, deshalb herrschte Wassermangel. Nach einigen Wochen versetzte man uns in ein Zeltlager. Ein Jahr wohnten wir wie die Zigeuner in großen "Zirkuszelten", wo zwei kleine Öfen standen, die mehr Rauch als Wärme erzeugten. In der Früh waren unsere Gesichter wegen dem Rauch pechschwarz.
      Zuerst arbeiteten wir in einer schrecklich großen Aluminiumfabrik, die von den Deutschen ganz zerbombt war. Später arbeiteten wir in einem Dorf neben Saporoshje, in Orechov, in einer Ziegelfabrik. Wir wohnten in kleinen Gebäuden, schliefen auf dem Fußboden. Wir waren hier ein bißchen freier, denn wir hatten einen guten Lagerkommandanten. Wenn wir die Norm erfüllt hatten, durften wir machen, was wir wollten. So brannten wir für die Russen Ziegel,
      die wir mit den Händen formten, nicht mit Maschinen. Dafür erhielten wir Kartoffeln oder Kürbisse. Die Kartoffelstückchen reihten wir auf einem Draht auf, das war der sogenannte "Rosenkranz", den wir in den Ziegelofen stellten und nach einer bestimmten Zeit waren die Kartoffeln genießbar. Im Herbst hat man alle, die keine dicken Kleider hatten, nach Saporoshje zurückgebracht.
      Dann war ich in der Kalkbrennerei. Dort war es auch schwer. Die kleinen Loren mit Kalkstein und Kohle haben wir zum Ofen geschoben und ausgeleert. Das Kalklöschen in den Kalkgruben war nich einfach, weil wir ein Brett auf die weiße zähe Kalkpaste warfen, auf diesen Brettern standen wir und luden im Schaufeln den gelöschten Kalk auf Autos auf.
      In der Bretterfabrik haben. wir je 2-3 Frauen die großen Baumstämme gehoben und sie in die Sägemaschine hineingeschoben. Dann luden wir die Bretter auf. Dabei verletzte ich mich zum ersten Mal. Wegen dieser Gelenksentzündung blieb mein Bein sechs Wochen steif. Das war vielleicht noch mein Glück. Ich begann alte Sachen aufzutrennen und aus der Wolle neue Sachen zu stricken. Nachher habe ich auch gestickt und die Handarbeiten den Russinnen für Essen verkauft.
      Wir arbeiteten nicht bloß acht Stunden. Oft arbeiteten wir zwölf Stunden und sollten daraufhin 24 Stunden frei haben. Doch oft rief man uns in unserer Freizeit zum Bauxitabladen. Ich erinnere mich, daß wir auf den Wänden eines rumänischen Waggons Namen aufgeschrieben fanden. Wir haben darauf geantwortet, weil diese Waggons mit dem Schiff wieder nach Rumänien gebracht wurden. Nachdem wir unsere Norm erfüllt hatten, mußten wir eine zweite Norm auf dem Bau machen, denn im Spätherbst `45 bauten wir unsere Unterkünfte. Der erste Bau war Anfang Dezember fertig, so daß wir aus den Zelten auszogen. Ein Deutscher aus Temeswar, der Ernhardt, stand mit einem Chronometer in der Hand neben uns. Wir mußten die schweren Tragbahren mit Baumaterial hinaufschleppen. Dabei rutschten wir auf dem nassen Brett aus, denn es gab noch keine Treppen. Die Aufpasser hatten bestimmte Vorteile, sie hatten ein eigenes Zimmer.
      Die ersten Monate waren die schwersten. Ich war damals 21 Jahre alt. Neben mir schlief ein 16jähriges Mädchen, Evi Kolmann. Eines Tages, als sie aufstand, um zur Arbeit zu gehen, kam sie ganz verstört zu mir und sagte: "Du, ich glaube, ich bin verrückt geworden. Sag mir, was ich tun muß!" "Du mußt zur Arbeit gehen, iß aber vorher ein Brötchen", antwortete ich ihr. "Wenn du sagst, wird es wohl stimmen." Nachmittags hat man sie zurückgebracht, sie konnte nicht mehr gehen. In meinen Armen starb die kleine Evi nach drei Stunden. Der Doktor Müller aus Temeswar war sehr anständig, aber in diesem Fall konnte er nicht mehr helfen. Evi hatte eine Enzephalitis. Ihre Schwester hatte bemerkt, daß etwas in unserem Zimmer los war, ahnte aber nicht, daß ihre Schwester im Sterben liegt.. Neben dem Dnjepr haben die Russen einen Friedhof für unsere Toten gemacht. Viele starben später an Typhus.
      Wegen Vitaminmangel litten viele an Ausschlägen. Eine Wunde stand neben der anderen, sie waren tief und näßten, so daß einem die Kleider am Körper anklebten, man konnte sich nicht einmal waschen. Einmal im Monat gingen wir ins öffentliche Bad in die Stadt. Es gab dort ringsum an den Wänden Wasserhähne und Bänke. Jeder erhielt eine kleine Schüssel voll Wasser. Beim Hineingehen lieferten wir unsere Kleider in einer Kammer ab, wo sie entlaust wurden.
      Nach so einem Bad gingen wir einmal durch die Stadt. Es war sehr kalt und es regnete. Neben mir ging ein kleines blondes Mädchen mit einem Brot in der Hand. "Tante", sprach sie mich an, "ihr fahrt bald nach Hause, sagen meine Eltern, denn ihr habt Kinder, die auf euch warten. Hast du auch Kinder?" "Nein, aber die Frau dort vorne hat zwei." Darauf nahm sie ein Stückchen Brot, das sie zusätzlich zur Ration erhalten hatte, und reichte es der Frau: "Nimm, Tante, und iß, damit du nach Hause fahren kannst zu deinen Kindern!" Die Geste des Mädchens hat mich gerührt.
      Es war schön, daß die Jugend sich immer wieder aufrichtete. Vor Weihnachten haben wir allerlei gesammelt, Handarbeiten der Frauen und von den Männern kleine Kaffeetassen oder Schmuck, die sie aus Aluminiumresten herstellten. Doktor Müller verkleidete sich als Weihnachtsmann und zwei kleine Schwestern waren die "Engel", die uns der Reihe nach ein Geschenk überreichten, nachdem an jeden ein paar Worte gerichtet wurden. Die Russen borgten uns ihren Weihnachtsschmuck für den Weihnachtsbaum und sie schauten uns zu, wie wir feierten. Sie waren ganz erstaunt: "Wie könnt ihr euch in dieser Misere noch aufrichten?" fragten sie uns. Nicht alles geht durch den Magen, der Mensch braucht auch etwas für seinen Geist. Um Musikinstrumente zu kaufen, haben wir im Winter Eis geschlagen, das wir in einer Höhle aufbewahrten und im Sommer verkauften. Mit langen Eisenstangen haben wir 70-80 Zentimeter dickes Eis auf dem Dnjepr gebrochen.
      Einmal haben die Russen mich mit der Leni in die Stadt geschickt, um Mistbehälter zu bauen. Die Leni hat mir die Ziegel und den Mörtel gebracht und ich habe gemauert. Plötzlich zupfte mich Leni am Ärmel und zeigte mir eine Henne? die sie unter ihrem schwäbischen Kittel versteckt hatte. Sie hatte einen Maiskolben gestohlen und Mais bis hinter eine Mauer gestreut und dort hatte sie der Henne schnell den Hals umgedreht. Sie war ja vom Dorf und wußte, wie man das anstellt. Die Russen wußten, daß Leni ab und zu stahl, aber sie fanden nie den Mais, den sie unter den weiten Röcken mit einem Draht festband.
      Unsere Schuhe waren aus Stoff und hatten Holzsohlen. Weil sie mir zu groß waren, riß ich von meinem Mantel die Taschen ab und wickelte sie um die Füße. Es war gut, daß damals die großen Tasche Mode waren! - Abends band ich mir ein Handtuch und ein Kopftuch um den Kopf und darüber zog ich vor dem Einschlafen die Kapuze meines Mantels. Eines Morgens konnte ich meinen Kopf nicht mehr bewegen, denn die Kapuze war am Zeltdach angefroren.
      Der Reihe nach löste man die Lager später auf und zu uns brachte man diejenigen, die noch nicht nach Hause fahren durften. Damals hatte ich Glück, daß die Russen mich mit noch zwei Frauen und fünf Männern in einen Zug steckten, der Gefangene nach Carei bringen sollte. Ich war krank, hatte Enzephalitis und war vor Unterernährung ganz angeschwollen, so daß ich dachte, nicht mehr zu Hause anzukommen. Gott sei Dank hinterließ die Krankheit bei mir keine schweren Folgen. Am 19. Juli `48 kam ich nach Hause. Es waren schwere Zeiten, aber sie sind nun hoffentlich für immer vorbei.
      (Aufgezeichnet von Renate Göckler)
      Avatar
      schrieb am 10.07.03 12:36:51
      Beitrag Nr. 155 ()
      Noch aktueller:
      Den folgenden Text kann man übrigens erst seit 1998 auch in rumänischer Übersetzung in rumänischen Bibliotheken finden (der geneigte Leser darf nun rätseln, um welches Buch es sich dabei handelt, wobei "for4zim" nicht miträtseln darf, weil er es mal billiger kaufen konnte ;) ) und der folgende Text bietet in gewisser Weise auch eine Antwort auf das Posting # 102 von Leghorn ("revolutionäre Gewalt" und ihr Ursprung), auf das zu antworten ich leider vergessen hatte:

      Der Text ist ziemlich lang und ich bitte um Entschuldigung, falls es "W: O " überfordern sollte und ein Teil davon verschwindet. Falls dem so sein sollte, bringe ich gleich eine Fortsetzung.

      >>Wer ist grausamer im Russischen Bürgerkrieg gewesen, die Weißen oder die Roten? Wahrscheinlich sind beide gleich grausam. Denn die einen wie die anderen sind von Russen geführte Russen. Im übrigen wird die Geschichte die Frage nach der größeren Grausamkeit ganz klar beantworten: Der Aktivere ist der Grausamere.«
      (Maxim Gorki, Le Paysan russe, in: Le Sagittaire, 1924, S. 126 f.)
      Doch seit Mitte des 19. Jahrhunderts schien Rußland einen gemäßigteren, westlicheren, demokratischeren Kurs eingeschlagen zu haben. 1861 schaffte Zar Alexander II. die Leibeigenschaft ab und befreite die Bauern. Er schuf die Semstwo genannten Organe der lokalen Selbstverwaltung. Mit dem Ziel, einen Rechtsstaat aufzubauen, führte er 1864 eine unabhängige Justiz ein. Die Universitäten, die Künste, die Zeitschriften blühten auf. 1914 war der Analphabetismus unter der Landbevölkerung, die 85 % der Gesamtbevölkerung ausmachte, zu einem großen Teil beseitigt. Die Gesellschaft schien von einer zivilisatorischen Strömung getragen, die die Gewaltausübung auf allen Ebenen verringerte. Selbst die gescheiterte Revolution von 1905 verstärkte noch einmal die demokratische Bewegung in der Gesellschaft als Ganzem. Es ist paradox, daß genau zu dem Zeitpunkt, an dem ein Sieg der Reform über Gewalt, Obskurantismus und Rückständigkeit möglich schien, der Krieg alles zunichte machte und am 1. August 1914 in Europa Massengewaltausübung in heftigster Form losbrach.
      Martin Malia schreibt: »In Aeschylos` >Orestie< zeugt ein Verbrechen das andere, bringt Gewalt neue Gewalt hervor, bis das erste Verbrechen, die Erbsünde des Geschlechts, durch anhaltendes Leiden gesühnt ist. Wie der Fluch, der auf dem Geschlecht der Atriden lag, kam das Blut von 1914 über das Haus des modernen Europa und löste eine Welle der Gewalt aus, die als Krieg und Bürgerkrieg unser Zeitalter beherrschte. Die Gewalt und der Blutzoll des Krieges standen zu jedem denkbaren Gewinn, den eine der Parteien sich erhoffen mochte, in keinem Verhältnis mehr. Aus dem Kriegsgeschehen ging die russische Revolution und damit die bolschewistische Machtergreifung hervor.« Lenin hätte dieser Analyse nicht widersprochen. Schließlich forderte er schon 1914, »den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg zu verwandeln«, und prophezeite, daß aus dem kapitalistischen Krieg die sozialistische Revolution hervorgehen werde.
      Gewalttätigkeit wütete vier Jahre lang, ein ununterbrochenes, sinnloses Abschlachten, in dem 8,5 Millionen Kriegsteilnehmer den Tod fanden. Es entsprach einem Krieg neuen Typs, der von General Ludendorff als »totaler Krieg« definiert wurde und bis in den Tod Militärs und Zivilisten gleichermaßen einbezog. Dennoch blieb dieser Gewaltausbruch, der ein in der Weltgeschichte bis dahin nicht gekanntes Niveau erreichte, begrenzt durch eine ganze Reihe völkerrechtlicher Gesetze und Gebräuche.
      Andererseits hat der tägliche Umgang mit Hunderten und Tausenden Toter, oft unterfürchterlichen Umständen -das Giftgas, Menschen lebend begraben unter dem Pfeifen der Granaten, das langsame Sterben zwischen den Linien - die Gewissen erheblich beschwert und die psychologische Abwehr der Menschen gegen den Tod - den eigenen wie den des Nächsten - geschwächt. Eine Art Betäubung konnte entstehen, ja sogar eine gewisse Desensibilisierung. Karl Kautsky, der wichtigste Führer und Theoretiker der deutschen Sozialisten, kam darauf 1920 zurück: »Die Hauptursache der Umkehrung des Ganges der bisherigen Entwicklung zur Humanität in eine Entwicklung zur Brutalität ist im Weltkrieg zu suchen. [...]Als ... der Weltkrieg ausbrach und vier Jahre lang fast die gesamte gesunde männliche Bevölkerung in seinen Bann zog, da wurden die verrohenden Tendenzen des Militarismus auf den Gipfel der Gefühllosigkeit und Bestialität gesteigert, da konnte sich auch das Proletariat ihnen nicht mehr entziehen. Es wurde in hohem Maße von ihnen angesteckt, kehrte in jeder Beziehung verwildert heim. Der Heimkehrer war durch die Kriegssitten nur zu oft in eine Stimmung gebracht worden, die ihn bereit machte, im Frieden den eigenen Landsleuten gegenüber seine Ansprüche und Interessen mit Gewalttat und Blutvergießen zu vertreten. Das wurde zu einem Element des Bürgerkriegs.«"
      Paradoxerweise hat kein bolschewistischer Führer am Krieg teilgenommen, sei es, weil sie im Exil waren, wie Lenin, Trotzki und Sinowjew, sei es, daß sie ins hinterste Sibirien verbannt waren, wie Stalin und Kamenew. In ihrer Mehrzahl Akademiker oder Debattenredner ohne militärische Erfahrung, hatten sie nie an einem wirklichen Kampf mit wirklichen Toten teilgenommen. Bis zu ihrer Machtergreifung waren die Kriege, die sie ausfochten, verbaler, ideologisch-politischer Natur. Ihre Vorstellungen vom Tod, vom Massaker, von der Menschheitskatastrophe waren abstrakt.
      Diese persönliche Unkenntnis der Schrecken des Kriegs hat möglicherweise die folgende Brutalität begünstigt. Die Bolschewiken entwickelten eine im wesentlichen theoretische Klassenanalyse, die den tiefverwurzelten nationalen beziehungsweise nationalistischen Aspekt des Ersten Weltkriegs übersah. Sie schrieben dem Kapitalismus die Verantwortung für das Massaker zu und rechtfertigten somit a priori die revolutionäre Gewalt: Indem die Revolution die Herrschaft des Kapitalismus beenden würde, würde sie diesen Massakern ein Ende setzen, koste es auch die Vernichtung einer »Handvoll« verantwortlicher Kapitalisten. Eine makabre Spekulation, die auf der völlig irrigen Hypothese fußte, Böses sei mit Bösem zu bekämpfen. Aber in den zwanziger Jahren trug ein bestimmter, vom Protest gegen den Krieg genährter Pazifismus dem Kommunismus häufig Anhänger zu.

      Letztlich bleibt, wie Francois Furet in »Das Ende der Illusion« hervorhebt, das Resümee: »Der Krieg wird von Massen einberufener Zivilisten be
      stritten, die von der bürgerlichen Selbstbestimmung zu militärischem Gehorsam übergewechselt sind und nicht wissen, für welchen Zeitraum; man schickt sie in eine Feuerhölle, in der >Durchhalten< mehr gilt als Kalkül, Wagnis oder Sieg. Nie zuvor war dem militärischen Dienst weniger Würde beschieden als in den Augen dieser Millionen an die Front verfrachteter Männer, die soeben erst die sittliche Welt bürgerlicher Rechtsordnung verlassen hatten. [...] Der Krieg ... ist der für den Bürger unfaßbarste politische Zustand. Seine Notwendigkeit gründet sich in Leidenschaften, nicht in Interessenlagen, die zum Einlenken führen könnten, und noch weniger in der Vernunft, die eine Annäherung zwischen den Menschen bewirken könnte. [...] Die kriegführende Armee bildet eine Sozialordnung, in der das Individuum nicht mehr existiert und deren Unmenschlichkeit zugleich die Ursache ihrer fast unerschütterlichen Erstarrung ist.«`z Der Krieg hat von neuem die Gewalttätigkeit und die Mißachtung des einzelnen Menschen legitimiert und gleichzeitig eine noch in den Kinderschuhen steckende demokratische Kultur geschwächt und eine Kultur des Sklaventums neu belebt.
      Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts befand sich die russische Wirtschaft in einer Phase dynamischen Wachstums. Die Gesellschaft baute ihre Autonomie täglich aus. Plötzlich legten die außerordentlichen Zwänge, die der Krieg sowohl auf die Menschen als auch auf die Produktion und die Strukturen ausübte, die Grenzen des politischen Systems frei. Dem Mann an der Spitze des Regimes mangelte es an Energie und Weitsicht, die die Lage vielleicht gerettet hätten. Die Revolution vom Februar 1917 war die Antwort auf eine Katastrophensituation und nahm einen klassischen Verlauf eine bürgerlich-demokratische Revolution mit der Wahl einer konstituierenden Versammlung, die gleichzeitig eine soziale Revolution der Arbeiter und Bauern war. Der Staatsstreich der Bolschewiken vom 7. November 1917 stürzte alles um. Die Revolution trat in eine Phase der allgemeinen Gewalttätigkeiten ein. Es bleibt eine Frage: Warum kam es in Europa nur in Rußland zu einem solchen Umsturz?
      Gewiß tragen der Erste Weltkrieg und die Tradition der Gewalt in der russischen Geschichte zum Verständnis des Kontexts bei, in dem die Bolschewiken an die Macht gelangten. Sie erklären aber nicht den außerordentlich brutalen Weg, den diese von vornherein einschlugen und der in scharfem Kontrast zu der im Februar 1917 begonnenen Revolution steht, die in ihren Anfängen einen im wesentlichen friedlichen und demokratischen Charakter aufwies. Der Mann, der diese Gewaltsamkeit durchsetzte, wie er auch seiner Partei die Machtergreifung aufzwang, war Lenin.

