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    Gibt es eine gesellschaftl. Krise? ist sie nur inzwischen bei WO angekommen? - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 20.09.02 12:46:49 von
    neuester Beitrag 25.09.02 14:25:12 von
    Beiträge: 26
    ID: 635.956
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      schrieb am 20.09.02 12:46:49
      Beitrag Nr. 1 ()
      Beim Grübeln über die derzeitige Destruktivität im Board ist mir folgendes Interview aufgefallen. Mehr assioziativ sind mir Parallelen zu derzeitigen Stimmungslage im Board gekommen, als das ich es genau belegen könnte.
      Das Interview hier rein zu stellen ist also mehr spekulativ als durch Fakten gerechtfertigt.
      Die verschiedenen Einstellungen Benns und Mandelstams lassen sich aber meiner Meinung nach auf jeden einzelnen hier runterbrechen und übertragen, und Stellen zwei Grundsituationen dar, zwischen der sich jeder einzelne bewegt, und seiner Position dem "Rest der Welt" gegenüber.
      Man kann das Intervies sicher auch ohne genauere Kenntnis von Benn oder Mandelstam lesen, und Bezüge herstellen.
      Aber es gibt ja hier auch einige literarisch ambitionierte Leute, die vielleicht was damit anfangen können.
      Vielleicht ist das alles etwas weit hergeholt, aber Lyriker hören eben immer schneller das Gras wachsen.


      Gruß
      H.


      Durs Grünbein im Interview

      Gottfried Benn schmort in der Hölle

      Ein Gespräch mit dem Dichter Durs Grünbein über das Paradies, die Apokalypse und den wahren Ort der Poesie


      Durs Grünbein, geboren 1962 in Dresden, hat schon 1994 den renommiertesten deutschen Literaturpreis, den Georg-Büchner-Preis, erhalten. Dass die FAZ damals ausrief: "Seit dem frühen Hofmannsthal hat es in der deutschen Poesie keinen vergleichbaren Götterliebling mehr gegeben!" - das hängt ihm bis heute nach. Grünbein glänzte im folgenden durch seine poetologischen Essays. 1999 erschien der Gedichtband "Nach den Satiren" - eine Parallelgeschichtsschreibung zwischen der römischen Antike und dem heutigen US-Imperium. Grünbein lebt in Berlin.

      Die Frage, an wen sich der Lyriker eigentlich wendet, ist nie wirklich beantwortet worden. Ist das Gedicht vor allem ein Selbstgespräch, oder ist es doch direkt an einen Leser gerichtet? Sie haben in diesem Zusammenhang auf Ossip Mandelstams Essay "Über den Gesprächspartner" hingewiesen.

      Mandelstam wendet sich an einen unbekannten Leser aus der Nachwelt. Extrem ausgedrückt, sendet die Dichtung Signale aus wie zum Mars. Sie sucht, so weit wie möglich in den Außenraum und in die Außenzeit hinauszugehen, immer in der Hoffnung, dass dieses Signal irgendwann empfangen wird.

      Ein Bild des Mandelstam-Essays hat viele Kreise gezogen: Das Bild, die Dichtung sei eine "Flaschenpost". Es wird im 20. Jahrhundert immer wieder zitiert werden. Mandelstam sagt, die Flaschenpost werde "im kritischen Augenblick" aufgegeben.

      Mandelstam hatte, wie wir wissen, ein offizielles Publikationsverbot. Dann schrieb er das bekannte Epigramm gegen Stalin, und damit war nicht nur seine Dichterexistenz, sondern auch sein Leben in Gefahr. Wir wissen, wie dieses ungleiche Duell ausging. Ein Duell war es insofern, als Stalin genau wußte, wen er da für vogelfrei erklärte. Pasternak hat es ihm im Telefongespräch vorbuchstabiert: einen Meister. Sozusagen einen poetischen Facharbeiter. Das wiegt umso schwerer, als es im Bolschewismus durchaus die Vorstellung vom Spezialisten gab. Doch dieser besonders begabte Spezialist ließ sich einfach nicht in Dienst nehmen für die Absichten der Sowjetmacht. Darin liegt seine einzigartige Leistung. Er war ein Emigrant im eigenen Land, eine Waise im Allunionsmaßstab, wie Joseph Brodsky gesagt hat, sein treuester Schüler. Was immer er schrieb, konnte nurmehr Flaschenpost sein, eine Botschaft an Unbekannt, ohne Hoffnung auf Ankunft aufgegeben und nur noch mündlich weitergereicht, dank des guten Gedächtnisses seiner Freunde und der Lebensgefährtin Nadeshda Mandelstam. Das Interessante ist, dass er 1913 exakt die Situation beschreibt, in die er dann in den dreißiger Jahren gerät.

      Was verstehen Sie unter dem "kritischen Augenblick"?

      Eine schockhafte Erfahrung, die nicht mehr unmittelbar und vor allem nicht im munteren Plauderton weitergegeben werden kann. Also adressiert man sie an die Ferne, an einen, der erst noch geboren wird, wie es bei Kleist heißt. Der kritische Augenblick ist offenbar eine Erfahrung der Einzigartigkeit der eigenen Lebenssituation. Er kann selbst in einer freien Gesellschaft auftauchen: wenn man sich allgemein von Langeweile und Geschwätz umzingelt fühlt, etwa in einer vollkommen medialisierten Welt. Der kritische Augenblick tritt übrigens erst auf, wenn die Gesellschaft in der Krise ist. Natürlich hat ein Götterliebling wie Goethe den kritischen Augenblick so nicht gekannt.

      Damit sind wir in der Zwickmühle zwischen Dichtung und Gesellschaft.

      Der späte Goethe hatte wohl eine Ahnung davon. Besucher der letzten Jahre haben da einen leicht resignativen Ton heraushören wollen, ein Gefühl der Vergeblichkeit, auch wenn er noch immer meinte, der Sinn seines Lebens sei der Triumph des Reinmenschlichen gewesen. Der zweite Teil des Faust ist eine einzige Anklage der Geschichte mit ihrer Tendenz zu Beschleunigung und Verschrottung. Plötzlich steht der Mensch da als Feind des Menschlichen. Er erschrickt vor sich selbst und ahnt die Krise, in die die moderne Menschengemeinschaft geraten könnte. Da auf einmal wird ihm klar: Ich teile hier Dinge mit, die derart monströs sind und radikal, dass ich nicht erwarten kann, dass auch nur irgendeiner meiner mitlesenden Zeitgenossen, bis hinauf zu den gebildeten Ständen, mich noch versteht. Deshalb versiegelt er sein Produkt, und gibt den zweiten Teil des "Faust" als Flaschenpost an die Zukunft auf.