      Lenin errichtete eine Diktatur, die sich sehr rasch als terroristisch und blutig herausstellte. Die revolutionäre Gewalt trat nicht länger reaktiv auf, als Abwehrreflex gegen die seit Monaten von der Bildfläche verschwundenen zaristischen Truppen, sondern als eine aktive Kraft, die die alte russische Tradition der Brutalität und Grausamkeit belebte und die latente Gewalt der sozialen Revolution schürte. Zwar begann der Terror »offiziell« erst am 2.. September 1918, doch gab es einen »Terror vor dem Terror«. Lenin organisierte ihn von November 1917 an, wohlüberlegt und ohne mit offenem Widerstand der anderen Parteien oder der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen konfrontiert zu sein. Am 4. Januar 1918 ließ er die erstmals in der Geschichte Rußlands aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene Konstituierende Versammlung auflösen und auf deren in den Straßen protestierende Anhänger schießen.
      Diese erste Phase des Terrorismus wurde sofort von einem russischen Sozialisten, dem Menschewistenführer Juri Martow, scharf kritisiert. Er schrieb im August 1918: »Von den ersten Tagen ihrer Machtergreifung an und obwohl sie die Todesstrafe für abgeschafft erklärt hatten, begannen die Bolschewiken zu töten. Sie töteten die Gefangenen des Bürgerkriegs, wie es alle Wilden tun. Sie töteten die Feinde, die sich nach der Schlacht ergeben hatten auf das Versprechen hin, daß ihr Leben verschont werde. [...] Nachdem derartige Massaker von den Bolschewiken organisiert oder auch toleriert worden waren, nahmen die Machthaber die Liquidierung ihrer Feinde selbst in die Hand. [...] Nachdem sie Zehntausende von Menschen ohne Gerichtsurteil ausgelöscht hatten, gingen die Bolschewiken dann dazu über, in aller Form hinzurichten. So bildeten sie ein neues oberstes Revolutionstribunal, um über die Feinde der Sowjetmacht zu Gericht zu sitzen.«
      Martow hatte düstere Vorahnungen: »Die Bestie hat das warme Blut des Menschen geleckt. Die Maschinerie zur Tötung des Menschen ist in Gang gesetzt. Die Herren Medwedjew, Bruno, Peterson, Karelin - die Richter des Revolutionstribunals - haben ihre Ärmel aufgekrempelt und sich zu Schlächtern gemacht. [...] Doch Blut ruft Blut herbei. Der von den Bolschewiken seit Oktober organisierte politische Terror hat seine blutigen Dämpfe über Rußland verbreitet. Der Bürgerkrieg verschärft die Grausamkeiten, erniedrigt die Menschen zur Zügellosigkeit und Wildheit. Mehr und mehr vergessen sie die großartigen Prinzipien der wahren Menschlichkeit, die der Sozialismus immer gelehrt hat.« Dann wendet sich Martow an Radek und Rakowski, zwei Sozialisten, die sich den Bolschewiken angeschlossen hatten, der eine ein polnischer Jude, der andere rumänisch-bulgarischer Herkunft: »Sie sind zu uns gekommen, um unsere uralte, von den Zaren genährte Barbarei zu kultivieren, um auf dem alten russischen Altar des Mordens zu weihräuchern, um die Mißachtung des Lebens des anderen bis zu einem selbst in unserem wilden Land bisher nicht gekannten Grad zu treiben, um schließlich das panrussische Werk der Henkersherrschaft zu organisieren. [...] Der Henker ist zur zentralen Figur des russischen Lebens geworden!«
      Im Unterschied zur Schreckensherrschaft der Französischen Revolution, die, abgesehen von der Vendee, nur eine kleine Schicht der Bevölkerung traf, zielt der Terror unter Lenin auf alle politischen Gruppierungen und sämtliche Schichten der Bevölkerung: auf Adel, Großbürgertum, Militär, Polizei, aber auch auf konstitutionelle Demokraten, Menschewiken, Sozialrevolutionäre wie auch auf das Volk in seiner Masse, auf Bauern und Arbeiter. Die Intellektuellen wurden besonders schlecht behandelt. Am 6. September 1919, nach der Verhaftung mehrerer Dutzend führender Intellektueller, schrieb Gorki an Lenin einen wütenden Brief. »Für mich bemißt sich der Reichtum eines Landes, die Kraft eines Volkes nach der Quantität und Qualität seines intellektuellen Potentials. Die Revolution hat nur Sinn, wenn sie das Wachstum und die Entwicklung dieses Potentials begünstigt. Die Wissenschaftler müssen mit einem Höchstmaß an Zuvorkommenheit und Respekt behandelt werden. Doch wir, während wir unsere Haut retten, schlagen den Kopf des Volks ab, wir zerstören unser Hirn.«"
      Lenins Antwort war so brutal wie Gorkis Brief hellsichtig: »Die >intellektuellen Kräfte< des Volkes mit den >Kräften< der bürgerlichen Intellektuellen in einen Topf zu werfen - das ist nicht richtig. [. . . ] Die intellektuellen Kräfte der Arbeiter und Bauern wachsen und festigen sich im Kampf für den Sturz der Bourgeoisie und ihrer Helfershelfer, der Intelligenzler, der Lakaien des Kapitals, die sich einbilden, das Hirn der Nation zu sein. In Wirklichkeit ist das kein Hirn, sondern Dreck.«" Diese Anekdote über die Intellektuellen ist ein erster Hinweis auf die tiefe Verachtung, die Lenin für seine Zeitgenossen hegte, auch für die bedeutendsten Köpfe unter ihnen. Bald nach der Zeit der Verachtung kam die Zeit des Mordens.

      Lenins vorrangiges Ziel war es, sich möglichst lange an der Macht zu halten. Nach zehn Wochen, als die Dauer der Pariser Kommune überschritten war, fing er an, von mehr zu träumen. Seine Entschlossenheit, an der Macht zu bleiben, wuchs ins Ungeheure. Die Geschichte war an einer Wegscheide angekommen, und die russische Revolution, nunmehr in Händen der Bolschewiken, schlug eine bis dahin unbekannte Richtung ein.
      Warum war der Machterhalt so wichtig, daß er alle Mittel und die Aufgabe der elementarsten moralischen Grundsätze rechtfertigte? Weil Lenin nur so seine Ideen in die Tat umsetzen, »den Sozialismus aufbauen« konnte. Die Antwort offenbart das eigentliche Motiv des Terrors: die leninistische Ideologie und der völlig utopische Wille, eine Doktrin anzuwenden, die keinerlei Bezug zur Realität hat.
      In diesem Zusammenhang ist die Frage berechtigt, was denn am Leninismus vor 1914 und vor allem nach 1917 marxistisch sei. Gewiß ging Lenin von einigen marxistischen Grundbegriffen aus: dem Klassenkampf, der Gewalt als Geburtshelfer der Geschichte, der geschichtlichen Berufung des Proletariats. Aber schon 1902 forderte er, wie in seiner berühmten Schrift »Was tun?« dargelegt, eine neue Konzeption der revolutionären Partei als Untergrundorganisation von Berufsrevolutionären mit quasi-militärischer Disziplin. Er nahm das Modell Netschajews auf, entwickelte es weiter und entfernte sich damit weit von den Auffassungen der großen sozialistischen Organisationen in Deutschland, England und selbst Frankreich.
      1914 kam es zum definitiven Bruch mit der Zweiten Internationale.
      Während sich die sozialistischen Parteien angesichts der Gewalt der nationalistischen Gefühlsausbrüche praktisch geschlossen hinter ihre jeweiligen Regierungen stellten, verlegte sich Lenin auf eine theoretische Flucht nach vorn: Er sagte die »Verwandlung des imperialistischen Kriegs in einen Bürgerkrieg« voraus. Während nüchterne Überlegungen zu dem Schluß führten, daß die sozialistische Bewegung noch nicht stark genug sei, um dem Nationalismus zu wehren, und daß sie nach einem unvermeidlichen Krieg - denn man hatte ihn nicht vermeiden können - ihre Kräfte neu sammeln müsse, um neuerliche kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern, siegte bei Lenin die revolutionäre Leidenschaft: Er legte ein Bekenntnis ab, schlug eine Wette vor, setzte alles auf eine Karte. Zwei Jahre lang schien seine Prophezeiung sinnlos. Dann gab es plötzlich eine großartige Überraschung: In Rußland brach die Revolution aus. Lenin war überzeugt, daß darin eine eindeutige Bestätigung seiner Vorhersage zu sehen sei. Der Voluntarismus Netschajews siegte über den marxistischen Determinismus.
      Wenn die Diagnose bezüglich der Möglichkeit der Machtergreifung auch genauestens zutraf, erwies sich die Hypothese, daß Rußland bereit sei, den Weg des Sozialismus einzuschlagen und dadurch enorme Fortschritte machen werde, als grundfalsch. In dieser fehlerhaften Einschätzung liegt ein wichtiger Grund für den Terror: das Mißverhältnis zwischen der Realität einem Rußland, das die Freiheit wollte - und dem Willen Lenins, die absolute Macht zu erringen, um eine Doktrin auszuprobieren.
      Schon 1920 stellt Trotzki diese gnadenlose Verkettung deutlich heraus: »Es ist ganz klar, daß es, wenn man sich die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln als Aufgabe stellt, dafür keinen anderen Weg gibt als die Konzentration aller Staatsmacht in den Händen des Proletariats, die Schaffung einer Ausnahmeregierung während der Übergangszeit. [...] Die Diktatur ist unerläßlich, denn es geht nicht um partielle Änderungen, sondern um die Existenz der Bourgeoisie. Auf dieser Basis ist kein Kompromiß möglich, nur die Gewalt kann entscheiden. [...] Wer den Zweck will, kann vor den Mitteln nicht zurückschrecken.«
      In der Zwickmühle zwischen seiner Entschlossenheit, seine Lehre anzuwenden, und der Notwendigkeit, an der Macht zu bleiben, erfand Lenin den Mythos der bolschewistischen Weltrevolution. Bereits 1917 wollte er daran glauben, daß das Feuer der Revolution alle am Krieg beteiligten Länder, in erster Linie Deutschland, verwüsten werde. Doch eine Weltrevolution fand nicht statt. Nach der deutschen Niederlage im November 1918 entstand ein neues Europa, das sich um die in Ungarn, Bayern und auch in Berlin rasch erloschenen revolutionären Funken nicht kümmerte. Daß die leninistische Theorie von der europäischen und Weltrevolution versagt hatte, trat bei der Niederlage der Roten Armee 1920 bei Warschau offen zutage, wurde aber erst 1923, nach dem Scheitern der deutschen Revolutionsbewegung, eingestanden. Die Bolschewiken standen nun allein da, alleingelassen mit einem völlig anarchischen Rußland. Mehr als je zuvor stand Terror auf der Tagesordnung. Der Terror ermöglichte es, an der Macht zu bleiben, mit der Umgestaltung der Gesellschaft entsprechend der Theorie zu beginnen und all die mundtot zu machen, die durch ihr Reden, durch ihr Verhalten oder durch ihre bloße Existenz (sozial, ökonomisch, intellektuell) auf die Hohlheit der Doktrin hinwiesen. Die Utopie an der Macht wurde zur mörderischen Utopie.
      Dieses doppelte Mißverhältnis zwischen marxistischer und leninistischer Theorie und später zwischen der leninistischen Theorie und der Realität führte zur ersten Grundsatzdebatte über die Bedeutung der russisch-bolschewistischen Revolution. Schon im August 1918 hatte Kautsky ein unwiderrufliches Urteil gefällt: »Auf keinen Fall brauchen wir anzunehmen, daß sich in Westeuropa die Vorgänge der großen französischen Revolution wiederholen werden. Wenn das heutige Rußland soviel Ähnlichkeit mit dem Frankreich von 1793 aufweist, so beweist das nur, wie nahe es dem Stadium der bürgerlichen Revolution steht. [...] Was sich jetzt dort abspielt, ist tatsächlich die letzte der bürgerlichen, nicht die erste der sozialistischen Revolutionen.«
      Damals ereignete sich etwas Wichtiges: Der Stellenwert der Ideologie in der sozialistischen Bewegung änderte sich total. Schon vor 1917 hatte sich Lenin fest davon überzeugt gezeigt, daß er als einziger die wahre sozialistische Lehre besitze und den wahren »Sinn der Geschichte« entschlüsseln könne. Der Ausbruch der russischen Revolution und vor allem die Machtergreifung schienen ihm »Zeichen des Himmels«, ein schlagender, unumstößlicher Beweis dafür, daß seine Ideologie und seine Analyse unfehlbar seien". Nach 1917 werden seine Politik und die zugehörigen theoretischen Ausarbeitungen Lenins zum Evangelium. Die Ideologie verwandelt sich in ein Dogma, in eine absolute, universale Wahrheit. Diese Sakralisierung hat unmittelbare Konsequenzen, die Cornelius Castoriadis genau beschrieben hat: »Wenn es nun also eine wahre Theorie der Geschichte gibt und in den Dingen eine Vernunft am Werk ist, dann muß die Lenkung dieser Entwicklung natürlich Spezialisten anvertraut werden, die sich mit dieser Theorie auskennen, mit anderen Worten: den Technikern dieser Vernunft. Die absolute Macht der Partei [...] besitzt philosophischen Status. Sie hat ihren Vernunftgrund in der >materialistischen Geschichtsauffassung<. [...] Wenn diese Geschichtsauffassung wahr ist, muß die Macht der Partei absolut sein; Demokratie ist dann allenfalls ein Zugeständnis an die menschliche Fehlbarkeit der Führer oder eine pädagogische Maßnahme, deren richtige Dosierung von den Führern zu verordnen ist.«
      Der Aufstieg der Ideologie und Politik in den Rang einer absoluten, weil »wissenschaftlichen« Wahrheit begründet die »totalitäre« Dimension des Kommunismus. Diese Wahrheit kommandiert die Einheitspartei, rechtfertigt den Terror und verpflichtet schließlich die Machthaber, sämtliche Aspekte des sozialen und individuellen Lebens zu beherrschen.
      Lenin bekräftigt die Richtigkeit seiner Ideologie, indem er sich zum Vertreter des russischen Proletariats erklärt, dessen Zahl aber gering ist und das er nicht zögern wird zu vernichten, sobald es revoltiert. Diese Inanspruchnahme des Proletarischen gehörte zu den großen Schwindeleien des Leninismus. 1922 veranlaßte sie Alexander Schljapnikow, einen der wenigen bolschewistischen Führer, die aus der Arbeiterschaft kamen, zu einer kaltblütigen Anmerkung. Auf dem XI. Parteitag kritisierte er Lenin: »Wladimir Iljitsch hat gestern behauptet, das Proletariat existiere als Klasse im marxistischen Sinne nicht [in Rußland]. Erlauben Sie mir, Sie dazu zu beglückwünschen, daß Sie die Diktatur im Namen einer Klasse ausüben, die nicht existiert!« Die Manipulation des Symbols »Proletariat« findet sich in allen kommunistischen Diktaturen Europas und der Dritten Welt wieder, von China bis Kuba.
      Hierin liegt ein wesentliches Kennzeichen des Leninismus: in der Manipulation der Sprache, in der Abkoppelung der Wörter von der Realität, die sie darstellen sollen, in einer abstrakten Vision, in der die Gesellschaft und die Menschen jegliche Konsistenz verloren haben und nur noch Teile einer Art historisch-sozialen Metallbaukastens sind. Diese mit dem ideologischen Ansatz eng verbundene Abstraktion ist eine Grundgegebenheit des Terrors: Man löscht nicht Menschen aus, sondern »Bourgeois«, »Kapitalisten«, »Volksfeinde«. Nicht Nikolaus II. und seine Familie werden umgebracht, sondern »Feudalherren«, »Blutsauger«, Parasiten, Flöhe ...
      Dieser ideologische Ansatz bekam bald beträchtliches Gewicht, weil es ihm gelang, sich die Macht des Staats zu sichern, der Legitimität, Ansehen und Mittel verschafft.