      Da fängt also die Moderne an: beim Adressieren an eine unbekannte Nachwelt.

      Mit etwas Übertreibung könnte man sagen: mehr als 2000 Jahre lang war Literatur ein Spiel, das nach den Regeln der Immanenz funktionierte, als hochartifizielle Botschaft, die in geschlossenen Kreisen zirkulierte. Zumeist schrieb und adressierte der Dichter an seinesgleichen oder an die Ansprechpartner der Macht, an die Eliten, die offiziellen Vertreter der Kultur. Erst mit der Aufkündigung dieses Bundes, von welcher Seite auch immer, wird es brisant. Das Wort mag seinen Ort bewahren, seine Herkunft, aber es verliert seinen Orientierungssinn, seinen gesellschaftlichen Vektor. Das ist ein Verlust zugleich und ein Gewinn. Hier eben zeigt sich der Sprung in die Literatur der Moderne. Sie macht uns, zum ersten Mal vielleicht, zu souveränen Lesern. Indem sie uns, jeden Einzelnen, in der Vereinzelung anspricht, erlaubt sie, dass jeder Einzelne aus dieser Vereinzelung heraus sich gemeint fühlt und die gesamten Botschaften der Weltliteratur empfängt. Man könnte den Begriff der Moderne auch umkehren und sagen: in dem Maß, wie sie über das Ziel hinausschießt, gab es immer schon moderne Literatur. Sie tritt auf, wo immer die unmittelbaren Empfänger, die Kriegergemeinschaft, das Personal bei Hof, das gebildete Publikum übersprungen wird und das Wort autonom wird und sich ins Dickicht der Einsamkeit schlägt. Schreiben, ohne zu wissen, ob und bei wem es ankommt, ist die Grundbedingung jeder modernen Literatur von Kallimachos bis Kafka.

      Es gibt Selbstzeugnisse von Schriftstellern, die ungefähr demselben Wahrnehmungsbereich entstammen wie die Mandelstams, aber ganz anders mit dem Auf-sich-selbst-Zurückgeworfensein umgehen. Der große Gegenpol ist Gottfried Benn, mit seiner dezidiert "monologischen Lyrik". Ist Benn angesichts der beschriebenen Situation nicht konsequenter?

      Mandelstam sagt an einer Stelle, dass die Stimme oder das Sprechen selbst zum Ereignis wird. Dieses Ereignis zeigt sich im Unerwarteten, darin, dass das, was jetzt und hier gesagt wird, zum ersten Mal so gesagt wird, als absolut Subjektives. Einer der radikalen Schlüsse daraus ist die Lyrik als Monolog, wenn man so will eine Schwundstufe, die Reduktion aller Metaphysik auf den Einzigen und sein Eigentum, im schlimmsten Fall also der reine Solipsismus. Es gibt in der Dichtung des späten neunzehnten Jahrhunderts die Tendenz zum Kristallinen und Skulpturalen der Wortgebilde. Aus der Einschließung der Welt ins Subjekt resultiert die Mimikry ans Anorganische. Das Wort will Materie werden und sonst nichts. Das gelingt aber immer nur momentweise, unter Aufgabe des Bewusstseins. Die Schönheit gewisser Gedichte rührt daher, dass sie wie Skulpturen im Ideenraum stehen, der Leser kann sie von allen Seiten betrachten und bleibt mit seinen alltäglichen Gefühlen und Gedanken außen vor. Ihre Oberfläche ist so sehr verdichtet und abgeschlossen, dass das Gedicht zum schönen Fremdkörper wird, wie bei manchen der Symbolisten. Benn hat, soweit ich weiß, den Dialog niemals ganz aufgekündigt, auch wenn nicht immer klar ist, mit wem er da spricht.

      Der Gegensatz zu Mandelstam ist aber doch erheblich.

      William Carlos Williams sagt: The poem is the item. Das Gedicht ist ein Gegenstand. Dies kann ein Kunstobjekt sein, es kann aber auch ein ganz praktischer Gegenstand sein, eine Gießkanne oder ein Faustkeil, ein Werkzeug, das man in der Hand wiegt. Darin liegt einer der großen Unterschiede: entweder ist Artefakt im Sinne der Archäologie oder Angebot zum Dialog, entweder verbales Objekt, reines Klanggebilde oder Gedankenspur, wörtliche Rede, die das Gespräch in Gang hält oder als Droge und Schmerzmittel Anwendung findet. Zumindest Mandelstam hat bis zuletzt den Dialog gesucht, das Gespräch mit den Lebenden und den Toten. Sein Vers lauscht ins Körperinnere und sucht den Kontakt zur Außenwelt. Noch aus der innersten Verbannung und Isolierung heraus hielt er Zwiesprache. Und dann kommt einer wie Benn, desillusioniert bis in die Knochen und zieht sich mit seinen Versen ins Private zurück. Eines Tages wird das Gedicht zum Splitter im Fleisch der Gesellschaft, etwas für Ärzte und Spezialisten. Es läßt sich dann nur noch operativ entfernen, aber aufheben und ins Gespräch verstricken läßt es sich nicht.

      Eine Ästhetik der Kälte.

      So lautet die Formel. Es ist doch merkwürdig, kein einziges Mandelstam-Gedicht ist jemals kalt. Und das liegt nicht nur an der Stallwärme des Russischen, an dieser kindlichen Klugheit. Das Bennsche Gedicht, das statische Gedicht, bettelt nicht um Gefühle, es ist derart abgeschlossen, dass es den Leser tatsächlich nicht mehr braucht. Der Dichter scheidet lauter Nierensteine aus, und die kann man dann in die Vitrine stellen und künstlich beleuchten.

      Sie selbst wurden früh als Bennscher "Hirnhund" bezeichnet. Man kann in Ihren Gedichten durchaus Anknüpfungspunkte sehen.