      Im Namen der Wahrheit ihrer Botschaft gingen die Bolschewiken von der symbolischen Gewalt zur tatsächlichen Gewaltanwendung über und errichteten eine absolute, willkürliche Herrschaft. Sie nannten sie »Diktatur des Proletariats« und nahmen damit einen Ausdruck auf, den Marx zufällig in einem Briefwechsel gebraucht hatte. Darüber hinaus zeigen die Bolschewisten ein ungeheures Sendungsbewußtsein. Sie vermitteln neue Hoffnung, indem sie den Eindruck erwecken, der revolutionären Botschaft ihre Reinheit wiederzugeben. Diese Hoffnung findet rasch Anklang, sowohl bei denen, die bei der Heimkehr aus dem Krieg von einem Wunsch nach Rache beseelt sind, als auch bei denen - häufig denselben -, die von einer Erneuerung des Revolutionsmythos träumen. Abrupt gewinnt der Bolschewismus universale Tragweite und Anhänger auf allen Kontinenten. Der Sozialismus steht am Scheideweg: Demokratie oder Diktatur.
      Mit seinem im Sommer 1918 geschriebenen Buch »Die Diktatur des Proletariats« legt Kautsky den Finger auf die Wunde. Als die Bolschewiken erst sechs Monate an der Macht sind und lediglich einige Anzeichen die Tausende von Todesopfern ahnen lassen, die ihr politisches System fordern wird, stellt er heraus, worum es eigentlich geht: »Der Gegensatz der beiden sozialistischen Richtungen [...] ist der Gegensatz zweier grundverschiedener Methoden: der demokratischen und der diktatorischen. Beide Richtungen wollen dasselbe: das Proletariat und damit die Menschheit durch den Sozialismus befreien. Aber den Weg, den die einen gehen, halten die anderen für einen Irrweg, der ins Verderben führt. [...] Freilich stellen wir uns mit der Forderung freiester Diskussion schon auf den Boden der Demokratie. Die Diktatur heischt nicht Widerlegung der gegnerischen Ansicht, sondern die gewaltsame Unterdrückung ihrer Äußerung. So stehen sich die beiden Methoden der Demokratie und der Diktatur schon unversöhnlich gegenüber, ehe die Diskussion begonnen hat. Die eine fordert, die andere verbietet sie.«
      Kautsky stellt die Demokratie in den Mittelpunkt seiner Überlegungen und führt aus: »Ihre kraftvollste Stütze findet die Diktatur einer Minderheit stets in einer ergebenen Armee. Aber je mehr sie die Gewalt der Waffen an die Stelle der Majorität setzt, desto mehr drängt sie auch jede Opposition dahin, ihr Heil im Appell an die Bajonette und Fäuste zu suchen statt im Appell an die Wahlstimmen, der ihr versagt ist; dann wird der Bürgerkrieg die Form der Austragung politischer und sozialer Gegensätze. Wo nicht vollständige politische und soziale Apathie und Mutlosigkeit herrscht, wird die Diktatur einer Minderheit stets von gewaltsamen Putschen oder einem ständigen Guerillakrieg bedroht. [...] Diese kommt dann aus dem Bürgerkrieg nicht mehr heraus, ist in steter Gefahr, durch ihn gestürzt zu werden.
      Für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft gibt es aber kein größeres Hindernis wie den inneren Krieg. [...] Im Bürgerkrieg kämpft jede Partei um ihre Existenz, droht dem Unterliegenden völlige Vernichtung. Dieses Bewußtsein macht die Bürgerkriege leicht so grausam.«
      Diese warnende Analyse schrie geradezu nach einer Antwort. Voller Wut und ungeachtet der vernichtenden Kritik schrieb Lenin einen berühmt gewordenen Text: »Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky«. Schon der Titel zeigte die Wendung an, die die Diskussion genommen hatte, oder, wie Kautsky vorhergesagt hatte, die Verweigerung der Diskussion. Lenin definiert hier den Kern seines Denkens und Handelns: »In den Händen der herrschenden Klasse ist der Staat eine Maschinerie zur Vernichtung des Widerstands der gegnerischen Klasse. So gesehen unterscheidet sich die Diktatur des Proletariats im Grunde in nichts von der Diktatur jeder anderen Klasse, denn der proletarische Staat ist eine Maschine zur Vernichtung der Bourgeoisie.« Diese sehr summarische, reduzierende Auffassung vom Staat bringt ihn dazu, das Wesen dieser Diktatur aufzudecken: »Die Diktatur ist eine sich unmittelbar auf Gewalt stützende Macht, die an keine Gesetze gebunden ist. Die revolutionäre Diktatur des Proletariats ist eine Macht, die erobert wurde und aufrechterhalten wird durch die Gewalt des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie, eine Macht, die an keine Gesetze gebunden ist.«
      Der zentralen Frage nach der Demokratie weicht Lenin mit einer Pirouette aus: »Die proletarische Demokratie, deren eine Form die Sowjetmacht ist, hat gerade für die gigantische Mehrheit der Bevölkerung, für die Ausgebeuteten und Werktätigen, eine in der Welt noch nie dagewesene Entwicklung und Erweiterung der Demokratie gebracht.« Diesen Ausdruck muß man sich merken: »proletarische Demokratie«. Jahrzehntelang wird er als Schlagwort dazu dienen, die schlimmsten Verbrechen zu verschleiern.

      Der Streit zwischen Kautsky und Lenin hebt die beiden mit der bolschewistischen Revolution auftretenden Grundtendenzen hervor- einen Marxismus, der sich an unterstellte »Gesetzmäßigkeiten der Geschichte« halten will, und einen aktivistischen Subjektivismus, dem alles recht ist, was die revolutionäre Leidenschaft nährt.
      Die unterschwellige Spannung, die im Werk Karl Marx` zwischen dem Messianismus des »Kommunistischen Manifests« von 1848 und der kühlen Analyse der Gesellschaftsentwicklung im »Kapital« besteht, verwandelt sich durch die Auswirkung dreier Ereignisse - des Ersten Weltkriegs, der Februar- und der Oktoberrevolution - in einen tiefen, unheilbaren Riß, der aus Sozialisten und Kommunisten die berühmtesten feindlichen Brüder des zwanzigsten Jahrhunderts machen wird. Was in diesem Streit auf dem Spiel steht, ist nach wie vor von Bedeutung: Demokratie oder Diktatur, Menschlichkeit oder Terror.
      Besessen von revolutionärer Leidenschaft machen sich die beiden Hauptakteure dieser ersten Phase der bolschewistischen Revolution, Lenin und Trotzki, angesichts der sich überstürzenden Ereignisse daran, ihr Handeln mit Theorie zu unterlegen. Genauer gesagt: Sie bringen die Schlußfolgerungen, die ihnen die Entwicklung nahelegt, in ideologische Form. Sie erfinden die permanente Revolution: Die Lage in Rußland läßt es zu, von der bürgerlichen Revolution im Februar direkt zur proletarischen Revolution im Oktober überzugehen. Der Verwandlung der permanenten Revolution in permanenten Bürgerkrieg wird das passende ideologische Mäntelchen umgehängt.
      Hier kann man den Einfluß des Kriegs auf die Haltung der Revolutionäre in seiner ganzen Tragweite ermessen. Trotzki schreibt: »Kautsky sieht im Krieg, in seinem fürchterlichen Einfluß auf die Sitten, einen der Gründe für den blutigen Charakter des revolutionären Kampfs. Das ist unbestreitbar.« Doch daraus ziehen die beiden Männer nicht dieselbe Schlußfolgerung. Der deutsche Sozialist wird angesichts des Gewichts des Militarismus immer sensibler für die Frage der Demokratie und der Verteidigung des Individuums. Für Trotzki besteht »die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, aus der die zeitgenössische Demokratie entstanden ist, keinesfalls im Prozeß einer allmählichen Demokratisierung, von der vor dem Krieg der größte Utopist der sozialistischen Demokratie, Jean Jaures, träumte, und von der zur Zeit der klügste aller Pedanten, Karl Kautsky, träumt«.
      Trotzki verallgemeinert seine These und spricht »vom erbarmungslosen Bürgerkrieg, der sich über die ganze Welt ausbreitet«. Seiner Meinung nach ist die Welt in eine Phase eingetreten, »in der der politische Kampf sich rasch in Bürgerkrieg verwandelt«, in der bald nur noch zwei Kräfte aufeinander stoßen: »das revolutionäre Proletariat unter Führung der Kommunisten und die konterrevolutionäre Demokratie, an deren Spitze sich Generäle und Admiräle stellen«. Hier liegt ein zweifacher perspektivischer Irrtum vor: Zum einen hat die Geschichte gezeigt, daß der Wunsch nach repräsentativer Demokratie und seine Verwirklichung zu einem weltweiten Phänomen geworden sind, sogar in der Sowjetunion von 1991. Zum anderen neigt Trotzki wie Lenin stark dazu, den ohnehin überzogen interpretierten russischen Fall zu generalisieren. Die Bolschewiken sind davon überzeugt: Weil in Rußland ein Bürgerkrieg - im wesentlichen von ihnen - entfacht wurde, werde und müsse er sich auf Europa und dann auf die ganze Welt ausdehnen. Doch gerade auf dieser doppelten Fehlinterpretation wird die Rechtfertigung des kommunistischen Terrors jahrzehntelang aufbauen.
      Aus diesen Anfängen zieht Trotzki definitive Schlußfolgerungen: »Man kann und muß begreiflich machen, daß wir in Bürgerkriegszeiten die Weißen Garden auslöschen, damit sie nicht die Arbeiter auslöschen. Daher ist es nicht unser Ziel, Menschenleben zu vernichten, sondern zu retten. [...] In der Revolution wie im Krieg geht es darum, den Willen des Feinds zu brechen, ihn zur Kapitulation zu bringen und dazu, daß er die Bedingungen des Siegers akzeptiert. [...] Die Frage, wem die Macht im Land gehören wird, d. h. ob die Bourgeoisie leben oder sterben soll, wird nicht unter Bezugnahme auf Verfassungsartikel gelöst, sondern mittels aller Formen der Gewalt.«" Hier findet man bei Trotzki die Ausdrücke, auf denen bei Ludendorff der Begriff des totalen Kriegs fußt. Die Bolschewiken, die sich für große Neuerer hielten, waren in Wirklichkeit von ihrer Epoche und dem herrschenden extremen Militarismus bestimmt.
      Allein die Bemerkungen Trotzkis über die Pressefreiheit zeigen, wie prägend diese Kriegsmentalität ist
      : »In Kriegszeiten werden alle Institutionen, die Organe der Regierung wie die der öffentlichen Meinung, mittelbar oder unmittelbar Organe zur Kriegsführung. Das betrifft in erster Linie die Presse. Eine Regierung, die ernstlich einen Krieg führt, kann niemals zulassen, daß auf ihrem Territorium Publikationen verbreitet werden, die offen oder verdeckt den Feind unterstützen. Das gilt noch viel mehr in Zeiten des Bürgerkriegs. Zur Natur des Bürgerkriegs gehört es, daß die beiden sich bekämpfenden Lager im Rücken ihrer Truppen Bevölkerungen haben, die mit dem Feind gemeinsame Sache machen. Im Krieg, in dem der Tod über Erfolg und Mißerfolg entscheidet, müssen die feindlichen Agenten, die sich ins Hinterland der Armeen eingeschlichen haben, die Todesstrafe erleiden. Gewiß ein unmenschliches Gesetz, aber bisher hat noch niemand den Krieg als eine Schule der Menschlichkeit betrachtet, und noch viel weniger den Bürgerkrieg.«`
      Die Bolschewiken sind nicht die einzigen, die in diesen Bürgerkrieg verwickelt sind, der in Rußland im Frühsommer 1918 ausbricht und während fast vier Jahren einen Furor der Grausamkeiten auf beiden Seiten entfesselt: Es wird gekreuzigt, gepfählt, bei lebendigem Leib zerteilt und verbrannt. Aber nur die Bolschewiken haben eine Theorie des Bürgerkriegs und bekennen sich zu ihm. Unter dem Einfluß der Doktrin und der vom Krieg eingeführten neuen Sitten wird der Bürgerkrieg für sie zu einer dauerhaften Form des politischen Kampfs. Der Bürgerkrieg der Roten gegen die Weißen verbirgt einen anderen, viel größeren und folgenschwereren Krieg: den Krieg der Roten gegen einen bedeutenden Teil der Arbeiterschaft und einen großen Teil der Bauern, für die vom Sommer 1918 an die bolschewistische Zuchtrute unerträglich zu werden beginnt. In diesem Krieg stehen sich nicht mehr, wie nach dem traditionellen Verständnis, zwei einander bekämpfende politische Gruppierungen gegenüber, sondern die Machthaber und der größere Teil der Gesellschaft. Das ist neu, ein nie dagewesenes Phänomen, das nur dadurch eine gewisse Dauer und ein gewisses Ausmaß erhalten kann, daß ein totalitäres System errichtet wird, das sämtliche gesellschaftlichen Aktivitäten kontrolliert und sich auf Massenterror stützt.
      Die neuerdings mit Archivmaterial durchgeführten Untersuchungen zeigen, daß dieser »schmutzige Krieg« (Nicolas Werth) der Jahre 1918 bis 1921 die eigentliche Matrix des Sowjetregimes war, der Schmelztiegel, aus dem die Männer hervorgingen, die diese Revolution führen und entwickeln würden, der Hexenkessel, in dem die so eigentümliche leninistisch-stalinistische Mentalität zusammengebraut wurde: eine Mischung aus idealistischer Exaltation, Zynismus und unmenschlicher Grausamkeit. Dieser Bürgerkrieg, der sich vom sowjetischen Territorium auf die ganze Welt ausbreitete und so lange dauern sollte, bis der Sozialismus den Planeten erobert hätte, etablierte die Grausamkeit als »normale« Umgangsform unter Menschen. Er ließ die traditionell bestehenden Dämme gegen eine unbedingte, grundsätzliche Gewalt brechen.

      Dennoch quälten die von Kautsky aufgeworfenen Probleme die russischen Revolutionäre von den ersten Tagen der bolschewistischen Revolution an. Isaac Steinberg, ein Sozialist der revolutionären Linken, der sich den Bolschewisten angeschlossen hatte und von Dezember 1917 bis Mai 1918 Volkskommissar für Justiz war, sprach schon 1923 von der bolschewistischen Macht als einem »System des methodischen Staatsterrors« und stellte die zentrale Frage nach den Grenzen der Gewalt in der Revolution: »Der Umsturz der alten Welt, ihr Ersatz in Form eines neuen Lebens, das doch noch dieselben Übel aufweist und von denselben alten Prinzipien vergiftet ist - das stellt den Sozialisten vor eine entscheidende Wahl: die alte [zaristische, bürgerliche] Gewalt oder die revolutionäre Gewalt zum Zeitpunkt des entscheidenden Kampfs. [...] Die alte Gewalt ist nichts als ein kränklicher Schutz für die Versklavung, die neue Gewalt ist der schmerzhafte Weg zur Befreiung. [...] Das entscheidet unsre Wahl: Wir nehmen das Instrument der Gewalt in die Hand, um die Gewalt für immer zu beenden. Denn es gibt keine andere Waffe gegen sie. Hier klafft die moralische Wunde der Revolution. Hier zeigt sich ihre Antinomie, ihr innerer Schmerz, ihr Widerspruch.«` Steinberg fügte hinzu: »Wie der Terror vergiftet die Gewalt (auch in Form von Zwang und Lüge) immer die innersten Gewebe der Seele, zuerst des Be
      siegten und gleich darauf des Siegers, und schließlich der ganzen Gesellschaft.«
      Steinberg war sich der ungeheuren Risiken bewußt, denen sie sich einfach vom Standpunkt der »universalen Moral« oder des »natürlichen Rechts« her aussetzten. Gorki war in derselben Stimmung, als er am 21. April 1923 Romain Rolland schrieb: »Ich verspüre nicht den leisesten Wunsch, nach Rußland zurückzukehren. Ich käme nicht zum Schreiben, wenn ich meine Zeit damit verschwenden müßte, immer wieder denselben Vers zu singen: Du sollst nicht töten.« Alle Skrupel dieser nichtbolschewistischen Revolutionäre und die letzten Vorbehalte der Bolschewiken selbst wurden vom Furor Lenins hinweggefegt, der von dem Stalins abgelöst wurde. Und am 2. November 1930 konnte Gorki, der sich dem »genialen Führer« gerade wieder angeschlossen hatte, demselben Romain Rolland schreiben: »Mir scheint, Rolland, daß Sie die Ereignisse in der Sowjetunion gelassener und gerechter beurteilt hätten, wenn Sie folgende simple Tatsache zugegeben hätten: Das Sowjetregime und die Avantgarde der Partei der Werktätigen befinden sich im Bürgerkrieg, d. h. im Klassenkrieg. Der Feind, den sie bekämpfen - und bekämpfen müssen -, ist die Intelligentsia, die sich um eine Restaurierung des bürgerlichen Regimes bemüht, und der reiche Bauer, der bei der Verteidigung seines eigenen kleinen Guts, der Basis des Kapitalismus, das Werk der Kollektivierung behindert. Sie greifen auf den Terror zurück, auf die Ermordung von Kollektivisten, auf das Brandschatzen kollektivierter Güter und anderer Methoden des Partisanenkriegs. Im Krieg wird getötet. «
      In Rußland gab es dann noch eine dritte Revolutionsphase, die bis 1953 von Stalin verkörpert wurde. Sie war gekennzeichnet von einem allgemeinen Terror, wie ihn die Große Säuberung der Jahre 1937/38 symbolisiert. Von da an befindet sich die Gesellschaft als Ganzes im Visier, aber auch der Staats- und Parteiapparat. Stalin legt die auszulöschenden feindlichen Gruppen eine nach der anderen fest. Dieser Terror wartet nicht auf die Ausnahmesituation eines Kriegs, um loszubrechen. Er findet in einer außenpolitisch friedlichen Phase statt.
      So wenig sich Hitler um die Repression kümmerte - er überließ diese »untergeordneten« Aufgaben ausnahmslos Vertrauensmännern wie Himmler - so sehr interessiert sich Stalin dafür, der sie initiiert und organisiert. Er zeichnet persönlich Listen mit Tausenden Namen zu Erschießender ab und zwingt die Mitglieder des Politbüros, dies ebenfalls zu tun. Zur Zeit der vierzehn Monate anhaltenden Großen Säuberung von 1937 bis 1938 werden im Zuge von 42 umfassenden, sorgfältig vorbereiteten Operationen 1,8 Millionen Menschen verhaftet, fast 690 000 ermordet. Ständig herrscht eine Atmosphäre des Bürgerkriegs, mal » heiß«, mal » kalt«, heftig und offen oder verdeckt und schleichend. Der Ausdruck »Krieg der Klassen«, häufig dem des Klassenkampfs vorgezogen, hat nichts Metaphorisches mehr. Der politische Feind ist nicht mehr dieser oder jener Gegner und auch nicht mehr die » feindliche Klasse«, sondern die Gesellschaft als Ganzes.