      Die Mandelstamsche Position ist mir von Anfang an viel näher gewesen. Bis heute geht mir das tapfere Gemurmel dieses intelligenten Weltkindes nach. Mandelstam spricht tatsächlich aus der Mitte des Universums, so wie Goethe es sich erträumt hat. Bei ihm wird alles beseelt. Ich weiß nicht, was Benn gemeint hat, als er vom Nüssebewispern sprach. Mandelstam jedenfalls bewispert seine Umwelt, alle die kleinen und großen Dinge in Natur und Gesellschaft, vom Grashalm übers Telefon bis hin zur stattlichsten Architektur. Er haucht allem Leben ein und tränkt es mit Psyche und Zeit. Alles ist ihm zum Weinen vertraut.

      Ist die Haltung Benns nicht suggestiver?

      Suggestiv für die Erkälteten, die im Frost Erstarrten. Es ist alles eine Frage der Temperatur und des Temperaments. Man kann den Lemuren Gute Nacht sagen und mit den Reptilien aufstehen, und man kann in den Steinen eines Gebäudes noch die Hände der Erbauer spüren und ihren Atem.

      Benn entspricht doch radikal einer gesellschaftlichen Situation, einer Erfahrung.

      So ist es. Das gehört zu den Verhaltenslehren der Kälte, wie die Meister der Neuen Sachlichkeit sagen würden, eine sehr deutsche Haltung. Ich glaube, dass Benn in die Falle ging mit seinem martialischen "Erkenne die Lage". Für eine Gesellschaft der Kälte und der Entfremdung ist Zynismus die angemessene Reaktion. Es geht immer darum: soll man dem Gegenstand ähnlich werden und ihm die kalte Schulter zeigen oder soll man sich ihm anschmiegen und ihn beseelen, selbst wenn man dabei zugrunde geht.

      Während bei Mandelstam sogar die Utopie einer besseren Gesellschaft im Hintergrund aufscheint.

      Benn weiß, dass das Spiel vorbei ist. Seine Schreibsituation ist die des Rien ne va plus.

      Ist das nicht realistischer als die Utopie?

      Benn geht davon aus, dass Ausbeutung eine Funktion des Lebendigen ist. Damit ist klar, dass es selbst in Lichtjahren keine andere Gesellschaft geben wird als eine der Ungleichheit und der Ausbeutung oder eben einseitiger Verwertung des Mehrwerts. Es wird immer Sklaven und Herren geben, und es wird immer Börsenmakler und Arbeitslose geben. Die im Glanz, in den prächtigen Villen, und die da unten, wo die schweren Ruder der Schiffe streifen, wie Hofmannsthal sagt, die in den Straßen verkommen unter ihren verlausten Decken. Benn führt vor, wie man schreibt, wenn man weiß: Es wird nie Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit und damit Wärme geben. Wer so denkt, braucht keinen Gesprächspartner. Was bleibt, ist die Sehnsucht, haltbare Wortgebilde zu schaffen: Das Gedicht als funkelndes Meteoritenstück, das da draußen im kalten All herum fliegt und aus den Bullaugenfenstern der Raumschiffe betrachtet werden kann.

      In den sechziger, siebziger Jahren im Westen, als Gleichheitsgedanken und utopische Ideale das tägliche Brot waren, galt Benn als persona non grata. Heute scheint es so, als hätte er die letzten Wahrheiten verkündet. Damit verglichen wirkt Mandelstams Suche ziemlich entrückt.

      Erledigt hat sich beides nicht. Wahrscheinlich ist das eine wie das andere gleich wahrhaftig und gleich real. Denn die Gesellschaft kann so kalt werden wie sie will, allein durch den biologischen Reproduktionsprozess reproduziert sich immer wieder erneut die Sehnsucht nach einer Besserung. Man könnte sagen, leider ist Benns Position im Moment realistischer. Bis heute ist sie wahrscheinlich die letztgültige Durchsage. Obwohl - wir reden jetzt vor allen Dingen immer von dem Benn der statischen Gedichte. Wir reden nicht über den Benn, den es auch gab - und daran zeigt sich schon, dass so etwas zumindest innerhalb eines Menschenlebens nie absolut zu betreiben ist - den Benn, der immer wieder bis fast zum Kitsch Sehnsuchtsimpulse aussendet, geradezu Schlager produziert. Es sind übrigens oft gerade diese Gedichte, die Schule gemacht haben. Jede neue Enttäuschung gebiert das Verlangen nach sofortiger Illusion. Von diesem Teufelskreis lebt die ganze Unterhaltungsindustrie.

      Die monologische Lyrik steht ja am Ende des Bennschen Lebens und ist wohl so eine Art conclusio. Aber gerade in dieser Zeit, als er die monologische Lyrik theoretisch formuliert, schreibt er auch jene Gedichte, die sich lustvoll dem Kitsch annähern. Da muss es einen Zusammenhang geben.

      Das könnte man auch am Beispiel Hofmannsthals zeigen. In Überwindung der Krise, wie sie im Brief des Lord Chandos zum Ausdruck kommt, hört er auf, Gedichte zu schreiben und beliefert die Operette mit schwungvollen Libretti, mit diesem Leichten, das so schwer zu machen ist. Er war einer der klügsten und talentiersten Dichter der österreichischen Moderne. Sehenden Auges desertiert er aus der Einzelzelle der Lyrik ins Opernhaus und versorgt sein bürgerliches Publikum, den Rest der versprengten Hofgesellschaft, mit dem Traumstoff der leichten Muse. Genau da liegt auch die Ursache dessen, was Sie den Bennschen Kitsch nennen, jenes Element von schlagerseliger Versöhnung, das einer wie Rühmkorf mit den Zeilen verspottet: "Die schönsten Verse der Menschen / Sind die Gottfried Bennschen". Die Übermacht der enttäuschten Träume steigert das Verlangen nach dem Rauschgift der Poesie ins Unermessliche. Was die Begehrensstruktur des Kapitalismus betrifft, so ist es noch immer dasselbe Lied. Je härter die Verhältnisse, je trostloser und kälter, umso mehr Rauschgift wird gebraucht, um den permanenten Druck auszuhalten. So wird der Lyriker schließlich zum Rauschgiftdealer.

      Da greift Benn auch theoretisch ein bisschen kurz.

      Man könnte radikal gegen Benn fragen: Warum noch schreiben? Weil - und jetzt kommt eben der utopische Überschuss - offenbar das Leben des Einzelnen immer noch größer und vielgestaltiger ist als die Megäre Gesellschaft. Das heißt, wenn einer wie Benn nach Feierabend die Tür der Arztpraxis schloss, konnte er aus der Schublade mit den Rezepten endlich das Notizbuch hervorziehen und anfangen, seine Gedichte zu schreiben. Nachdem der letzte Patient gegangen war, blieb nurmehr der Arzt zurück, der im Selbstversuch weitermachte. "Ärzte im Selbstversuch" hieß eins meiner Lieblingssachbücher damals im Osten. Da wurden die heroischen Experimente beschrieben, mit denen die Pioniere der Zunft an der Vermehrung des medizinischen Wissens arbeiteten, oft unter Aufgabe der eigenen Gesundheit. Sie spritzten sich irgendein neues Serum oder schnitten sich beherzt ins eigene Fleisch. Manche operierten tatsächlich bei vollem Bewusstsein an ihren Eingeweiden. Ein solcher Arzt im Selbstversuch war für mich immer der große Benn. Jeden Versuch, ihn lächerlich zu machen oder seine Leistung für die deutsche Poesie in Abrede zu stellen, muss ich entschieden zurückweisen. Benn war auf seine Weise genauso mutig und wegweisend wie einer dieser verrückten Selbstverstümmler, die mit ihren Versuchen der Menschheit dienten. Allein darum, weil er den Vers-Trieb, das Prozessieren gegen sich selbst nie unterdrückt hat, bleibt dieser Mann ein Vorbild für alle Zeiten. Alle seine Selbstauskünfte deuten darauf hin, dass er nicht restlos erklären konnte, warum dieser Trieb, in lyrischen Mustern und Formen sich auszudrücken, in ihm wachblieb. Benn ist trotz aller gegenteiligen Beteuerungen immer noch der Romantiker, der den Mund einfach nicht halten kann.

      Sie wollen darauf hinaus, dass bei den scheinbar unvereinbaren Gegenpositionen von Mandelstam und Benn der Ausgangsimpuls doch derselbe ist.

      Unter anderem deshalb, weil der Grundwiderspruch des Einzelnen zur Gesellschaft nie aufzuheben ist. Lyrik bleibt ein Brückenbau. Und da ist noch etwas, das sich nicht einfach auflösen läßt. Mandelstam hat es in seinem Essay über Dante zu formulieren versucht. Mit dem Dichter der Göttlichen Komödie verschieben sich ein für allemal die Koordinaten des Schreibprozesses. Bei ihm wird das dialogische Prinzip zur inhärenten Formel. Der Dichter selbst ist ganz Ohr für die vielen, widerstreitenden Stimmen, er lauscht den Verdammten und den Erlösten, und er lässt sich an die Hand nehmen von einem, der ihm vorausging, der größer und weiser ist als er selbst. Vergil zeigt ihm die Reiche der Welt. Die Göttlichen Komödie wird zur Inszenierung des Dialogs eines christlichen Dichters mit einem heidnischen Kollegen. Der Leser wird hier zum eingeschlossenen Dritten, indem er dem Dialog zweier großer Gestalten der Weltliteratur lauscht.

      Da fällt es schon extrem schwer, eine Gemeinsamkeit mit Benn herauszudestillieren!

      Einer wie Benn hätte ein großes Epos des 20. Jahrhunderts schreiben können, wäre er wie T.S. Eliot durch die jüngste Höllenlandschaft gegangen, wie dieser im Schlepptau Dantes. Das heißt, die Grundsituation des literarisch inszenierten Gesprächs hat sich überhaupt nicht verändert. Es wäre doch vorstellbar, dass Benn Dante zum Kronzeugen der christlichen Kultur genommen hätte (mit einer Verbeugung vor Nietzsche), im Gespräch mit ihm, beim Spaziergang durch die verwüstete Welt der Moderne versucht hätte, sein pessimistisches Weltbild zu entwickeln. Rein theoretisch, literaturtheoretisch wäre das möglich gewesen.

      Benn hat sich aber halt doch dazu entschieden, als Einzelkämpfer durch die Linien zu kommen.

      Das ist eine Frage der Ausdauer. Im zwanzigsten Jahrhundert wird selbst das apokalyptische Denken zusehends kurzatmiger. Wir befinden uns heute in einer seltsamen Synthesephase. Scheinbar lässt sich das alles, und zwar von jedem Dichter, immer nur in Bruchstücken darstellen, immer auf dem Sprung vor der nächsten Katastrophe. Mit einem Mal gerät die eine Zeile antik und beschwört einen neuen noch unbekannten Polytheismus, hinter dem sich der elan vital versteckt, und schon die nächste ist wieder einem einzelnen Gott verpflichtet oder gibt sich aufgeklärt und moralisch, während die dritte Zeile bereits einen radikalen Atheismus predigt. So geht es immer munter weiter, im Karussell herum.

      Und Mandelstam und Benn werden postmodern mitgeschleift.

      Ich hoffe doch, dass die Zukunft Mandelstam gehört und nicht Benn.

      Wie vage ist diese Hoffnung?

      Entwerfen wir doch mal ein imaginäres Epos der Zukunft. Da würde Benn spätestens im fünften oder sechsten Gesang in der Hölle der Monologisten schmoren. Beckett hat diese Position in der Figur des Belaqua, die wiederum Dante entlehnt ist, genau beschrieben. Dieser Belaqua ist ein Wesen, das in einer Felsnische hockt. Selbstzufrieden, genügsam im Mangel und abgeschlossen vom Rest der anderen dämmert er in der Hölle sehr philosophisch vor sich hin. Das wäre dann die Bennsche Position. Benn ließe sich in der Rolle des Belaqua porträtieren. Es wäre ein Scherenschnitt, wie ihn die Goethezeit liebte.

      Und wo würde man in dem imaginären Epos Mandelstam finden?