      Unausweichlich wie eine ansteckende Krankheit breitete sich der Terror, dessen Ziel die Zerstörung der Gesellschaft war, auf die Gegen-Gesellschaft aus, die von der Partei an der Macht gebildet wurde. Schon unter Lenin, von 1921 an, waren Abweichler oder Oppositionelle Sanktionen unterworfen worden. Doch die potentiellen Feinde blieben die, die nicht Parteimitglied waren. Unter Stalin wurden sogar die Parteimitglieder zu potentiellen Feinden. Erst bei der Ermordung Kirows allerdings fand Stalin den Vorwand für die Anwendung der Todesstrafe auf Parteimitglieder. So knüpft er an Netschajew an, dem Bakunin im Juni 1870 die Freundschaft aufkündigte. In seinem Abschiedsbrief schrieb Bakunin: »Daher muß unserem Wirken dies klare Gesetz zugrunde liegen: Aufrichtigkeit, Loyalität, Vertrauen unter allen [revolutionären] Brüdern. Lüge, List, Täuschung und nötigenfalls Gewalt werden nur gegen die Feinde angewandt. [... ] Was Sie betrifft, mein lieber Freund - und das ist Ihr Grundprinzip, Ihr ungeheurer Irrtum -, Sie haben sich verleiten lassen von dem System der Loyolas und Machiavellis. [...] Da Ihnen die Grundsätze und Vorgehensweisen der Jesuiten und der Polizei Bewunderung abverlangen, haben Sie es für richtig gehalten, auf diesen Ihre eigene Organisation zu gründen. [...] wobei Sie sich Ihren Freunden gegenüber so verhalten, als ob sie Feinde wären.«"
      Eine weitere stalinistische Innovation besteht darin, daß es den Henkern ihrerseits bestimmt ist, Opfer zu werden. Nach der Ermordung Sinowjews und Kamenews, seiner alten Parteigenossen, erklärte Bucharin seiner Lebensgefährtin: »Ich bin schrecklich froh, daß man diese Hunde erschossen hat!«" Keine zwei Jahre später wird Bucharin selbst wie ein Hund erschossen. Dieser stalinistische Zug findet sich in den meisten kommunistischen Diktaturen wieder.
      Für einige seiner ehemaligen Freunde und späteren »Feinde« sah Stalin vor ihrer Auslöschung ein besonderes Los vor: Er ließ sie in Schauprozessen auftreten. Lenin hatte 1922 dieses Verfahren mit einem ersten Scheinprozeß, dem gegen die Sozialrevolutionäre, eingeführt. Stalin verbesserte es und machte es zum dauerhaften Bestandteil seines Unterdrückungsapparates. Nach 1948 ließ er solche Prozesse auch in Osteuropa durchführen.
      Annie Kriegel hat auf den fürchterlichen Mechanismus sozialer Prophylaxe hingewiesen, den diese Prozesse darstellten. Ihr Charakter einer »Pädagogik der Hölle« ersetzte auf Erden die von der Religion angedrohte Hölle". Gleichzeitig wurde eine Pädagogik des Klassenhasses und der Stigmatisierung des Feindes betrieben. Im asiatischen Kommunismus wird dieses Vorgehen konsequent bis an sein äußerstes Extrem getrieben: Dort werden Tage des Hasses organisiert (? und gerade erst in den vergangenen Wochen in Nord-Korea wieder gegen die USA und die UN!).

      Der Pädagogik des Hasses hatte Stalin die Pädagogik des Mysteriums an die Seite gestellt. Absolute Geheimhaltung umgab die Verhaftungen, die Gründe, die Verurteilungen, das Schicksal der Opfer. Mysterium und Geheimnis standen in enger Verbindung mit dem Terror und nährten in allen Bevölkerungskreisen eine schreckliche Angst.
      Weil sie sich im Krieg glaubten, stellten die Bolschewisten eine umfassende Terminologie des Feindes auf: »feindliche Agenten«, »Bevölkerungsgruppen, die gemeinsame Sache mit dem Feind machen« usw. Im Kriegsmodell wird die Politik auf grob vereinfachte Begriffe reduziert, die als Freund/ Feind-Beziehung", als die Behauptung eines »wir« gegen ein »sie« definiert werden. Dazu gehört eine Aufteilung nach »Lagern« -ein weiterer Ausdruck aus dem Militärischen: das revolutionäre und das konterrevolutionäre Lager. Und ein jeder ist, unter Androhung der Todesstrafe, gehalten, sein Lager zu wählen - eine schwerwiegende Regression in ein archaisches Stadium der Politik, die 150 Jahre Arbeit des am Individuum orientierten demokratischen Bürgertums zunichte macht.
      Wie ist der Feind zu definieren? Da die Politik auf einen allgemeinen Bürgerkrieg zwischen zwei Kräften, der Bourgeoisie und dem Proletariat, zurückgeführt wird und die Auslöschung einer der beiden mit den gewalttätigsten Mitteln erfordert, ist der Feind nicht nur ein Mensch des Ancien Regime - Aristokrat, Großbürger, Offizier -, sondern jeder, der sich der bolschewistischen Politik widersetzt und als »bourgeois« eingestuft wird. » Feind« bezeichnet alle Personen oder sozialen Kategorien, die aus der Sicht der Bolschewisten die absolute Macht behindern. Dieses Phänomen taucht sofort auf, sogar als der Terror noch nicht existiert - in den Wahlversammlungen der Sowjets. Kautsky ahnte es voraus, als er 1918 schrieb: »Nur jene dürfen wählen, >die die Mittel zu ihrem Unterhalt durch produktive oder gemeinnützige Arbeit erwerben<. Was aber ist >gemeinnützige und produktive Arbeit? Das ist ein richtiger Kautschukbegriff. Nicht minder kautschukartig ist die Bestimmung über diejenigen, die vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Dazu gehören jene, >die Lohnarbeiter zum Zwecke des Gewinnes beschäftigen. [...] Man sieht, wie wenig dazu gehört, um nach dem Wahlregiment der Sowjetrepublik zum Kapitalisten gestempelt zu werden und das Wahlrecht zu verlieren. Das Kautschukartige der Begriffsbestimmungen des Wahlrechtes, die der weitesten Willkür die Tore öffnen, liegt nicht am Gesetzgeber, sondern am Gegenstand. Es wird nie gelingen, den Begriff des Proletariats juristisch eindeutig und präzis zu fassen.«`
      Nachdem der Begriff des »Proletariers« den des »Patrioten« unter Robespierre ersetzt hat, ist die Kategorie des Feindes ein dehnbarer Begriff geworden. Sie kann an- oder abschwellen je nach den Erfordernissen der jeweiligen Politik. Diese Kategorie wird zu einem wesentlichen Element in der kommunistischen Theorie und Praxis. Tzvetan Todorov präzisiert: »Der Feind ist die große Rechtfertigung des Terrors. Der totalitäre Staat kann ohne Feinde nicht leben. Fehlen sie ihm, erfindet er sie. Sobald sie identifiziert sind, gibt es keine Gnade mehr für sie. [...] Feind sein ist ein unheilbarer, erblicher Fehler. [...] Manchmal wird die Tatsache betont, daß die Juden nicht dafür verfolgt wurden, was sie getan hatten, sondern dafür, was sie waren: eben Juden. Doch unter den kommunistischen Machthabern ist es nicht anders: Sie fordern die Unterdrückung (oder in Krisenzeiten die Beseitigung) der Bourgeoisie als Klasse. Die einfache Zugehörigkeit zu dieser Klasse genügt, es ist nicht erforderlich, irgendetwas zu tun.«
      Eine wichtige Frage ist noch offen: Warum den »Feind« auslöschen? Die traditionelle Aufgabe der Repression ist, wie es im Titel eines berühmten Werks heißt, zu »überwachen und bestrafen«. War diese Phase des Überwachens und Strafens überholt? War der »Klassenfeind« ein hoffnungsloser Fall? Solschenizyn steuert eine erste Antwort bei. Er schildert, daß im Gulag die Strafgefangenen grundsätzlich besser behandelt wurden als die politischen Häftlinge, nicht nur aus praktischen Erwägungen - sie übten eine gewisse Eingliederungsfunktion aus -, sondern auch aus »theoretischen« Gründen. Das Sowjetregime rühmte sich ja, einen »neuen Menschen« zu schaffen und dabei selbst die eingefleischtesten Kriminellen umzuerziehen. Dieses Argument erwies sich in der Propaganda als äußerst fruchtbar, sowohl in Stalins Rußland als auch im China Maos oder Kuba Castros.
      Aber warum muß der »Feind« getötet werden? Es ist ja nun nicht neu, daß Politik unter anderem darin besteht, Freund und Feind zu unterscheiden. Bereits im Evangelium heißt es: »Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.« Das Neue besteht darin, daß nach Lenin nicht nur gilt, wer nicht für ihn sei, sei sein Gegner, sondern auch: »Wer gegen mich ist, muß sterben.« Diese Aussage dehnt er vom Bereich der Politik auf die Gesellschaft insgesamt aus.
      Durch den Terror vollzieht sich eine doppelte Verwandlung: Der Gegner, zunächst ein Feind, wird zum Kriminellen und schließlich zum Ausgeschlossenen. Das Ausschließen läuft fast automatisch auf die Idee vom Auslöschen hinaus. Denn von da an reicht die Freund/Feind-Dialektik zur Lösung des Grundproblems des Totalitarismus nicht mehr aus: des Strebens nach einer vereinten, gereinigten, nicht antagonistischen Menschheit mittels der messianischen Dimension des marxistischen Projekts, die Menschheit im und durch das Proletariat zu vereinen. Dieses Projekt rechtfertigt eine erzwungene Vereinheitlichung - der Partei, der Gesellschaft, schließlich des Reichs -, die als Abfall all die zurückweist, die nicht in den Entwurf passen. So kommt man bald von einer Logik des politischen Kampfs zu einer des Ausschließens, von einer Ideologie des Eliminierens schließlich zu einer des Auslöschens sämtlicher unreiner Elemente. Am Ende dieses Gedankengangs steht das Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
      Die Einstellung bestimmter kommunistischer Regime in Asien - China, Vietnam - ist etwas anders. Wahrscheinlich liegt es an der konfuzianischen Tradition, daß der Umerziehung mehr Raum gegeben wird. Diese Institution ist charakteristisch für den chinesischen Laogai. Sie zwingt den als »Schüler« oder »Studenten« bezeichneten Häftling, sein Denken unter der Aufsicht seiner Kerkermeister bzw. Lehrer zu verändern. Steckt in dieser Art von »Umerziehung« nicht eine weniger offene, noch heuchlerischere Haltung als in der simplen Ermordung? Ist es nicht schlimmer, seine Feinde zu zwingen, sich zu verleugnen und sich dem Diskurs ihrer Henker zu unterwerfen? Demgegenüber wählten die Roten Khmer von vornherein eine radikale Lösung: Sie waren der Ansicht, die Umerziehung eines Teils der Bevölkerung sei unmöglich, weil dieses Volk allzu »verdorben« sei. So beschlossen sie, sich ein anderes Volk zuzulegen. Das führte zur Auslöschung der gesamten Intellektuellen und städtischen Bevölkerung, wobei auch dort beabsichtigt war, den Feind zunächst auf psychologischer Ebene zu vernichten, seine Persönlichkeit durch eine aufgezwungene »Selbstkritik« zu zersetzen, in der er sich mit Schande bedeckt, die ihm aber keinesfalls die Höchststrafe erspart.
      Die Führer der totalitären Regime nehmen für sich das Recht in Anspruch, ihre Nächsten in den Tod zu schicken, und haben die »moralische Kraft« dazu. Ihre wichtigste Rechtfertigung ist immer dieselbe: die wissenschaftlich begründete Notwendigkeit.
      In seinen Überlegungen zu den Ursprüngen des Terrorismus schreibt Tzvetan Todorov: »Es ist der Szientismus, nicht der Humanismus, der dazu beigetragen hat, die Grundlagen für den Totalitarismus zu schaffen. [...J Die Beziehung zwischen Szientismus und Totalitarismus beschränkt sich nicht auf die Rechtfertigung von Handlungen mit angeblich wissenschaftlichen (biologischen oder historischen) Notwendigkeiten. Man muß den Szientismus (und sei es ein »barbarischer«) bereits praktizieren, um an die perfekte Transparenz der Gesellschaft und damit an die Möglichkeit zu glauben, die Gesellschaft durch eine Revolution nach einem Ideal formen zu können.«
      Trotzki illustrierte diese These schon 1919, als er schrieb: »Historisch gesehen, ist das Proletariat eine aufsteigende Klasse. [...J Die Bourgeoisie befindet sich zur Zeit im Niedergang. Nicht nur spielt sie keine wesentliche Rolle in der Produktion, sondern sie zerstört mit ihren imperialistischen Methoden der Aneignung auch die Weltwirtschaft und die menschliche Kultur. Doch die historische Vitalität der Bourgeoisie ist ungeheuer. Sie klammert sich an die Macht und will sie nicht loslassen. Dadurch droht sie bei ihrem Fall die ganze Gesellschaft mit sich zu reißen. Man muß ihr die Macht entreißen und ihr dazu die Hände abschneiden. Der rote Terror ist eine Waffe, die gegen eine dem Tod geweihte Klasse eingesetzt wird, die sich damit nicht abfinden will.«" Trotzlos Schlußfolgerung: »Die gewaltsame Revolution wurde notwendig, gerade weil den unmittelbaren Erfordernissen der Geschichte mit dem Apparat der parlamentarischen Demokratie nicht genügt werden konnte.«" Hier treffen wir auf die Vergöttlichung der Geschichte, der alles geopfert werden muß, und auf die unheilbare Naivität des Revolutionärs, der sich aufgrund seiner Dialektik einbildet, die Heraufkunft einer gerechteren und menschlicheren Gesellschaft mit kriminellen Methoden zu begünstigen. Zwölf Jahre später drückte Gorki die Dinge brutaler aus: »Gegen uns steht all das, dessen Zeit, die die Geschichte ihm zugemessen hat, abgelaufen ist. Das berechtigt uns zu der Ansicht, daß wir uns nach wie vor im Bürgerkrieg befinden. Daraus ergibt sich ganz natürlich die Schlußfolgerung: Wenn sich der Feind nicht ergibt, wird er vernichtet.« Im selben Jahr machte Aragon eine Gedichtzeile daraus: »Die blauen Augen der Revolution leuchten vor notwendiger Grausamkeit.«
      Demgegenüber ging Kautsky das Problem schon 1918 mutig und offen an. Er machte sich frei von jeglichem Terminologiefetischismus und schrieb: »Genaugenommen ist jedoch nicht der Sozialismus unser Endziel, sondern dieses besteht in der Aufhebung >jeder Art der Ausbeutung und Unterdrückung, richte sie sich gegen eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht, eine Rasse<. [.. . ] Würde uns nachgewiesen, daß wir darin irren, daß etwa die Befreiung des Proletariats und der Menschheit überhaupt auf der Grundlage des Privateigentums an Produktionsmitteln allein oder am zweckmäßigsten zu erreichen sei..., dann müßten wir den Sozialismus über Bord werfen, ohne unser Endziel im geringsten aufzugeben, ja wir müßten das tun, gerade im Interesse dieses Endzieles.«" Kautsky stellte den Humanismus eindeutig über den marxistischen Szientismus, dessen herausragendster Vertreter er doch war.
      Töten im eigentlichen Sinn erfordert eine pädagogische Hilfestellung: Angesichts des Widerwillens im Menschen, seinen Nächsten zu töten, besteht die effizienteste Pädagogik hier immer noch darin, die Menschlichkeit des Opfers zu leugnen, es vorher zu »entmenschlichen«. Alain Brossat bemerkt sehr richtig: »Der barbarische Ritus der Säuberungen, die volle Auslastung der Vernichtungsmaschinerie sind im Diskurs und in den Praktiken der Verfolgung nicht zu trennen von dieser Animalisierung des Anderen, der Reduzierung eingebildeter und tatsächlicher Feinde auf tierische Wesen.«
      Tatsächlich gab sich der Generalstaatsanwalt Wyschinski, ein Intellektueller und Jurist mit klassischer Bildung, während der großen Moskauer Prozesse einer wahren Orgie der »Animalisierung« von Angeklagten hin: »Erschießt die tollgewordenen Hunde! Tod dieser Bande, die ihre Raubtierkrallen und -zähne vor den Volksmassen versteckt! Zum Teufel mit dem Geier Trotzki, der vor giftigem Schleim schäumt und damit die großartigen Ideen des Marxismus-Leninismus bespritzt! Setzt ihn außerstande, diese Lügner zu verderben, diese Komödianten, diese miserablen Pygmäen, diese Kläffer, diese Hündchen, die sich auf einen Elefanten stürzen! [...] Ja, nieder mit diesem tierischen Abschaum! Schluß mit diesen widerwärtigen Bastarden aus Fuchs und Schwein, diesem stinkenden Aas. Bringt ihr schweinisches Grunzen zum Schweigen! Vernichten muß man diese tollgewordenen Hunde des Kapitalismus, die die Besten unserer sowjetischen Erde zerreißen wollen! Stopft ihnen ihre bestialischen Haßausbrüche gegen die Führer unserer Partei in den Rachen!« War es nicht sogar Jean-Paul Sartre, der 1952 roh äußerte, jeder Antikommunist sei ein Hund?
      Diese Rhetorik des Verteufelns und Animalisierens scheint Annie Kriegels These von der in erster Linie pädagogischen Funktion der großen Schauprozesse zu untermauern. Wie in den mittelalterlichen Mysterienspielen werden hier für das gutgläubige Volk die Figur des »Bösen«, des Häretikers, des »Trotzkisten«, und bald die des »zionistischen Kosmopoliten«, kurz, die des Teufels in Szene gesetzt.
      Brossat erinnert daran, daß aus Karnevals- und ähnlichen Bräuchen eine regelrechte Tradition der Animalisierung des Anderen entstanden war, die sich seit dem achtzehnten Jahrhundert in der politischen Karikatur wiederfindet. Mit diesem metaphorischen Ritus konnten, eben durch den Umweg über das Tier, Krisen und latente Konflikte zum Ausdruck gebracht werden. Im Moskau der dreißiger Jahre ist allerdings nichts metaphorisch: Der »animalisierte« Feind wird als Jagdwild behandelt, bevor er zum Galgenvogel wird, das heißt, mit einer Kugel ins Genick rechnen muß. Hat Stalin diese Methoden systematisiert und generalisiert, so sind sie von seinen chinesischen, kambodschanischen und anderen Nachfolgern weitgehend übernommen worden. Stalin hat sie allerdings nicht erfunden. Auch Lenin ist nicht frei von diesem Vorwurf, denn nach der Machtergreifung titulierte er alle seine Feinde mit Ausdrücken wie » Insekten«, »Ungeziefer«, »Skorpione«, »Vampire«.
      Während des Scheinprozesses gegen die »Industriepartei« veröffentlichte die Liga für Menschenrechte einen Protest, der unter anderem von Albert Einstein und Thomas Mann unterzeichnet war. Gorki antwortete darauf mit einem offenen Brief: »Meines Erachtens war diese Hinrichtung absolut legitim. Es ist ganz natürlich, daß die Arbeiter- und Bauernmacht ihre Feinde wie Ungeziefer vernichtet.«"
      Alain Brossat zieht aus dieser mißbräuchlichen Zoologie den Schluß: »Wie immer verraten sich die Dichter und Schlächter des Totalitarismus in erster Linie durch ihren Wortschatz. Das >liquidieren< der Moskauer Henker, eng verwandt mit dem >behandeln< der Techniker des nazistischen Mordens, stellt den linguistischen Mikrokosmos der irreparablen mentalen und kulturellen Katastrophe dar, die damals im sowjetischen Raum offen zutage tritt: Das menschliche Leben ist als Wert zerfallen, das Denken in Kategorien (>Volksfeinde<, >Verräter<, >verläßliche Elemente< ...) hat den ethisch positiv besetzten Begriff des Menschengeschlechts ersetzt. [...] In den nazistischen Reden, Praktiken und Apparaten der Vernichtung verbindet sich die Animalisierung des Anderen, die von der Zwangsvorstellung des Schmutzes und der Ansteckung nicht zu trennen ist, eng mit der Rassenideologie. Sie baut sich aus den unerbittlich hierarchischen Begriffen des Diskurses von der Rasse auf, aus der Unterscheidung zwischen Über- und Untermensch. [...] Doch im Moskau von 1937 sind der rassistische Diskurs und die zugehörigen totalitären Einrichtungen abgeriegelt, stehen nicht zur Verfügung. Daraus ergibt sich die Bedeutung der Animalisierung des Anderen für das Denken und die Umsetzung einer auf dem totalitären >Alles ist erlaubt< fußenden Politik.«`
      Doch es gab auch solche, die nicht zögerten, die ideologische Barriere zu durchbrechen und vom Gesellschaftlichen zum Rassischen zu kommen. In einem Brief von 1932 schreibt Gorki, der damals, wohlgemerkt, ein persönlicher Freund des GPU-Chefs Jagoda war und dessen Sohn Angestellter eben dieser GPU war: »Der Klassenhaß muß durch die organische Abstoßung des Feinds als eines inferioren Wesens kultiviert werden. Meine innerste Überzeugung ist, daß der Feind ein durchaus minderwertiges Wesen ist, physisch, aber auch >moralisch< degeneriert.«"
      Gorki wird diesen Weg bis ans Ende gehen und sich zugunsten der Schaffung des Instituts für Versuchsmedizin aussprechen. Gleich zu Beginn des Jahres 1933 schreibt er: »Die Zeit ist nahe, da die Wissenschaft eine unabweisbare Anfrage an die sogenannten Normalen richten wird: Wollt ihr, daß alle Krankheiten, die Behinderungen, die Unvollkommenheiten, die Senilität und der frühzeitige Tod des Organismus präzise untersucht werden? Diese Untersuchung könnte nicht mit Experimenten an Hunden, Kaninchen und Meerschweinchen durchgeführt werden. Versuche am Menschen selbst sind unerläßlich. An ihm selbst müssen das Funktionieren seines Organismus, Prozesse wie der Intermediärstoffwechsel, die Blutbildung, neurochemische Vorgänge und überhaupt sämtliche Abläufe in seinem Organismus untersucht werden. Dazu wird man Hunderte von menschlichen Einheiten benötigen. Das wird ein echter Dienst an der Menschheit sein, das wird ganz offensichtlich viel bedeutender, viel nützlicher sein als die Vernichtung vieler Millionen Gesunder für das bequeme Leben einer miserablen, psychisch und moralisch degenerierten Klasse von Räubern und Parasiten.«46 So verbinden sich die übelsten Auswirkungen des sozio-historischen mit denen des biologischen Szientismus.
      Diese »biologischen« oder »zoologischen« Entgleisungen helfen zu verstehen, inwieweit zahlreiche Verbrechen des Kommunismus auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit beruhen und warum die marxistisch-leninistische Ideologie diese Verbrechen dulden und rechtfertigen konnte. Unter Bezugnahme auf juristische Entscheidungen zu den jüngsten Entdeckungen der Biologie schreibt Bruno Gravier: »Die Gesetzestexte zur Bioethik [...] überdecken andere, düsterere Gefahren, die mit dem Fortschritt der Wissenschaft verbunden sind. Dessen Rolle bei der Genese von Ideologien, die sich auf dem Terror als >Gesetz der Bewegung< (J. Asher) gründen, ist allzu sehr verkannt worden. [...] Der eugenische Zug in den Schriften renommierter Mediziner wie Richet oder Carrel bereitete der Massenvernichtung bis hin zu den abwegigen Maßnahmen der NS-Ärzte den Weg.«"
      Im Kommunismus gibt es eine sozio-politische Eugenik, einen Sozialdarwinismus. Dominique Colas drückt es so aus: »Als Meister des Wissens über die Entwicklung der sozialen Spezies nimmt Lenin die Schnitte vor, um zu entscheiden, welche davon verschwinden müssen, weil sie von der Geschichte verdammt sind.« Sobald man mit wissenschaftlichem Anspruch - ideologisch und politisch-historisch wie der Marxismus-Leninismus - dekretiert, die Bourgeoisie sei eine überholte Etappe der Menschheitsentwicklung, rechtfertigt man ihre Liquidierung als Klasse und bald auch die Liquidierung einzelner Menschen, aus denen sie besteht oder die ihr zugerechnet werden.
      Unter Bezugnahme auf den Nationalsozialismus spricht Marcel Colin von »Klassifikation, Segregation, Ausschluß, rein biologischen Kriterien, die von der kriminellen Ideologie transportiert werden. Wir denken an diese szientistischen Präsuppositionen (Vererbung, Kreuzung, Rassereinheit) und auch an den phantastischen, millenaristischen oder planetarischen Beitrag, die historisch genau abgegrenzt und unüberschreitbar sind.« Die auf die Geschichte und die Gesellschaft angewandten szientistischen Prämissen die »geschichtliche Berufung des Proletariats« usw. -beruhen eben auf einer millenaristisch-planetarischen Phantasmagorie und sind im Kommunismus allgegenwärtig. Durch diese Setzungen wird eine »kriminogene« Ideologie fixiert und nach rein ideologischen Kriterien eine willkürliche Segregation (Bourgeoisie/Proletariat) sowie Klassifizierungen (Klein- und Großbürger, reiche, mittlere und arme Bauern usw.) festgelegt. Indem er diese Einteilungen festschreibt, als wären sie definitiv gegeben und als könnten die Menschen nicht von einer Kategorie in die andere wechseln, begründet der Marxismus-Leninismus den Primat der Kategorie und der Abstraktion gegenüber dem Wirklichen und Menschlichen. Jedes Individuum, jede Gruppe wird als Archetyp aus einer vereinfachten, abstrakten Soziologie aufgefaßt. Das alles erleichtert das Verbrechen: Der Denunziant, der Untersuchungsrichter, der Henker der NKWD denunziert, verfolgt, tötet nicht einen Menschen, sondern eliminiert eine dem Wohl der Allgemeinheit schädliche Abstraktion.
      Die Doktrin wurde zu einer verbrechenerzeugenden Ideologie, einfach weil sie eine Grundgegebenheit leugnete: die Einheit dessen, was Robert Antelme »das Menschengeschlecht« oder was die Präambel der Menschenrechtserklärung von 1948 die »menschliche Familie« nennt. Wurzelte der Marxismus-Leninismus vielleicht weniger in Marx als in einem verfehlten Darwinismus, der sich der sozialen Frage zuwendet und dabei auf die gleichen Irrwege gerät wie in der rassischen Frage? Eins ist sicher: Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist Ergebnis einer Ideologie, die den Menschen und die Menschheit auf einen nicht universalen, sondern speziellen biologisch-rassischen oder sozio-historischen - Zustand reduziert. Auch hier gelang es den Kommunisten mit einem Propagandatrick, ihren Ansatz als einen universalen, die ganze Menschheit berücksichtigenden darzustellen. Häufig sah man sogar einen grundlegenden Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus darin, daß ersterer speziell sei - extrem nationalistisch und rassistisch -, während das leninistische Projekt universalistisch gewesen sei. Nichts könnte falscher sein: Lenin und seine Nachfolger schlossen den Kapitalisten, den Bourgeois, den Konterrevolutionär usw. eindeutig von der Menschheit aus. Die aus dem soziologischen oder politischen Diskurs geläufigen Begriffe nahmen sie auf und machten daraus absolute Feindbilder. Wie Kautsky 1918 sagte, handelt es sich dabei um kautschukartig dehnbare Begriffe, die dazu berechtigen, aus der Menschheit auszugrenzen, wen, wann und wie man will, und die direkt zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit führen.
      Mireille Dehnas-Marty schreibt: »Sogar Biologen, z. B. Henri Atlan, erkennen an, daß der Begriff der Menschheit einen biologischen Ansatz übersteigt, und daß die Biologie >über die menschliche Person wenig zu sagen hat<. [...] Es trifft zu, daß man das Menschengeschlecht durchaus als eine tierische Spezies unter anderen
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      schrieb am 10.07.03 12:50:00
      Beitrag Nr. 156 ()
      Ah ja, wie erwartet, hat hier ein Posting eine begrenzte Aufnahme-Kapazität.
      Hier nun der zweite Teil des Textauszugs von Posting # 155:

      Auch hier gelang es den Kommunisten mit einem Propagandatrick, ihren Ansatz als einen universalen, die ganze Menschheit berücksichtigenden darzustellen. Häufig sah man sogar einen grundlegenden Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus darin, daß ersterer speziell sei - extrem nationalistisch und rassistisch -, während das leninistische Projekt universalistisch gewesen sei. Nichts könnte falscher sein: Lenin und seine Nachfolger schlossen den Kapitalisten, den Bourgeois, den Konterrevolutionär usw. eindeutig von der Menschheit aus. Die aus dem soziologischen oder politischen Diskurs geläufigen Begriffe nahmen sie auf und machten daraus absolute Feindbilder. Wie Kautsky 1918 sagte, handelt es sich dabei um kautschukartig dehnbare Begriffe, die dazu berechtigen, aus der Menschheit auszugrenzen, wen, wann und wie man will, und die direkt zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit führen.
      Mireille Dehnas-Marty schreibt: »Sogar Biologen, z. B. Henri Atlan, erkennen an, daß der Begriff der Menschheit einen biologischen Ansatz übersteigt, und daß die Biologie >über die menschliche Person wenig zu sagen hat<. [...] Es trifft zu, daß man das Menschengeschlecht durchaus als eine tierische Spezies unter anderen betrachten kann, eine Spezies, die der Mensch selbst herzustellen lernt, wie er bereits Tieroder Pflanzenarten herstellt.«" Haben nicht die Kommunisten genau das versucht? Gehörte die Idee vom »neuen Menschen« nicht zum Kern des Kommunismus? Haben nicht größenwahnsinnige »Lyssenkos« über neue Mais- und Tomatensorten hinaus auch eine neue Spezies Mensch schaffen wollen?
      Die wissenschaftsgläubige Mentalität des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts, die mit dem Triumph der Medizin einhergeht, inspirierte Wassilij Grossman zu folgender Bemerkung über die bolschewistischen Führer: »Dieser Charakter benimmt sich in der Menschheit wie ein Chirurg in den Stationen seiner Klinik .... Seine Seele steckt in seinem Messer. Das Eigentliche an solchen Menschen liegt im fanatischen Glauben an die Allmacht des Skalpells. Das Skalpell - es ist der große Theoretiker, der philosophische Führer des zwanzigsten Jahrhunderts.«` Pol Pot treibt diesen Gedanken auf die Spitze: Er amputiert mit einem entsetzlichen Schnitt den »verdorbenen« Teil des Volkskörpers - das »alte Volk« - und rettet den gesunden - das »neue Volk«. So verrückt die Idee auch anmutet - ganz neu war sie nicht. Schon in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts schlug Pjotr Tkatschow, russischer Revolutionär und würdiger Schüler Netschajews, die Auslöschung aller Russen über 25 Jahre vor, weil sie unfähig seien, die Revolutionsidee zu verwirklichen. Zur gleichen Zeit empörte sich Bakunin in einem Brief an Netschajew über diesen irrsinnigen Einfall: »Unser Volk ist kein leeres Blatt Papier, auf das jede beliebige geheime Gesellschaft schreiben kann, was ihr gefällt, zum Beispiel Ihr kommunistisches Programm.« Auch die Internationale fordert dazu auf, »reinen Tisch« zu machen, und Mao verglich sich mit einem genialen Dichter, der seine Kalligraphien auf das berühmte unbeschriebene Blatt pinselt. Als ob man eine mehrere tausend Jahre alte Kultur für ein leeres Blatt halten könnte ...

      Gewiß gründet sich die gesamte hier beschriebene Entwicklung des Terrors auf die Sowjetunion unter Lenin und Stalin. Sie umfaßt aber einige unveränderliche Elemente, die man in unterschiedlicher Intensität in sämtlichen sich marxistisch-leninistisch nennenden Regimen wiederfindet. Jedes Land, jede kommunistische Partei hat eine eigene Geschichte, lokale und regionale Besonderheiten, mehr oder weniger pathologische Fälle. Doch die feststehenden Elemente gehörten immer zu der in Moskau ab November 1917 entwickelten Matrix, die deshalb wie ein genetischer Code den Lauf der Dinge prägte.
      Wie soll man die Akteure dieses schrecklichen Systems begreifen? Wiesen sie besondere Kennzeichen auf? Offenbar hat jedes totalitäre System bestimmte Neigungen geweckt und die Menschen, die seinem Funktionieren am ehesten dienlich waren, zu entdecken und zu fördern gewußt. Der Fall Stalins ist einzigartig. Was die Strategie betrifft, war er ein würdiger Nachfolger Lenins, der eine lokale Angelegenheit eingehend untersuchen, aber genauso eine Situation von weltweiter Bedeutung überblicken konnte. Wahrscheinlich wird Stalin von der Geschichte später als der größte Politiker des zwanzigsten Jahrhunderts angesehen werden, dem es gelang, die unbedeutende Sowjetunion von 1922 in den Rang einer Supermacht zu heben und für Jahrzehnte den Kommunismus als Alternativlösung zum Kapitalismus durchzusetzen.
      Er war auch einer der größten Verbrecher eines an formidablen Henkern nicht gerade armen Jahrhunderts.
      Muß man in ihm einen neuen Caligula sehen, wie ihn 1953 Boris Souvarine und Boris Nicolaievski beschrieben? Ist sein Handeln das eines reinen Paranoikers, wie Trotzki zu verstehen gab? Ist es nicht im Gegenteil das eines für die Politik außerordentlich begabten Fanatikers, der demokratische Verfahren verabscheut? Stalin ging den Weg zu Ende, den Lenin eingeschlagen und Netschajew vorgezeichnet hatte: Er benutzte extreme Mittel für eine extreme Politik.
      Daß Stalin bewußt das Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Mittel der Staatsführung wählte, weist auch auf die typisch russische Dimension dieser Persönlichkeit hin. Als Ossete aus dem Kaukasus hatte er in seiner Kindheit und Jugend immer wieder Geschichten von den großen Räubern gehört, den »Abrek«. Sie lebten, von ihrem Clan verbannt oder weil sie Blutrache geschworen hatten, als Kämpfer im kaukasischen Hochgebirge, erfüllt vom Mut der Verzweiflung. Stalin benutzte als Decknamen den Namen Koba, nach einem sagenumwobenen Räuber, einer Art Robin Hood. In dem Brief, in dem Bakunin mit Netschajew bricht, heißt es:
      » Erinnern Sie sich, wie ärgerlich Sie waren, als ich Ihnen sagte, Sie seien ein abrek, und Ihr Katechismus ein Katechismus von abreki; Sie würden verlangen, daß alle Menschen so geartet sein müßten, daß vollkommene Selbstaufgabe und Verzicht auf alle persönlichen Wünsche, auf alle Vergnügungen, Gefühle, Neigungen und Beziehungen der normale, natürliche und dauernde Zustand aller Menschen ohne Ausnahme sein müßte. Ihre Härte gegen sich selbst, die Sie bis zur Selbstverleugnung treiben, Ihr wirklich außerordentlicher Fanatismus, daraus wollen Sie, sogar heutzutage noch, eine Lebensregel für die Gemeinschaft machen. Das was Sie verfolgen, ist widersinnig, undurchführbar, ist die vollständige Verneinung der Natur des Menschen und der Gesellschaft.«
      Trotz seines bedingungslosen Engagements für die Revolution hatte Bakunin 1870 zu erkennen begonnen, daß sich auch das revolutionäre Handeln bestimmten grundlegenden moralischen Zwängen unterwerfen muß.
      Der kommunistische Terror ist häufig mit dem im Jahr 1199 von der katholischen Inquisition eingeführten verglichen worden. Hier kann der Romancier sicher mehr erklären als der Historiker. In seinem großartigen Roman »La Tunique d`infamie« bemerkt Michel del Castillo: »Der Zweck liegt nicht im Foltern oder Verbrennen: Er besteht darin, die richtigen Fragen zu stellen. Kein Terror ohne die Wahrheit, auf der er beruht. Besäße man nicht die Wahrheit, wie könnte man den Irrtum erkennen? [...] Sobald man sich sicher ist, die Wahrheit zu besitzen, wie kann man dann beschließen, seinen Nächsten im Irrtum zu belassen?«
      Die Kirche versprach die Vergebung der Erbsünde und das Heil im Jenseits oder das Feuer einer übernatürlichen Hölle. Marx glaubte an eine prometheische Selbsterlösung der Menschheit, den messianischen Traum von der großen Dämmerung. Doch Leszek Kolakowski meint: »Der Gedanke, daß die bestehende Welt so völlig verdorben ist, daß es undenkbar ist, sie auszubessern, und daß gerade aus diesem Grunde die Welt, die ihr nachfolgen wird, die Fülle der Vollkommenheit und die endgültige Befreiung bringen wird, dieser Gedanke ist eine von den monströsesten Aberrationen des menschlichen Geistes. [... ] Diese Aberration ist zwar keine Erfindung unserer Zeit; man muß aber zugestehen, daß sie im religiösen Denken, das die Ganzheit der zeitlichen Werte der Kraft der übernatürlichen Gnade gegenüberstellt, viel weniger abstoßend ist als in den weltlichen Doktrinen, die uns versichern, wir seien imstande, uns aus dem Höllengrund mit einem Sprung auf den Gipfel des Himmels zu retten.«`
      Ernest Renan hatte die Problematik sicher richtig erkannt, als er in seinen »Dialogues philosophiques« annahm, daß es, um sich in einer Gesellschaft von Atheisten die absolute Macht zu sichern, nicht genüge, den Widerspenstigen mit dem Feuer einer mythologischen Hölle zu drohen. Vielmehr müsse eine wirkliche Hölle eingerichtet werden, ein Konzentrationslager zur Unterdrückung der Aufständischen und Einschüchterung aller übrigen, das von einer besonderen Polizei geführt wird, von Wesen ohne jeden moralischen Skrupel und den jeweiligen Machthabern völlig ergeben: »gehorsame Maschinen, zu jeder Barbarei bereit«".
      Nach der Entlassung der meisten GULAG-Häftlinge 1953 und selbst noch nach dem 20. Parteitag der KPdSU, als eine gewisse Form des Terrors nicht mehr an der Tagesordnung war, behielt das terroristische Prinzip weiter Gültigkeit. Die Erinnerung an den Terror genügte, um den Willen zu lähmen, wie sich Aino Kuusinen erinnert: »Infolge dieses Terrors lastete immer noch Furcht auf den Gemütern - es war, als könnte man nicht daran glauben, daß Stalin wirklich von der Bildfläche verschwunden war. Es gab kaum eine Familie in Moskau, die nicht in irgendeiner Weise davon betroffen gewesen war, und doch wurde auch jetzt noch nicht darüber gesprochen. Ich selbst zum Beispiel sprach sogar mit meinen engsten Freunden nie über meine Gefängnis- und Lagererlebnisse - und sie stellten keine Fragen. Die Angst hatte sich zu tief in den Herzen eingenistet.« Wenn die Opfer diese Erinnerung an den Terror stets bei sich trugen, so stützten sich die Henker auch weiterhin darauf. Mitten in der Ära Breschnew gab die UdSSR eine Briefmarke zum fünfzigsten Jahrestag der Tscheka heraus und veröffentlichte eine Festschrift zu Ehren dieser Organisation`.