      Mandelstam ist immerfort unterwegs. Er hat recht bald die Hölle durchquert. Nun hängt er irgendwo auf dem Läuterungsberg fest und blickt hinaus oder voraus in die Welt des Paradieses. Denn das Paradies ist der Horizont aller Dialoge. Entgegen der landläufigen Meinung wird die Flaschenpost schließlich nicht aus dem Meer gefischt, sondern aus dem gemeinsamen Himmel.
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 13:10:25
      Beitrag Nr. 2 ()
      Also falls jemand was dazu sagen möchte, vielleicht noch soviel:
      Ich nehme m RL zunehmend Krisensymptome war: z.B. Verwahrlosung des sog. öffentlichen Raums, der Beziehungen der Menschen ganz allg. und einiges mehr.
      Mit Krise meine ich auch nicht, ob der Arbeitsmarkt anspringt, die Börse wieder hochgeht oder welche Partei am So gewinnt. Ich meine das allgemeiner, die Einstllung der Leute zu den Dingen.

      Interessant fand ich z.B. das Bild mit der Flaschenpost. Ob jemand komplitierte Gedichte schreibt, die sich an einen unbekannten Leser richten oder an die Nachwelt, oder ob man Postings verfasst, ist eine ähnliche Situation. Wichtig ist die Motivation dahinter.
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 13:23:19
      Beitrag Nr. 3 ()
      grade beim Spiegel gefunden, vielleicht passt das auch hier mit rein:


      INTERVIEW MIT DORIS DÖRRIE

      "Ich wollte von diesem seltsamen Verstummen erzählen"

      Doris Dörrie gehört zu den erfolgreichsten deutschen Filmemachern, auch wenn ihr neuer Film "Nackt" bei den Festspielen in Venedig keinen Preis gewonnen hat. Erfolgreich ist Dörrie auch als Autorin: Im August erschien ihr neuer Roman "Das blaue Kleid". Mit SPIEGEL ONLINE sprach Dörrie über geistige Nacktheit, die Magie der Oper und die Fähigkeit zu trauern.



      Hat keine Angst, ans Eingemachte zu gehen: Doris Dörrie


      SPIEGEL ONLINE: "Nackt" ist aus einem Drama hervorgegangen und zeichnet sich durch viele Dialoge aus. Das ist ja im Film nicht unbedingt üblich in Deutschland. In Amerika wird gequatscht, dass sich die Balken biegen. Auch im französischen Film ist das sehr stark. Nur bei uns nicht. Wir trauen uns nicht, viele Dialoge zu bringen. Warum?

      Doris Dörrie: Zum einen, weil nicht so viele Leute Dialoge schreiben können. Ich unterrichte dies auch, weil ich merke, dass diese Fähigkeit den Drehbuchschreibern fehlt. Und zum anderen haben wir Deutschen Angst, ans Eingemachte zu gehen. Das stört mich, und es war ein Grund, warum ich diesen Film unbedingt machen wollte. Bei uns setzt man sich nicht mehr wirklich mit den Dingen auseinander. Das wollte ich in meinem Film beschreiben und dabei ausprobieren, wie weit ich damit gehen kann.

      SPIEGEL ONLINE: Die drei jungen Paare in "Nackt" finden zunächst kein Thema, über das sie sich unterhalten können. Ist das symptomatisch für die Gesellschaft?

      Doris Dörrie: Ja, ich wollte von diesem seltsamen Verstummen erzählen.

      SPIEGEL ONLINE: Gibt es eine Kluft zwischen Worten und Handeln, gerade wenn man von so existenziellen Dingen wie Liebe und Glück spricht?

      Doris Dörrie: Wir kommen immer nur annähernd an den Punkt, an dem wir sagen können: Jetzt habe ich wirklich ausgedrückt, was ich meine. Das ist eine Achterbahnfahrt. Erst als die Paare sich in dem Film ausziehen und damit völlig entblößen, kommen sie den existenziellen Dingen näher und müssen Farbe bekennen.

      SPIEGEL ONLINE: In Ihren Filmen und Geschichten spielen Rituale eine wichtige Rolle. Sind Sie in Ihrem Leben auch an strengen Abläufen orientiert?



      Doris Dörrie: Ich habe wenig Gelegenheit für Rituale, auch weil ich ein so kompliziertes Leben lebe. Die einzigen Rituale, mit denen ich sehr streng und genau umgehe, sind die in meiner Familie. Klare Zeiten fürs Essen und ins Bett gehen, Frühstück vor der Schule und Festlegung der Stunden, die man gemeinsam verbringt.

      SPIEGEL ONLINE: Ihr Film spielt mit Verhüllung und Nacktheit. Doch es geht ja nicht nur um körperliche Nacktheit, auch wenn die Schauspieler sich ausziehen müssen.

      Doris Dörrie: Wir leben in einer seltsamen Zeit. Ständig müssen wir uns selbst darstellen, weil wir so sehr durch Medien gespiegelt und kontrolliert werden. Und unser Spiegelbild sehen wir auch überall. Gleichzeitig haben wir den exhibitionistischen Drang, uns zu enthüllen. In dem Film geht es darum zu fragen, wann wir wirklich nackt sind.

      SPIEGEL ONLINE: Die Paare in dem Film gehen eine Wette ein. Was für eine Funktion hat das Spielen für Sie?

      Doris Dörrie: Das ist meine Philosophie: der Homo ludens. Ich glaube, dass wir nur im Spiel diesen Idealzustand von Weltentrücktheit und Selbstvergessenheit erreichen können, nach dem wir uns ständig sehnen. Das sind für uns die beiden Zustände, die Glück bedeuten.

      SPIEGEL ONLINE: Ist es das, was Sie auch an der Oper interessiert? Sie bereiten ja gerade "Turandot" für die Berliner Staatsoper vor.


      Doris Dörrie: Ja, denn die Oper hat, wenn sie funktioniert, diesen Moment der Selbstvergessenheit. Es gibt eine unglaubliche Magie in der Oper. Musik hat den direktesten Zugang zu unserem Körper.

      SPIEGEL ONLINE: Erreichen Sie diesen Zustand des Weltentrückseins auch in Ihrer Arbeit?

      Doris Dörrie: Total. Das ist immer das Ziel, und jetzt habe ich auch genug Erfahrung, um die Bedingungen so herstellen zu können, dass dieses Ziel für alle Schauspieler erreicht wird. Und dann wird man mutig und frei.

      SPIEGEL ONLINE: Was unterscheidet für Sie Schreiben und Filmemachen?

      Doris Dörrie: Beim Schreiben kann man sehr viel schneller reisen. Filme zu machen ist schwerfälliger, weil eine ganze Maschinerie dahintersteckt. In der Sprache kann man mit einem Satz bis zum Mond reisen. Das kann man im Film nur sehr bedingt. Dafür brauchen Sie mehr Zeit.

      SPIEGEL ONLINE: In Ihrem neuen Buch "Das blaue Kleid" geht es um zwei Menschen, die ihren Lebenspartner verloren haben. Jetzt versuchen sie krampfhaft, Formen der Trauer zu entwickeln, um damit umzugehen.


      Roman "Das blaue Kleid": Anti-Ratgeber für Trauerarbeit


      Doris Dörrie: Meine Generation - und die vor mir sogar noch mehr - hat lange versucht, Rituale und Traditionen zu sprengen und alles aufzugeben, was uns eingeengt hat. Jetzt stellen wir langsam fest, dass es in vielen Bereichen schwierig ist, ganz ohne Formen zurechtzukommen. Wir haben die Rituale der Trauer völlig vergessen und wissen gar nicht mehr, wie Trauern funktioniert. Natürlich gibt es in jeder Kultur weise Vorstellungen, wie man mit dem Tod umgehen sollte. Das haben wir verdrängt und vergessen. Jetzt müssen wir neue Formen erfinden.

      SPIEGEL ONLINE: Ihr Buch lädt ein, einen eigenen Weg im Umgang mit Trauer zu finden. Es ist fast ein "Anti-Ratgeber" für Trauerarbeit.

      Doris Dörrie: Trauerarbeit ist ein schreckliches Wort. Das klingt so, als wäre es irgendwann erledigt, als könnte man es abwickeln. Jeder muss mit Trauer so umgehen, wie er kann. Auf der anderen Seite gibt es natürlich klare Dinge, die jeder braucht, der trauert. Anteilnahme von anderen zum Beispiel, die früher auch ritualisiert war.

      SPIEGEL ONLINE: Hilft Ihnen Schreiben, mit dem Tod Ihres Mannes fertig zu werden?

      Doris Dörrie: Ich will ja gar nicht damit fertig werden.

      SPIEGEL ONLINE: Sie wollen nicht damit fertig werden?



      Doris Dörrie: Es geht doch darum, Trauer nicht ad acta zu legen, sondern im Bewusstsein zu leben, dass alles vergänglich ist und nichts so bleiben kann, wie es ist.

      SPIEGEL ONLINE: Ist das nicht sehr belastend?

      Doris Dörrie: Das ist ja gerade der Punkt. Wie kommt es, dass Leute in Ländern, in denen der Tod im Alltag nicht komplett abwesend ist, sehr viel heiterer sind? Das kommt daher, dass diese Leute das Bewusstsein der Vergänglichkeit dazu ermuntert, das zu genießen, was sie haben. Und nicht zu fragen, was mir fehlt, sondern sich darüber zu freuen, was da ist. Das ist ein vollkommen anderer Blick.

      SPIEGEL ONLINE: Gilt das auch für die Liebe?

      Doris Dörrie: Das gilt für alles. Wir zahlen einen Preis dafür, dass wir unbedroht von existenziellen Krisen leben.

      SPIEGEL ONLINE: Was für einen Preis?

      Doris Dörrie: Der Preis ist Traurigkeit. Weil wir nicht wissen, was wir haben, fragen wir immer nur, was uns fehlt. Und es fällt uns schwer, diesen Blick zu verändern.

      SPIEGEL ONLINE: Ihre Bücher sind - auch wenn Sie über Verlust und Tod schreiben - sehr komisch. Warum ist Ihnen das so wichtig?

      Doris Dörrie: Humor ist immer wie das Fenster aufmachen, wie Luft hineinzulassen. Ich finde, es ist alles nur mit Humor erträglich. Humor und Selbstironie sind absolut notwendig, um zu überleben.

      SPIEGEL ONLINE: Was macht für Sie den Wert eines Filmes oder Buches aus?

      Doris Dörrie: Letzten Endes ist es die unverhoffte Reaktion eines Zuschauers oder Lesers, also wenn ich bei jemanden etwas angestoßen habe. Das ist das Schönste. Das ist oft unabhängig von den Zahlen. Ob es eine Million Zuschauer waren oder weniger, spüre ich ja nicht.
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 13:27:54
      Beitrag Nr. 4 ()
      Ich bin für mehr Text für Heizer.
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 13:29:16
      Beitrag Nr. 5 ()
      @Boiler

      Du könntest Dich ruhig mal ein wenig ausführlicher äussern;)
      Ich hasse übersichtliche Texte:D:D:D

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      Avatar
      schrieb am 20.09.02 13:29:34
      Beitrag Nr. 6 ()
      @Gemüsesaft

      ja sag doch mal was dazu.:D
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 13:31:45
      Beitrag Nr. 7 ()
      dachsi, das ist ja vielleicht auch ein ausführliches Thema. Wenn du mehr Zeit hast, lies es Dir in Ruhe noch mal durch. Das läßt sich bestimmt auch nicht so hopplahopp diskutieren.

      Gruß
      H.
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 13:33:58
      Beitrag Nr. 8 ()
      Mach ich Schatzi:kiss:

      Nicht böse sein;):D
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 13:35:23
      Beitrag Nr. 9 ()
      heizi, klasse idee, dieses thema anzusprechen! ich werde mir bei gelegenheit alles durchlesen und würde das auch allen schlagzeilenverwöhnten schnellkonsumenten empfehlen. ;)

      und vielleicht fällt mir dann auch was sinnvolles dazu ein. :D
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 14:01:04
      Beitrag Nr. 10 ()
      Vielleicht ist das grob zusammengefasst ein Problem des "Überblicks". Damit meine ich jetzt nicht die Länge Deiner Postings :D.

      Ich merke, dass die Leute immer mehr den Überblick verlieren - über Details im Leben und als größere Einheit. Deshalb reden die meisten auch nur noch von sich und ihren direkten Befindlichkeiten, weil das noch einigermaßen überschaubar ist. Es gibt also praktisch kein Interesse mehr an Sachthemen (beispielsweise Politik, Geschichte etc.). Und auch kaum noch ernster zunehmendes Interesse der Leute untereinander (zumindest eher selten).

      Der mangelnde Überblick betrifft zum einen ethische Dinge (was ist richtig, was falsch - oder besser gesagt: Was defininere ich überhaupt so und warum). Aber auch praktische Dinge: Unfähigkeit, Ziele zu definieren, einen Plan zu ihrer Umsetzung zu machen und durchzustarten, worauf eine neuer "Mangel an Überblick" entsteht, etwa bürokratischer Art oder sich störender Interessen anderer in größerem Ausmaß.