      Zum Abschluß geben wir ein letztes Mal Gorki das Wort, der in seiner Hommage an Lenin 1924 schrieb: »Ein alter Bekannter von mir,..., aus Sormowo und ein weichherziger Mensch, beklagte sich über die schwere Arbeit in der Tscheka. Ich sagte ihm: >Auch mir scheint, das ist nichts für Sie, entspricht nicht Ihrem Charakter.< Traurig stimmte er zu: >Es entspricht gar nicht meinem Charakter.< Doch sagte er, nachdem er nachgedacht hatte: >Wenn ich aber daran denke, daß sich Iljitsch wahrscheinlich auch oft zusammennehmen muß - dann schäme ich mich meiner Schwäche.< ... Kam es vor, daß Lenin >an sich halten< mußte? Er beachtete sich selbst zuwenig, um mit anderen von sich zu sprechen, er verstand wie niemand, über die geheimen Stürme seiner Seele zu schweigen. Doch einmal,... als er ein paar Kinder streichelte, sagte er: >Die hier werden schon ein besseres Leben haben als wir; vieles, was wir erlebt haben, werden sie nicht durchmachen. Ihr Leben wird weniger grausam sein.< Er sah in die Ferne... und fügte nachdenklich hinzu: >Und trotzdem beneide ich sie nicht. Unserer Generation ist es gelungen, eine Arbeit zu vollbringen, die in ihrer historischen Bedeutsamkeit erstaunlich ist. Die durch die Umstände erzwungene Grausamkeit unseres Lebens wird verstanden und gerechtfertigt werden. Alles wird verstanden werden, alles!>>
      Ja, allmählich wird alles verstanden, aber nicht in dem Sinn, den Wladimir Iljitsch Uljanow meinte. Was bleibt heute von dieser »in ihrer historischen Bedeutsamkeit erstaunlichen Arbeit« - der Ermordung von Abermillionen Menschen? Nicht ein illusorischer »Aufbau des Sozialismus«, sondern eine ungeheure Tragödie, die auf dem Leben von weiteren Hunderten Millionen Menschen lastet und den Übergang ins dritte Jahrtausend prägen wird. Wassilij Grossman, der Kriegskorrespondent von Stalingrad, der Schriftsteller, der zusehen mußte, wie der KGB das Manuskript seines Hauptwerks konfiszierte, und der an dieser »erstaunlichen Arbeit« gestorben ist, zieht daraus gleichwohl eine optimistische Lehre, die wir uns merken wollen: »Unser Jahrhundert ist das Jahrhundert der größten Vergewaltigung des Menschen durch den Staat. Aber die Kraft und die Hoffnung der Menschen liegt hierin: gerade das zwanzigste Jahrhundert hat das Hegelsche Prinzip des welthistorischen Prozesses ->alles Wirkliche ist vernünftig( - ins Wanken gebracht, ein Prinzip, das die russischen Denker des vorigen Jahrhunderts sich in unruhevollen Diskussionen zu eigen gemacht haben. Und gerade jetzt, in der Zeit, in der die Macht des Staates über die Freiheit des Menschen triumphiert, wird von den russischen Denkern in Lagerwattejacken das Hegelsche Gesetz umgeworfen und das höchste Prinzip der Weltgeschichte vorbereitet: >Alles Unmenschliche ist sinnlos und vergebens.<
      Ja, ja, in der Zeit der totalen Unmenschlichkeit wurde offenbar, daß alles mit Gewalt Geschaffene sinnlos und vergeblich ist, ohne Zukunft lebt, spurlos bleibt.«
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      schrieb am 10.07.03 13:18:24
      Beitrag Nr. 157 ()
      Hm, ich seh`s schon: Die Postings # 154-156 überfordern die meisten Leser sicher wieder.

      Naja, um auf das Ursprungsthema zurück zu kommen, könnten wir ja alternativ auch das Bild von "Führungspersönlichkeiten", "Intellektuellen" und der "Wissenschaft" diskutieren, das von Aldous Huxley in "Schöne neue Welt" entworfen wird und das ich für eine "Anti-Utopie" schon immer als besonders "boshaft" empfand:

      »Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen«, sagte der Wilde, wozu ihr diese unterschiedlich gezüchteten Menschen-Gruppen überhaupt habt. Ihr könnt doch in euren Flaschen züchten, was ihr wollt. Warum macht ihr ...<<
      >>Nicht lauter Alpha-Doppelplusse, wenn ihr schon einmal dabei seid?« lachte der WeltAufsichtsRat. »Weil wir uns nicht selbst die Kehle abschneiden wollen«, antwortete er. »Wir glauben an Glück und Beständigkeit. Eine Gesellschaft aus lauter Alphas muß einfach zu Unbeständigkeit und Unglück führen. Stellen Sie sich eine Fabrikbelegschaft aus lauter Alphas vor, das heißt, aus lauter verschiedenen, völlig unabhängigen Persönlichkeiten mit erstklassiger Abstammung und einer Normung, die ihnen, in gewissen Grenzen, gestattet, Willensfreiheit zu entfalten und Verantwortung auf sich zu nehmen. Stellen Sie sich das vor!« wiederholte er. Der Wilde versuchte, es sich vorzustellen, doch ohne viel Erfolg.
      >>Es wäre absurd. Ein Mensch, der als Alpha entkorkt und genormt ist, würde wahnsinnig werden, wenn er die Arbeit eines Epsilon-Halbidioten verrichten müßte; er würde wahnsinnig werden oder alles kurz und klein schlagen. Alphas können in die menschlichen Gemeinschaft perfekt eingefügt werden, aber nur, wenn man ihnen Alphaarbeit überträgt. Nur ein Epsilon kann die Opfer eines Epsilons bringen, aus dem einfachen Grund, daß sie für ihn keine Opfer bedeuten, sondern der Weg des geringsten Widerstands sind. Seine Normung hat Schienen vor ihn hingelegt, auf denen er laufen muß. Er kann nicht anders, es ist ihm vorbestimmt. Auch nach der Entkorkung befindet er sich noch immer in einer Flasche, einer unsichtbaren Flasche infantiler und embryonaler Fixationen. Wir alle«, setzte der Aufsichtsrat gedankenvoll hinzu, »gehen natürlich in einer Flasche durchs Leben. Aber wenn wir Alphas sind, dann sind unsere Flaschen sozusagen unermeßlich groß. Wir würden bitter leiden, wenn wir auf engeren Raum beschränkt wären. Man kann nicht Champagnerol der hohen Kasten in Flaschen der niederen Kasten füllen. Theoretisch ist das klar. Aber auch die Praxis hat es bewiesen. Das Ergebnis des Versuchs auf Zypern war überzeugend.«
      >>Was für ein Versuch war das?« erkundigte sich der Wilde. >>Der Aufsichtsrat lächelte. »Man könnte ihn einen Umfüllversuch nennen. Er begann vierhundertdreiundsiebzig nach Ford. Die Aufsichtsräte ließen die Insel Zypern von allen Einwohnern säubern und mit einer eigens angelegten Züchtung von zweiundzwanzigtausend Alphas neu besiedeln. Man gab ihnen komplette Ausstattungen für Landwirtschaft und Industrie und überließ sie sich selbst. Das Ergebnis entsprach haargenau den theoretischen Voraussagen. Der Boden wurde nicht ordentlich bestellt, in den Fabriken gab es Streiks, Gesetze wurden mißachtet, Befehle nicht befolgt, alle die, die für einige Zeit untergeordnete Arbeiten verrichten mussten, intrigierten unablässig um höhere Posten, und die Höhergestellten spannen Gegenintrigen, damit sie um jeden Preis auf ihren Plätzen bleiben konnten. Binnen sechs Jahren gab einen erstklassigen Bürgerkrieg. Als neunzehntausend von den zweiundzwanzigtausend Alphas gefallen waren, richteten die Überlebenden geschlossen eine Eingabe an den Weltaufsichtsrat, die Regierungsgewalt über die Insel wieder zu übernehmen. Was auch geschah. So endete die einzige Alphagesellschaft der Welt nach der Neuen Zeitrechnung.« Der Wilde seufzte auf. »Die beste Gesellschaftsordnung«, sagte Mustafa Mannesmann, »nimmt sich den Eisberg zum Muster: acht Neuntel unter der Wasserlinie, ein Neuntel darüber.«
      »Und sind die unter der Wasserlinie glücklich?«
      »Glücklicher als die darüber. Glücklicher als etwa Ihre Freunde hier.« Der WAR wies auf Sigmund und Helmholtz »Trotz ihrer furchtbaren Arbeit?«
      »Furchtbar? Die finden sie gar nicht furchtbar. Im Gegenteil sie haben sie gern. Sie ist leicht, kinderleicht,. strengt weder Geist noch Körper an. Siebeneinhalb Stunden leichter, nicht ermüdender Arbeit, dann die tägliche Soma-Ration, Sport, uneingeschränktes Sexualleben und Fühlfilme. Was können sie nie verlangen? Natürlich«, ergänzte er, »könnten sie kürze Arbeitszeit fordern, und wir könnten die ohne weiter bewilligen. Technisch wäre es ganz einfach, die Arbeitszeit der niederen Kasten auf drei oder vier Stunden am Tag herabzusetzen. Aber wären sie dann glücklicher? Nein! Dieses Experiment wurde schon vor mehr als hundertfünfzig Jahren unternommen. Ganz Irland erhielt den Vierstundentag. Ergebnis: Fürchterliche Unruhen und gewaltig steigender Somaverbrauch, sonst nichts. Diese dreieinhalb Stunden zusätzlicher Muße waren so wenig ein Quell des Glücks, daß die Menschen sich mittels Soma von ihnen beurlauben mußten. Das Erfindungsamt ist vollgepfropft mit Entwürfen für arbeitsparende Einrichtungen. Mit Tausenden«, setzte er mit weit ausholender Gebärde hinzu. »Und warum führen wir sie nicht aus? Der Arbeiter wegen. Es wäre einfach grausam, ihnen allzuviel Muße aufzubürden. Nicht anders verhält es sich mit der Landwirtschaft. Wir könnten jeden Bissen, den wir essen, künstlich herstellen, wenn wir wollen. Aber wir tun es nicht. Wir ziehen es vor, ein Drittel der Bevölkerung auf dem Land zu halten. In ihrem eigenen Interesse - weil es länger dauert, dem Boden die Nahrung abzugewinnen als einer Fabrik. Außerdem müssen wir an die Beständigkeit denken. Wir wünschen keine Änderung. Jede Änderung ist eine Bedrohung für die Stabilität. Das ist auch ein Grund, warum wir so zurückhaltend bei der Verwendung von Erfindungen sind. Jede rein wissenschaftliche Entdeckung kann möglicherweise den Umsturz bewirken. Sogar die Wissenschaft muß manchmal als möglicher Feind behandelt werden. Ja, auch die Wissenschaft!«
      Wissenschaft? Der Wilde runzelte die Stirn. Er kannte das Wort, vermochte aber nicht genau zu sagen, was es bedeutete. Shakespeare und die Greise im Pueblo hatten nie von Wissenschaft gesprochen, und Filine hatte ihm nur sehr verschwommene Andeutungen gemacht: Wissenschaft war etwas, mittels dessen man Helikopter machte; etwas, das einen über die Erntetänze lachen ließ; ein Mittel gegen Runzeln und Zahnausfall. Verzweifelt strengte er sich an, die Worte des Aufsichtsrats zu begreifen.
      »Ja«, sagte Mustafa Mannesmann, »auch das geht auf das Konto der Beständigkeit. Nicht nur die Kunst ist mit Glück unvereinbar, auch die Wissenschaft. Wissenschaft ist gefährlich; wir müssen ihr Kette und Maulkorb anlegen.«
      »Wie? Was?« fragte Helmholtz erstaunt. »Wir behaupten doch stets, es gehe nichts über die Wissenschaft? Das ist eine Schlafschulweisheit.«
      »Dreimal wöchentlich vom dreizehnten bis siebzehnten Lebensjahr«, warf Sigmund ein.
      »Und die viele Propaganda für Wissenschaft an unserer Hochschule -«
      »Ja, aber für was für eine Wissenschaft?« fragte der WAR!
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      schrieb am 01.08.03 09:39:20
      Beitrag Nr. 158 ()
      i.A. ;)

      Die "Gedankenpolizei" im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten

      George Orwells berühmter Roman 1984 zeichnet das Schreckensbild eines totalitären Staates, der zur völligen Überwachung des Individuums und schließlich zu dessen Auslöschung führt. Bislang waren wir gewohnt, Orwells düstere Geschichte und das Schicksal seiner Hauptfigur Winston Smith, der einer systematischen Gehirnwäsche unterzogen wird, als Abrechnung mit dem stalinistischen Totalitarismus zu lesen, zumal der "Große Bruder" unverkennbare Züge des sowjetischen Diktators trug.

      Es gibt heute allen Grund, die negative Utopie des George Orwell auch auf die einzig verbliebene Supermacht - das Amerika des George W. Bush - zu beziehen. Dies gilt nicht zuletzt für jene schizophrene Form geistiger Schulung namens "Zwiedenken", die im Roman die Mitglieder der "inneren Partei" durchlaufen. Sie ermöglicht es, zwei sich widersprechende Wahrheiten zu glauben und im Bewusstsein zu integrieren. "Zwiedenken" manifestiert sich in den drei paradoxen Parteislogans "Krieg ist Frieden", "Freiheit ist Sklaverei" und "Unwissenheit ist Stärke". Dasselbe Prinzip liegt den Bezeichnungen der drei Superministerien zugrunde, die in Orwells Ozeanien alles beherrschen. Das "Ministerium für Friede" führt permanent Krieg - wie das US-Verteidigungsministerium mit seinem zeitlich und räumlich unbegrenzten "Krieg gegen den Terror". Gemäß der Logik des "Zwiedenkens" nennt das Pentagon die Eroberung des Irak und das neokoloniale Besatzungsregime eine "demokratische Befreiungsaktion". Orwells "Ministerium für Wahrheit" verbreitet systematisch Lügen - wie die US-Propagandaabteilungen, von denen die amerikanische und die Weltöffentlichkeit mit gezielten Desinformationen über die angebliche Verbindung des Irak mit al Qaida und über mutmaßliche irakische Massenvernichtungswaffen getäuscht wurden. Das "Ministerium für Liebe" schließlich überwacht die Bürger, forscht ihre Intimsphäre aus und setzt sie willkürlich in Haft - wie derzeit das US-Justizministerium unter John Ashcroft, der das Kernstück der amerikanischen Justiz, die anwaltliche Schweigepflicht, per Dekret abgeschafft hat. Seither kann die Kommunikation zwischen Anwälten und ihren Klienten abgehört und bis hin zu Telefonaten und E-Mails überwacht werden.

      Schon höre ich den Einspruch: In der ältesten und stabilsten Demokratie der Welt mit ihrer freiheitlichen Verfassung und ihrem berühmten "check and balance"-System, das den Machtausgleich zwischen den konstituierten Gewalten fest institutionalisiert hat, wird ein Orwell´sches Szenario niemals möglich sein, zumal die US-Gesellschaft ihre Fähigkeit zur demokratischen Selbstkorrektur stets bewiesen hat. Siehe Watergate! Können wir dessen wirklich so sicher sein?

      Neue Geschäfte und Gesichter

      Der sogenannte Souverän, das amerikanische Volk, hat auf die Entscheidungen des Weißen Hauses oder des Pentagon nicht den geringsten Einfluss, ganz abgesehen davon, dass die Hälfte der wahlberechtigten Bürger chronische Wahlenthaltung übt. "Wenn man in diesem Land ein wirklich demokratisches politisches System aufbauen will", erklärte Noam Chomsky unlängst im Freitag-Interview, "müsste man ganz von vorn anfangen."

      Der Militärisch-Industrielle Komplex mit dem Pentagon als organisierendem Zentrum, das zirka 30.000 Firmen mit Aufträgen versieht, führt seit langem ein kaum mehr kontrolliertes Eigenleben. Das Pentagon mit seinen knapp 40 Geheimdiensten ist zu einem Staat im Staate geworden. Leslie Wayne beschrieb in der New York Times (14. Oktober 2002), wie mit dem Krieg gegen den Terror im Pentagon eine uralte Kriegspraxis wiederauferstand: das Anheuern von Söldnern. Nur heißen sie heute: "private military contractors". Einige dieser Söldnerfirmen sind Subunternehmen von Konzernen aus der Liste der fortune 500 (der 500 größten Vermögen). Leslie Wayne: "Das Pentagon kann ohne sie keinen Krieg führen ... Private militärische Vertragspartner sind das neue geschäftliche Gesicht des Krieges." Diese Agenturen haben ihre Leute in Bosnien, Nigeria, Mazedonien, Kolumbien und anderswo. MPRI, einer der Branchenführer, brüstet sich, "mehr Generäle per Quadratfuß als das Pentagon zu haben". In Friedenszeiten können sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit geheime Missionen übernehmen. Sie stehen in keiner Befehlskette und sind nur ihrem Auftraggeber, dem Pentagon oder State Department, aber nicht dem US-Kongress rechenschaftspflichtig.