      Die Verwahrlosung des öffentlichen Raumes beispielweise ist eine direkte Folge davon. Keiner sagt was, jeder leidet darunter, aber er müsste sich über seinen Tellerrand hinausbewegen, doch das Terrain wird sofort unübersichtlich. Es wird - klar! - als erstes die Zuständigkeitsfrage gestellt. Und - klar! - besser scheint es dann, wenn jemand anders die Dinge regelt, denn nachher ist der Boden irgendwie weich. Und so geht man heutzutage besser eben nicht vor die Tür. Drinnen ist es halt noch übersichtlich :)

      TS
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 14:11:32
      Beitrag Nr. 11 ()
      tiramisusi

      danke für deinen Beitrag.:)

      so ähnlich sehe ich das auch. Man trifft auf immer mehr Leute, die sich in sich selbst verbarrikadieren, und mit der Außenwelt nicht mehr im Austausch sind. Sätze wie "die da oben machen doch eh, was sie wollen" oder so ähnlich, kann man überall hören.
      So wird alles auf irgendjemand deligiert. An den Staat, die Gesellschaft, die Politik an WO:D

      Immer weniger Menschen begreifen sich als ein Teil des Ganzen, oder haben, wie man so sagt "Gemeinsinn"

      oft lese ich hier "das board ist ein spiegel der gesellschaft"

      wenn es so ist, dann ist das nicht verwunderlich, daß hier viele Leute sich für das, was sie selbst hier fabrizieren, oder ob es der Atmosphäre insgesamt schadet, nicht mehr Gedanken machen.


      Gruß
      H.
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 14:41:21
      Beitrag Nr. 12 ()
      Hallo H.,

      das mit der "Atmosphäre schaden" ist natürlich immer so eine Sache... . Ich halte es unter bestimmten Voraussetzungen sogar für "legitim" (wenn man das Wort mal in diesem Zusammenhang überhaupt verwenden kann). Es hängt halt davon ab, was man letztlich damit bezweckt. Oder ob man einfach nur "mal so" dazwischenbrezelt, weil einem z. B. "gerade danach ist".

      Aber zu dem Verbarrikadieren: Das ist natürlich ein Teufelskreis: Diejenigen, die praktische keine Interessen außer ihren ureigensten Befindlichkeiten haben, verbarrikadieren sich, weil sie frustriert sind, dass keiner das mehr hören will (entweder, weil die in Frage kommenden Personen gerne über Sachthemen sprechen wollen oder aber auch Personen sind, die ihrerseits wiederum ständig über SICH und ihre Welt quasseln wollen). Und die, die sich noch für andere Themen interessieren, verbarrikadieren sich, weil ihnen das ewig in Kreis drehende Geseihere ebenso auf die Nerven geht.

      Stattdessen verlagert sich die Kommunikation dann beispielsweise auf WO, weil dann jederzeit elegant aus der Kommunkation ausgestiegen werden kann.(Das ist jetzt übrigens eine durchaus selbstkritische Bemerkung :)). Und die Verantwortung relativ leicht zu tragen ist. Man kommt ja dann auch nicht in so Verlegenheiten wie: Sage ich einem Gör auf der Straße, dass es die Oma nicht hauen soll und riskiere damit einen Konflikt mit einem selbsternannten Brutkasten-Terminator, der sein Kind für Privateigentum hält? Oder was tue ich, wenn sich zwei auf dem Parkplatz die Köpfe einhauen?

      Die hauen sich natürlich auch ohne mich die Köpfe ein. Mmh. Muss mal eben aus dem Fenster sehen und gucken, was da los ist :D

      Grüße
      TS
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 14:54:43
      Beitrag Nr. 13 ()
      kessel:eek: das ist ja ne komplette WE-lektüre

      mit antwort ist nicht vor samstagnacht zu rechnen;)
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 14:59:34
      Beitrag Nr. 14 ()
      TS und ist was passiert draußen? :laugh:

      Klar muß man manchmal auch dazwischen donnern. Was ich meinte, ist z.B:, daß ich keinen großen Unterschied sehe, ob jemand in den Vorgarten oder in den Hausflur schifft. Oder ob man im Bus nicht mehr aus dem Fenster sehen kann, weil jemand die Scheiben zerkratzt, oder ob jemand hier absichtlich Threads spammt oder sich endlose Fehden liefert.

      Es sind persönliche Kriegserklärungen an den Rest der Welt. Und mittlerweile habe ich den Eindruck, daß das ansteckend wirkt und sich fortschreibt wie ein Bazillus.
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 15:04:28
      Beitrag Nr. 15 ()
      Max, macht ja nichts, laß Dir ruhig Zeit. Ich finde das Thema sollte man ruhig allgemeiner diskutieren, als immer nur "wer hat wann welches Posting verfasst" oder "wie doof hat der und der darauf geantwortet"

      Schönes Wochenende

      Gruß
      H.
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 17:16:53
      Beitrag Nr. 16 ()
      Alles ruhig hier. Ich bin hier die Tante Prusseliese vom Kiez, hänge die ganze Zeit mit dem Kissen am Fenster und brüll ab und zu mal gegen Windmühlen an, etwa: "Is` jetz mal bald Feiaaaamd mit dem Jejaule da!" 10 Sekunden später: "Habt` ia wat mitn Oan, oda watt?"

      Aber im Ernst: Das mit dem Bazillus ist ein interessanter Gedanke, über den man endlos debattieren könnte. Und auch das ist eine Frage des Überblicks - oder einer fehlenden inneren Stoptaste mancher User oder Personen im RL.