      Auch mit anderen Kernstücken der amerikanischen Verfassung, der Rede- Informations- und Pressefreiheit, steht es im Amerika George W. Bushs nicht zum Besten. Längst sind die großen US-Medien, die den Big Corporations gehören oder von diesen gesponsert werden, auf den Kurs der Regierung eingeschwenkt, de facto gleichgeschaltet. Kritische Sendungen gelten als "unpatriotisch" und fallen der Selbstzensur und dem ungeheuren Konformitätsdruck zum Opfer. Während des Irak-Krieges wurden Jugendliche in ihren Schulen schon wegen T-Shirt-Texten wie "Give Peace a Chance" bestraft und in Einkaufszentren mit Hausverbot belegt.

      Der Durchschnittsamerikaner ist politisch so schlecht informiert, als habe er die Parole der Partei in Orwells Roman "Unwissenheit ist Stärke" längst verinnerlicht. Sage und schreibe 44 Millionen Amerikaner sind nicht imstande, Texte zu lesen und zu schreiben, die auf dem Niveau der vierten Schulklasse liegen. Mit anderen Worten, sie sind faktisch Analphabeten. Der Durchschnittsbürger verbringt 99 Stunden im Jahr mit der Lektüre von Büchern und 1.460 Stunden vor dem Fernsehapparat. Nur elf Prozent der Amerikaner lesen regelmäßig eine Tageszeitung.

      Dass eine Bevölkerung, die ihr Weltbild fast nur über das Fernsehen gewinnt, beliebig manipuliert, indoktriniert und von Ängste gejagt werden kann, liegt auf der Hand.

      Während des Aufmarsches der US-Truppen am Golf sah Condoleezza Rice, die Sicherheitsberaterin des Präsidenten, gar einen Atompilz über New York aufgehen, wenn Saddam Hussein nicht endlich das Handwerk gelegt werde. Unmittelbar vor Beginn des Irakkrieges am 19. März wurden die Bürger in zahllosen TV-und Radio-Spots des Heimatschutzministeriums aufgefordert, ihre Wohnungen vor möglichen biologischen und chemischen Angriffen zu schützen. Dazu sollten sich die Familien in einem vorab festgelegten Raum des Hauses versammeln und dort Klebebänder und schwere Plastikdecken zum Abdichten von Türen und Fenstern bereithalten.

      Im Mai fand in einem Industriegebiet von Seattle die bislang größte Terrorschutzübung in der Geschichte der USA statt. Das fiktive Szenario: Terroristen mit dem Namen "Glodo" zünden eine "schmutzige Bombe", die mit radioaktivem Material angereichert ist. Die Bilanz: 150 Menschen werden getötet oder lebensgefährlich verletzt. Radioaktive Wolken ziehen kilometerweit über die Stadt. Eine zweite Autobombe wird im 65 Kilometer entfernten Tacoma gezündet, ein Terrorist dringt in die Universitätsgebäude ein und nimmt Geiseln. Hunderte Feuerwehrleute, Polizisten und Mitarbeiter von Rettungsdiensten sind an der fünftägigen Übung beteiligt. Das Topoff 2 genannte Manöver sollte möglichst realitätsnah ablaufen. Ein falsches Nachrichtenteam ist auf der Suche nach Bildern von brennenden Autos und Rettern mit Gasmasken. Sogar an Doubles von Bush und Cheney wird gedacht.

      Die Iris und sogar der Gang

      Dass die Bush-Regierung zur Absicherung ihrer innen- und außenpolitischen Ziele in der amerikanischen Bevölkerung systematisch Angst und Hysterie schürt, war jüngst auch dem "Capitol Hill Blue"- Bericht zu entnehmen, der entsprechende Aussagen von Mitarbeitern des FBI und der CIA zitierte: Die ständigen Warnungen vor Terroranschlägen in den USA würden vom Weißen Haus fabriziert, ohne jeglichen Bezug auf Fakten, nur um in der Bevölkerung das Gefühl der andauernden Bedrohung aufrechtzuerhalten und der Politik des "starken und entschlossenen Präsidenten" hohe Zustimmungsraten zu sichern.

      Dass auch Orwells "Gedankenpolizei" im "Lande der unbegrenzten Möglichkeiten" demnächst Einzug halten könnte, belegt ein neues Überwachungssystem der Forschungsabteilung des US-Verteidigungsministeriums - die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA). Die ein oder andere Anregung holte sich das Team von Ex-Admiral John Pointexter bei George Orwell, darunter die Erkenntnis, wie wichtig eine freundliche Namensgebung ist (bei Orwell das "Miniwahr"). Nachdem der US-Kongress den Gesetzesentwurf für das Projekt Total Information Awareness (zu Deutsch: totales Informationsbewusstsein) nach massiven Protesten von Bürgerrechtlern im Februar gestoppt hatte, startete die Regierung Bush einen zweiten Anlauf unter der neuen unverfänglicheren Bezeichnung Terrorist Information Awareness (TIA), zu deutsch: Terroristenüberwachung. Für das Projekt hat das Pentagon für dieses Jahr 9,2 Millionen Dollar bereitgestellt, doch soll die Summe 2004 auf 20 Millionen und 2005 auf knapp 25 Millionen Dollar steigen.

      Herzstück der geplanten Big-Brother-Initiative ist eine Datenbank, die öffentliche und private Informationen über Bürger enthalten und die Suche nach Mustern terroristischer Umtriebe erlauben soll. Erfasst werden sollen unter anderem der Internet-Verkehr, kommerzielle und staatliche Datenbanken von Finanzinstituten, Reiseunternehmen, Gesundheits- und Verkehrsbehörden. Seit dem Patriot Act müssen auch Bibliotheken und Buchhandlungen Daten über das Leseverhalten ihrer Kunden an die staatlichen Ermittler weitergeben.

      Doch zum Entsetzen von Bürgerrechtlern ist das nicht alles. Die DARPA gab jetzt bekannt, auch ein Projekt namens Lifelog zu verfolgen und damit alles über einen Menschen aufzuzeichnen, was sich elektronisch überhaupt erfassen und auswerten lässt: Jede E-Mail, jede angesteuerte Webseite, jedes Telefongespräch, jede angeschaute Fernsehsendung, jede gelesene Zeitung und jedes Buch. Dem Auge des Großen Bruders soll nichts mehr entgehen. Zusätzlich soll die Biometrik helfen, Menschen auf der Spur zu bleiben. Gesichtsform, die Iris und sogar der Gang sollen jedes Individuum identifizierbar machen. Radarstrahlen werten dabei die Bewegungen aus und erkennen ein Muster, das so einzigartig sein soll wie ein Fingerabdruck - ein technisch ausgeklügeltes Schnüffelprogramm, das selbst Orwells "Gedankenpolizei" alt aussehen ließe.

      Wenn das andere, das liberale und pazifistische Amerika, das vor dem Irak-Krieg zu Hunderttausenden auf die Straße ging, sich nicht gegen diese Entwicklung stemmt, könnte es sich schon bald in einem Orwell´schen Polizei- und Überwachungsstaat wiederfinden, in dem die "innere (Unternehmer) Partei" die manipulierten Massen in einem Dauerzustand patriotischer Wehrhaftigkeit hält und ihre Streitkräfte gegen immer neue Phantomfeinde in den Krieg schickt.

      Quelle: http://www.freitag.de/2003/32/03320601.php
      Avatar
      schrieb am 01.08.03 09:45:05
      Beitrag Nr. 159 ()
      Nachdem heute Poindexters Rücktritt angekündigt wurde, kann man den ganzen Artikel bereits in die Tonne werfen. Die meisten darin vorgestellten Pläne werden nicht realisiert werden.
      Avatar
      schrieb am 08.08.03 14:09:02
      Beitrag Nr. 160 ()
      Also, Auryn, du magst mich verteufeln, vierteilen, teeren und hängen, weil ich nicht auf die Inhalte eingehe ... ich sage dir nur, daß es 3 Sorten Menschen gibt: jene, die nur Schönes & Gutes hören wollen bzw. zur Kenntnis nehmen; jene, die Übles wohl zur Kenntnis nehmen und sich wortreich darüber ausbreiten, berechtigte Kritik üben und eventuell Modelle zur Verbesserung der Zustände entwickeln; ferner jene, die was dran tun. Du kannst dir denken, wie ich über die jeweiligen denke. :rolleyes:
      Avatar
      schrieb am 09.08.03 10:18:06
      Beitrag Nr. 161 ()
      @ Mirabellchen:
      Ich dachte sogar immer, es gäbe nur zwei Sorten von Menschen:
      Solche, die andere Menschen verallgemeinernd kategorisieren und in irgendwelchen Schubladen ablegen und solche, die dies nicht tun. Ich gehöre natürlich zur zweiten Kategorie und bedaure feststellen zu müssen, daß Du möglicherweise zur ersten Kategorie gehörst.
      :D
      Aber um auf Dein Posting ernsthafter einzugehen: Ich traf in den Diskussionen hier "immer wieder gerne" auf Menschen, die glaubten, die Probleme mit dem Totalitarismus und dem Kommunismus wären doch schon lange erledigt, weshalb sie sich gar nicht mehr dafür interessieren und nur noch den USA "Totalitarismus" und "Faschismus" vorwerfen. Dabei haben sie leider die "Aufarbeitungzeit" der Verbrechen in der Vergangenheit vergessen. Wenn man die nämlich berücksichtigen und mit der Aufarbeitung des Faschismus in Deutschland vergleichen will, dann befinden sich Länder wie Weißrußland, Rumänien oder ähnliche mehr gerade erst in den "Aufarbeitungs-Jahren" 1955 bis 1960. Es wäre schön, wenn dies den Menschen in Westeuropa bewußter würde.
      Oder wie erklärst Du Dir sonst diese folgende Zeitungsmeldung aus der "Hermannstädter Zeitung" vom 1. August 2003 (in Worten Zweitausendunddrei!), S. 1 +2 ? Und beachte dabei bitte den letzten Satz des Artikels in "Fettdruck"!

      Regimekritiker totgeprügelt - Milizionäre wegen Dissidentenmordes verurteilt


      Der Beteiligung an der Ermordung des rumänischen Regimekritikers Gheorghe Ursu für schuldig befunden wurden zwei ehemalige hohe Milizoffiziere, Tudor Stänicä und Mihail Creanga. Den Richterspruch fällte dieser Tage das Bukarester Appellationsgericht.
      Ursu war 1985 wegen regimekritischer Äußerungen, die er in sein Tagebuch notiert hatte, von der Securitate unter dem Vorwand des illegalen Devisenbesitzes festgenommen worden. Im Polizeiarrest saß er mit einem Gemeinverbrecher namens Marian Clitä in einer Zelle. Der hatte von den beiden Milizionären den Auftrag bekommen, gegenüber Ursu Gewalt anzuwenden. Die Wachmannschaft war angehalten, unter keinen Umständen einzuschreiten. Ursu starb an den Folgen der erlittenen Prügel und Fußtritte. Nach der Wende strengten die Hinterbliebenen ein Gerichtsverfahren an, das zunächst nur zur Verurteilung Clitäs führte, doch Zeugenaussagen belasteten auch Stanica und Creanga. Die beiden wurden jetzt von einem Bukarester Gericht zu elf Jahren Haft und zur Zahlung von einer Milliarde Lei an die Hinterbliebenen verurteilt. Eigentlich hat das Gericht die beiden zu je 20 Jahren Haft verdonnert, zu denen weitere zwei Jahre wegen Vorsätzlichkeit kamen - insgesamt also 22 Jahre -, doch ein von Ceausescu 1988 erlassenes und noch immer in Kraft befindliches Amnestiedekret hat die Haftzeit auf elf Jahre halbiert.
      Stanica war zur Tatzeit oberster Strafermittler der Miliz, Creanga Leiter des Untersuchungsgefängnisses Rahova.
      Nach der Wende waren sie in leitenden Stellungen bei der bankrottgegangenen Credit-Bank tätig. Seit der Urteilsverkün dung sind die beiden flüchtig und werden steckbrieflich gesucht.
      Es ist unseres Wissens das erste Mal nach der Wende in Rumänien, daß Angehörige des kommunistischen Repressionsapparates wegen ihrer Vergehen in den Zeiten der Diktatur zur Verantwortung gezogen wurden. Das Urteil ist aber noch nicht rechtskräftig, es kann vor dem Obersten Gericht angefochten werden.
      H. W.

      Es müßte wie im Nazi-Deutschland der Nachkriegszeit Hunderte oder Tausende ähnlicher Verbrechen in Rumänien geben, die aber vermutlich niemals gesühnt werden.
      Avatar
      schrieb am 09.08.03 10:25:05
      Beitrag Nr. 162 ()
      P.S.: Da in Weißrußland übrigens noch ein echter Bilderbuch-Diktator namens Lukaschenko regiert, bei dem vergleichbare Prozesse noch völlig unmöglich sind, entschuldige ich mich hiermit dafür, in der Eile im Posting #161 Weißrußland und Rumänien in einem Atemzug genannt zu haben. Ich hätte eher Rumänien und Bulgarien vergleichen sollen.
      Avatar
      schrieb am 09.08.03 13:26:48
      Beitrag Nr. 163 ()
      Man sieht an solchen Beispielen allerdings auch, daß solche Diktaturen zu einem gewissen Grad von den beherrschten Menschen abhängen. Die Weißrussen sind in den GUS-Staaten bekannt dafür, sehr duldsam und träge zu sein. Eine vereinigte Opposition bringen die Menschen dort nicht zustande. Dazu kommt, daß die Versorgungslage, speziell im Vergleich zu der Ukraine, sich in den letzten Jahren verbessert hat und hier besser ist, als in den östlichen Nachbarstaaten. Nur die Visapflicht zu Polen könnte sich jetzt zum Problem entwickeln. Und ein voller Bauch ist natürlich ein fehlendes Argument für eine Revolution.

      Dabei hilft es auch nichts, daß sich Rußland mittlerweile langsam wieder in Richtung einer nur noch formal demokratischen Autokratie entwickelt. Kreise des früheren KGB um Putin haben das Land mehr und mehr im Griff durch Gleichschaltung des Fernsehens, der großen Energiekonzerne (und hier mittelbar auch Kontrolle über die Energieversorger in der Ukraine, Weißrußland, einigen zentralasiatischen Staaten und seit dieser Woche auch Georgiens), durch Popularisierung des Tschetschenienkrieg und damit verbundene stete Verstärkung der Rolle von Armee, Polizei und Geheimdienst und sogar eine eigene Jugendorganisation der "Putin-Anhänger". Manche sprechen schon von einer Wiederherstellung der Sowjetunion nur ohne Kommunismus, aber mit den gleichen Seilschaften aus Nomenklatura und KGB an der Spitze.

      Und dann erinnert man sich daran, daß die Russen die westliche Demokratie mit mündigen Bürgern noch nicht verinnerlicht haben und der Nationalcharakter, der die russische Seele am besten trifft, Oblomow ist, der Mann, der auf dem Diwan im Schlafrock liegt und jede Entscheidung stets auf Morgen verschiebt, und die rege Betriebsamkeit der "Nemetzki", der Deutschen und Fremden nicht verstehen kann. Das ist das Umfeld, auf dem Autokratien blühen können. Ähnlich in China der Konfuzianismus, der auch dort einer autokratischen Partei dient oder in Schwarzafrika der Tribalismus, der dort Stämme und Seilschaften wichtiger macht, als Parteien und demokratische Willensbildung.

      Das Herrschaftssystem eines Landes spiegelt oft den Entwicklungsstand der Menschen wieder; bei ungebildeten, unmündigen, passiven Bürgern kann man schwerlich eine entwickelte Demokratie erwarten. Von daher macht es mich besorgt, wenn ich sehe, wie die Bildung unter den jüngeren Menschen in Deutschland seit den 70er Jahren nachgelassen hat und danach auch noch Politikverdrossenheit aufgekommen ist.
      Avatar
      schrieb am 10.08.03 16:53:58
      Beitrag Nr. 164 ()
      #161 Auryn,

      meine "Kategorisierung" ist eine Abstrahierung meiner Erfahrungen. ... Selbstverständlich weiß ich, daß es -zig Spielarten gibt. Aber um mich verständlich zu machen, muß ich kurz & plakativ zusammenfassen. :D
      Aber selbstverständlich kategorisierst du nicht, das tust du nie und tätest du nie, außer wenn ... und vielleicht ... und gegebenenfalls, sofern du eine verallgemeinenernde Aussage machen mußt, um eine Beschreibung für Sachverhalte bzw. Eigenschaften zu geben ........ :D :D Nix für ungut, selbstverständlich "kategorisiere" ich nie im voraus! :)
      Avatar
      schrieb am 10.08.03 16:55:40
      Beitrag Nr. 165 ()
      Aber mal ganz ohne Bezug zum Thema eine Frage an dich als "Experten für den ganz nahen Osten": Kann man heute wieder von Deutschland aus mit dem Auto nach Belgrad reisen? :(
      Avatar
      schrieb am 11.08.03 12:43:32
      Beitrag Nr. 166 ()
      @ Mirabellchen (Posting # 165):
      Im Prinzip ja, aber ich würde in einigen Orten Slawoniens oder in der Nähe der Grenzen zu Kroatien / Bosnien möglichst jeden Aufenthalt vermeiden, falls der Wagen "typisch deutsch" aussehen sollte. Außerdem besteht womöglich die Notwendigkeit, ständig auf den Wagen und dessen Unversehrtheit zu achten, sobald er irgendwo abgestellt wird... (Hüstel!)
      Im Zweifelsfall würde ich an Deiner Stelle nochmal beim Auswärtigen Amt nachfragen. Die Diplomaten veranstalteten in den vergangenen Jahren, als der jugoslawische Luftraum noch gesperrt war, beim turnusmäßigen Austausch ihres diplomatischen Stabes manchmal bewachte und wechselnde Auto-Konvois mit Briten, Franzosen oder auch US-Amerikanern zusammen, wobei manchmal im Dunkeln gelassen wurde, welche Nation gerade ihre Diplomaten in welchem Wagen sitzen hatte.
      Solche Konvois bekamen nie größere Probleme, weil die Konsequenzen für Belgrad gar nicht absehbar gewesen wären.
      (Immerhin hatten GB, F und die USA noch ihre Mittelmeer-"Carrier" in der Nähe von 20 Flugminuten stationiert; räusper!) Manchmal haben sich auch Journalisten mit ihren Autos zwischen die Diplomatenkonvois schmuggeln können, sagt man.

      Zu Posting # 164:
      Schön, daß wir uns da wieder völlig einer Meinung sind.
      ;)

      Weitgehende Zustimmung übrigens auch zu Posting # 163.
      ;)
      Avatar
      schrieb am 11.08.03 13:53:15
      Beitrag Nr. 167 ()
      Hast du dich verkühlt?
      Avatar
      schrieb am 11.08.03 14:09:30
      Beitrag Nr. 168 ()
      Nun also: vielleicht wäre der Weg via Italien + Fähre einfacher. Mein Auto ist übrigens ein Geländefahrzeug und sieht zwar nicht deutsch, aber vielleicht "militant" oder UN-artig (gewesenes Weiß) aus? ... Hingeflogen wird ja schon wieder von Czech Airlines, Austrian Airlines, Lufthansa, Swiss Air, alle mit Zwischenstops (-stopps?). Mit dem Auto kann man ja eigentlich eigentlich stoppen (stopen?) wie man will/muß/kann - im Konvoi wohl nicht ... ich will, evtl. möglicherweise u. U. , einen Welpen abholen. :p
      Avatar
      schrieb am 11.08.03 14:19:50
      Beitrag Nr. 169 ()
      Vielleicht hülfe es, wenn ich mich verkleidete? ... so einfach wird man vom Deutschen zum Undeutschen :D Oder aber wiederum doch enttarnt und durchschaut? :rolleyes: Droht mir dann Erschießen oder gar Schlimmeres? :rolleyes: :cool: Ich glaube, ich nehme doch lieber den Zug. Vorausgesetzt, daß der oft genug und jeweils lange genug hält ... Vielleicht wäre ja auch eine Packung Pampers ganz nützlich ... Babymützchen und Schnuller verbergen die erschreckenden Fakten ... :eek: Nur wenn ich ab und zu das Milchfläschen zücke, erkennt man die eigentümliche Gestalt der Lippen ... und überhaupt hat das Kleine schon Zähne ... !! Ein Wunderkind, frühreif ... hoffentlich spricht es nicht den falschen Dialekt ... :confused:
      Avatar
      schrieb am 11.08.03 15:00:58
      Beitrag Nr. 170 ()
      :)
      Avatar
      schrieb am 11.08.03 15:34:06
      Beitrag Nr. 171 ()
      Zu Posting # 167:
      Na Du müßtest doch inzwischen wissen, daß ich in vollklimatisierten Räumen am PC zu sitzen bevorzuge und dort bei Deinen Fragen meistens noch kältere Füße bekomme, als ich sie ohnehin schon habe. Was das Auswärtige Amt betrifft, geben die einem manchmal auch telefonische Reisetipps per Internet oder Telefon-Automat. Im ARD-Videotext findet man die Nummern auch.

      Zu Posting # 168:
      Es muß ja nicht unbedingt ein Konvoi sein, aber seitdem ich diesen Spielfilm "Convoy" mit Kris Kristofferson in den 70er Jahren sah, liebe ich nun mal "Coonvoooooys".
      Es gibt doch aber sowieso Schnellstraßen und eine recht gut ausgebaute Autobahn von der ungarischen Grenze aus nach Belgrad. Die früher weggebombten Brücken bei Novi Sad etc. gibt`s auch wieder. Wenn Du immer schön auf dieser Autobahn bleibst und Dich nicht von UN-Panzerkonvois von der Straße schubsen läßt, dürfte eigentlich nichts passieren. Ein Wagen mit "gewesenem Weiß", der an die "Eisverkäufer" erinnert, kommt besonders bei jüngeren Serben auch gut "rüber". Ich würde aber - wie gesagt - an Deiner Stelle nicht gerne in Slawonien anhalten wollen. (Das ist der Zipfel gerade an der Grenze zu Kroatien in Deiner Karte in Posting # 169.) In Belgrad selbst müßte es für Dich weitaus ungefährlicher sein als für Dein Auto, weil die Stadt durchaus einen zunehmend weltoffenen Charakter hatte, nachdem einige Zehntausend ex-emigrierte Studenten aus dem Ausland zurückgekehrt sind. Mit der Fähre würde ich nicht so gerne fahren, weil die von Italien aus nach Osten vorzugsweise von Albanern, Montenegrinern oder Schmugglern benutzt werden oder von allen dreien in einer Person.
      ;)
      Ich würde mich in Belgrad selbst allerdings immer noch vorzugsweise als Schweizer ausgeben, wenn ich nicht genau wüßte, mit wem ich ein womöglich politisches Gespräch anfange. Wo wohnst Du denn eigentlich in Belgrad, wenn ich fragen darf? Das mit der Sicherheit in Belgrad ist nämlich so eine Sache - nicht erst seit Premierminister Zoran Djindjic aus dem Amt geschossen wurde: Im allerbesten fünfeinhalb-Sterne-Hotel von Belgrad, das seit Jahrzehnten immer unter den "Hotels von Welt" im balkanischen Luxuswettbewerb gewonnen hatte, wurde vor ca. 5 Jahren dieser nette Herr Arkan von einem Ex-Kumpel mit Maschinenpistole in die ewigen Jagdgründe befördert - naja, eigentlich war er schon 5 Meter am Portier vorbei, als er abgeschossen wurde. Innendrin soll es dagegen schön ruhig, luxuriös und angenehm sein. Das Essen ist auch allererste Klasse und vergleichsweise billig.

      Deine geplante Verkleidung als russische Soldatin ist vermutlich die ideale "Fiktiv-Identität", um unter älteren Leuten in Serbien viele neue Freunde zu gewinnen. Wie gut ist denn Dein Russisch und Dein Serbo-Kroatisch?
      Avatar
      schrieb am 11.08.03 18:13:16
      Beitrag Nr. 172 ()
      Auryn, mein Russisch und Serbokroatisch ist nicht existent, aber ich könnte mich ja als Exilant darstellen ... :( Mir fehlt freilich die Uniform und das entsprechende Gehabe. Viel echter könnte ich mich als Österreicherin tarnen, falls das konveniert ... allerdings kann ich meine Kfz-Kennzeichen nicht so einfach ablegen ... und den Paß schon eh gar nicht. Na, egal, ich kann immer noch richtig unschuldig gucken, das ist mitunter hilfreich. Und wohnen? Gibt`s da kein Holiday Inn oder sowas in der Art? Ich mag verblichene Noblesse nicht sehr, und Muffigkeit mißfällt meinem Geruchssinn. Mir wäre freilich an einem bewachten Parkplatz gelegen; ich finde mich - versichert oder nicht - nicht gern ohne mein Vehikel wieder. Ansonsten bin ich es gewohnt, letzteres im Auge zu behalten und dafür mitunter auf den Genuß von manch Besehenswertem zu verzichten, ungern natürlich, aber im Zweifelsfall erscheint mir dies als das kleinere Übel. Nun, mal sehen, ob ich mir die Mühsal auferlege nebst Impfungen und Zollkontrollen und vollgepüschertem Auto ... Manch einer soll ja sogar meilenweit gehen für gewissen Luxus ... Millioneuse müßte man sein, dann ist alles einfacher ... :rolleyes: Man läßt die Yacht dümpeln, dieweil man sich vom geübten Personal an Land begleiten läßt. Wo sind sie hin, die beflissenen Butler und eifrigen Diener, allesamt mit Namen James? Wie ich es hasse, mir mit dem Tauchsieder mit Autoadapter meine einigermaßen heiße Hühnersuppe selbst zu machen! Was für eine schnöde Welt, kein Stil, kein Chic! ... :mad:
      Avatar
      schrieb am 14.08.03 15:47:30
      Beitrag Nr. 173 ()
      Man hört nichts mehr von dir ... du bist doch nicht etwa nach Bel(l)grad vorausgefahren? :)
      Avatar
      schrieb am 15.08.03 11:25:52
      Beitrag Nr. 174 ()
      Nein, nein, ich arbeitete auf Balkonien an einem Buch.
      Außerdem hat dummerweise dieser LovSan-Virus das für mich speziell zuständige Rechenzentrum zwar nicht lahmgelegt, aber doch so verlangsamt, daß ich allein für dieses Posting schon 10 Minuten brauchen werde.
      Bis nächste Woche,
      Auryn
      Avatar
      schrieb am 15.08.03 11:38:08
      Beitrag Nr. 175 ()
      Komisch, ich meinerseits würde Lesen und Blättern nie als "Arbeiten" bezeichnen ... :laugh:
      Avatar
      schrieb am 15.08.03 11:50:27
      Beitrag Nr. 176 ()
      Und was ist mit dem Aufwand des Bleistiftspitzens und Notizen-hineinschreibens?
      Soll das etwa kein Anzeichen von Arbeit sein?
      Immerhin betätige ich mich dabei körperlich und verbrauche Arbeitsmaterial!
      Gelegentlich "exzerpiere" ich sogar zusätzlich für die nächste Publikation meiner Wenigkeit...
      Avatar
      schrieb am 18.08.03 16:42:57
      Beitrag Nr. 177 ()
      In Fortsetzung der Postings # 161 und # 163 in diesem Thread ein Hinweis auf das Buch:
      "Ich flehe um Hinrichtung.
      - Die Begnadigungskommission des russischen Präsidenten"
      von
      Anatoli Pristawkin

      Kommentar aus:
      Der Spiegel (06/2003): Lebendige Leichname


      In einer dramatischen Denkschrift rechnet der Schriftsteller Anatolij Pristawkin, Putins Berater für Begnadigungen, mit dem unbarmherzigen Justizsystem ab.

      Wenn Kreml-Chef Wladimir Putin kommenden Sonntag zur Eröffnung des deutsch- russischen Kulturjahres in Berlin einschwebt, gehört ein ungewöhnlicher Helfer zu seiner Entourage: Anatolij Pristawkin, 71.

      Die Aufnahme des Schriftstellers in den obersten Machtapparat hat vor einem Jahr Freund wie Feind verblüfft: Von Natur aus ist Pristawkin der Gegenspieler eines jeden Kreml-Beamten; unter Russlands harmoniesüchtigen Patrioten gilt er als Dissident und gefährlicher Moralist.

      "Wir leben in einem Land", predigt Pristawkin, in dem "alles verrottet ist, verurteilt zu Havarien und Katastrophen". In dem ein "wodkasüchtiges Volk" lebe, die Hälfte der arbeitsfähigen Bevölkerung "noch nie gearbeitet" habe und "Gefängnishaft eine wesentliche Daseinsform ist". In einem Land, in dem Hass, Intoleranz und Feindschaft gegenüber dem Nächsten zur "nationalen Mentalität geworden sind".

      Dieser Savonarola arbeitet als Putins Berater für Begnadigungen, und er hat sich für diesen Job qualifiziert, weil er als einer der intimsten Kenner der russischen Justiz und ihres Straflagerunwesens gilt. Schon 1992 erhielt er eines der umstrittensten Ämter in der postsowjetischen Aufbruch- Ära: Er wurde Chef der Begnadigungskommission beim russischen Präsidenten Boris Jelzin. Erstmals sollte damals eine unabhängige Gruppe von Schriftstellern, Journalisten, Historikern und Geistlichen sämtliche im Lande verhängten Todesurteile überprüfen, dazu die Begnadigungsanträge von Strafgefangenen.

      Fast zehn Jahre hat die Kommission Gerichtsakten und Briefe Verurteilter studiert;­ eine Arbeit, so ihr Chef, die "uns fast um den Verstand brachte: Wir haben Entsetzen, totale Hilflosigkeit, Verzweiflung und Schmerz" gespürt beim Lesen all dieser Lebensläufe, die in eine "Hölle der Rechtlosigkeit" führten. Seine Erfahrungen hat Pristawkin jetzt in dem Buch "Tal des Todesschattens" niedergeschrieben. Unter dem Titel "Ich flehe um Hinrichtung" erscheint es am 10. Februar in Deutschland.

      Mit Gestrauchelten und Gestrandeten weiß der Autor umzugehen; er hat einst selbst zu ihnen gehört. Seine Lebensgeschichte wurde 1989 in Rußland verfilmt unter dem Titel "Kinder des Sturms": Zu Kriegsbeginn 1941, gerade zehn Jahre alt und elternlos (der Vater wurde als Soldat rekrutiert, die Mutter starb in seiner Abwesenheit an Tuberkulose), vagabundierte er fünf Jahre durchs Land. Er wurde zum Gauner, geriet ins Kinderheim, in Verwahranstalten mit Polizeiaufsicht, in den Kinder-Gulag.
      Er erlebte schrecklichste Dinge bis eins der wenigen menschlichen Wunder in der Sowjetunion geschah: Sein Vater kehrte lebend aus dem Krieg zurück und fand seine Kinder nach langer Suche in verschiedenen Waisenhäusern wieder.

      Verarbeitet hat er die alptraumartigen Erlebnisse in seinem populärsten Roman "Schlief ein goldnes Wölkchen",­ der Geschichte von 500 Kindern, die 1944 in den zwangsweise entvölkerten Kaukasus verschickt werden, nach Tschetschenien. Von diesen 500 Kindern haben nicht einmal 15 die 50er Jahre überlebt. Zu Sowjetzeiten war das Werk wegen der unliebsamen historischen Wahrheiten jahrelang nicht erhältlich, inzwischen hat es sich 4,5 Millionen Mal verkauft.


      Pristawkins Aufgabenbereich ist riesig: Mehr als die Hälfte aller Häftlinge Europas sind Russen, etwa eine Million seiner Landsleute sitzt in Gefängnissen. In Japan, sagt er, einem Land mit ähnlicher Bevölkerungszahl, gebe es 40 000 Häftlinge.

      Die Erklärung für solche Wegsperrwut fand der Schriftsteller in überfüllten Knästen, psychiatrischen Anstalten und Arbeitslagern: Bereits 14-Jährige werden für Nichtigkeiten eingesperrt. Um drei, vier Jahre hinter Gittern zu landen ­ die für Russland durchschnittliche Haftdauer ­, reicht schon der Diebstahl eines Ferkels, eines Fernsehers oder auch nur eines Stromzählers, der 280 Rubel gekostet hat, rund 9 Euro.

      Mit "faschistisch-stalinistischen Verhörmethoden", so Pristawkin, fabriziere die Polizei zudem willkürlich Fälle, Ungerechtigkeiten und Fehlurteile. Was später in den Lagern als "Besserungsarbeit" ausgegeben werde, sei in Wirklichkeit "Erniedrigung, Willkür, Zertrampeln der Individualität", wie ein Gefangener schrieb.

      Die größte Gefahr für Russlands sittlichen Bestand sieht der Autor nicht etwa in den spektakulären Auftragsmorden russischer Mafiosi. Ihn ängstigt die gewaltige Kriminalität im privaten Bereich. Jährlich würden allein 600.000 Verbrechen "im Suff begangen", rechnet der Putin-Helfer vor. 50.000 Russen vergifteten sich mit Alkohol-Surrogaten, etwa Parfum. Gleichwohl würden solche Zahlen nicht als nationale Tragödie empfunden.

      Stattdessen werde Grausamkeit durch Grausamkeit bekämpft, "mit der Sturheit von Geisteskranken", so Pristawkins Erfahrung bei seinem Engagement gegen die Todesstrafe.

      In der langen Regierungszeit Iwan des Schrecklichen von 1547 bis 1584 wurden 4000 Menschen exekutiert;­ pro Jahr rund 110. In den Jahren der Stalin- Herrschaft dagegen kamen nach Pristawkins Angaben 643.000 Menschen durch Genickschuss um, etwa 20 000 im Jahresschnitt,­ die Opfer des Gulag nicht mitgerechnet. Selbst zwischen 1962 und 1990 traf es insgesamt noch 24 000 Delinquenten; sogar unter Reformer Jelzin starben bis zu 100 Häftlinge pro Jahr, trotz zahlreicher Begnadigungen durch die Pristawkin-Kommission.

      Dass Russland auf Druck des Europarats die Hinrichtungsmaschine stoppte, hat die Öffentlichkeit nie als Fortschritt angesehen: Die Mehrheit befürwortet noch immer die Höchststrafe und verhindert, dass sie endgültig aus dem Gesetzbuch gestrichen wird. Unbarmherzigkeit sei in Russland zum "höchsten Ordnungsprinzip" geworden, klagt Pristawkin dem SPIEGEL.

      Im Kampf um die Humanisierung des Strafvollzugs schaffte es die Kommission immerhin, dass es statt der Hinrichtung nun die Strafe "lebenslänglich" gibt. Aber das war eher ein Pyrrhussieg. Denn das einzige, auf einer Insel im Gouvernement Wologda geschaffene Gefängnis für die so genannten Ewigen gilt als "Gruft für lebendige Leichname": Es gibt keine Pakete, keine Besuche von Angehörigen, dafür Bedingungen, unter denen die Häftlinge "wie Wölfe heulen und die Toten beneiden", wie es ein Häftling beschrieb, der die Kommission um eine Gnade anflehte: "Ich bitte darum, mich zu erschießen."

      56.000 Häftlinge hatte das Gremium begnadigt, als das Justizministerium einschritt und nach einer üblen Pressekampagne vor einem Jahr die Kommission zerschlug.

      Der Gnadenausschuss habe sich "gegen die Mehrheit, gegen die Menge, gegen das Volk erhoben", lautet Pristawkins traurige Bilanz. Dass Putin fast zeitgleich mit dem Auflösungsbeschluss den einstigen Kommissionschef zu seinem Berater erhob, halten Freunde des Schriftstellers für eine Kreml-Finte. In seiner neuen Funktion war er denn auch bislang wenig erfolgreich.

      Pristawkin bleibt trotzdem optimistisch. In den 89 russischen Provinzen baute er jetzt lokale Begnadigungskommissionen auf. "Die sind", macht er sich Mut, "näher dran am Elend."


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      Anti-Utopien sowie deren Totalitarismus- und Realitätsbezug