      Ich weiß nicht, ob Du ab und zu dazwischenbrezelst. Könnte mir vorstellen, ja. Dann hast Du ja garantiert gemerkt, wie unterschiedlich die Reaktionen sind: Tut man nichts, ist man nur genervt. Gibt man Contra, hängt es von der eigenen Tagesform ab: Entweder man kriegt selbst dann das Schlimmste ab oder man ist in Domina-Tagesform und - schwupps! - die Nervensägen ohne innere Stop-Taste sind plötzlich lammfromm. Es gibt halt Leute, die ihre Lebensenergie aus dieser Form von Konflikten beziehen, die haben keinen anderen Input. Man kann selbst entscheiden, ob man ihnen diesen Input geben will - und die Gefahr von eigenen Substanzverlusten eingeht. Oder ob man ihnen "Energie" gibt in der Form, dass man ihnen die Entscheidung, wie weit sie gehen, ohne dass sie es merken, aus der Hand nimmt. Und ihnen gleichzeitig einen Überblick an die Hand gibt, eine Art Rahmen, der ganz trivial reduziert in etwa lautet: "Bis hierhin und nicht weiter". (Ganz ohne "Bitte, bitte" ). Ist aber letztlich auch Energieverschleiß, der von Sachthemen ablenkt.

      Netter Vergleich übrigens mit dem Hausflur. Hat was und habe ich sofort verstanden :D

      Grüße
      TS
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 19:43:12
      Beitrag Nr. 17 ()
      TS mittlerweile finde ich, daß dazwischenbrezeln gar nicht mehr viel bringt. Das Board ist eine Art Resonanzboden, und mir fällt auf, daß sich die "Schwingungen" irgendwie verselbstständigen. Da helfen auch kaum Deppenschilder, obwohl jetzt etwas mehr Ruhe einkekehrt ist.
      Aber von einigen weiß ich, daß die Lust am Board droht verlorenzugehen. Mir sind die Streitereien auch ziemlich auf´s Gemüt geschlagen, und denke auch ans Aufhören.
      Wie kann man sich auch ständig etwas aussetzen, wo vor allem der negative Input vorherrscht?
      Man steht der Entwicklung etwas hilflos und gelähmt gegenüber, deshalb wollte ich das ganze etwas allgemeiner bereden. Woher kommt diese Negativität?
      Wie kann man sozusagen "Dämme" gegen die Destruktivität einziehen?
      Warum schreiben hier so viele "Nierensteine", die man sich in der Vitrine anschauen kann?
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 20:15:58
      Beitrag Nr. 18 ()
      Ein einigermaßen probates Mittel ist natürlich (so dachte ich jedenfalls lange Zeit), die Dinge ironisch durch den Kakao zu ziehen. Das Problem ist dabei: Macht man es subtil, verstehen es gerade die, auf die es gemünzt ist, gerade nicht. Aber prinzipiell kann man Dinge auf diese Art natürlich von der destruktiven zumindest auf die humorvolle oder im weitesten Sinne phantasievolle Schiene umlenken, was ja immerhin dann schon mal ein guter Boden ist. Zugegeben - es klappt nur bei denen, bei denen ohnehin noch anderer Input da ist.

      Inzwischen glaube ich allerdings, dass man sich mit Ironie zwar prima selbst amüsieren kann. Aber mehr isses dann auch nicht. Der Nierenstein bleibt letztlich in der Vitrine. :)

      Bin mal gespannt, ob übers Wochenende noch Beiträge anderer Leser kommen. Oder ob das hier ein klassisches Verdrängungsthema ist. Cocooning halt...

      TS
      Avatar
      schrieb am 20.09.02 23:33:52
      Beitrag Nr. 19 ()
      Lieber Boiler:kiss:,

      habe mir Deinen Beitrag zu Herzen genommen und alles durchgelesen;)
      Dem Beitrag #18 habe ich nichts hinzuzufügen. Er hat m.E. den Nagel auf den Kopf getroffen.

      Gruß dachs30
      Avatar
      schrieb am 21.09.02 18:55:08
      Beitrag Nr. 20 ()
      up,

      ist mir zwar zu lang oder ich zu dumm, aber scheint gut zu sein, deshalb!
      Avatar
      schrieb am 21.09.02 18:59:47
      Beitrag Nr. 21 ()
      Mein Urteil zu diesem Thread: Lesenswert, hohes Niveau. Danke!
      Avatar
      schrieb am 21.09.02 20:24:09
      Beitrag Nr. 22 ()
      Noch was als Nachtrag:

      Neulich habe ich einen Artikel gelesen (leider weiß ich nicht mehr wo. Wenn einer den kennt: bitte Bescheid sagen. Interessiert mich wirklich), der das eigentliche Thema vielleicht ganz gut anreißt. Es ging ursprünglich um eine Form von Kommunikationsillusion, besonders im Zusammenhang mit Mobiltelefonen. Also kurz und plakativ zusammengefasst: Leute, die sich x-mal am Tag antelefonieren, SMSen etc., aber inzwischen eine Form der Kommunikation praktizieren, die man getrost als Nullkommunikation bezeichnen könnte. Man hat den Eindruck oder die Illusion eines persönlichen Netzes, aber es ist nichts da, bestenfalls eine Art sozialer/beziehungstechnischer Kontrolle, mehr nicht.

      Jeder, der sich genötigt sieht, gelegentlich öffentliche Verkehrsmittel (bes. U-Bahn) zu benutzen, wird immer wieder Zeuge der immer wieder gleichen Gespräche, die in etwa so verlaufen: "Hallo!... Ach DU bists.... Ja ich bin hier gleich am U-Bahnhof Dingenskirchen.... Nee, ich bin in 2 (wahlweise 6, 8, 10, nie länger) Minuten da.... Is` gut... Bis gleich...Tschauiiiiiiii!"(Oder ähnlich).

      Also zusammengefasst: Es geht um die Illusion, dass man NICHT-Autist wäre (zugegebenerweise ist der Begriff "Autist" hier etwas heikel). Es ist alles beliebig. Das WO ist wie in eine Kneipe gehen. Man geht hin oder auch nicht. Man trifft die gleichen Leute oder auch nicht. Man quasselt oder auch nicht. Man kreiert Persönlichkeiten, die sich irgendwann in ihre nanotechnologischen Bestandteile auflösen, wenn man das möchte oder ihrer überdrüssig ist. Egal! Oder man kreiert Persönlichkeiten, die anderen eigens erschaffenen Persönlichkeiten zur Seite stehen, wenn es brenzlig wird. Tiramisusi, die Wasserstoffblondine, die sich die Fingernägel feilt - ein Fake. Sie wird sich irgendwann von der Klippe stürzen. Wie die meisten anderen auch. Es ist einfach PRAKTISCHER so.

      Am eigenen Beispiel mal kurz den Autismus vorexerziert.

      So, und jetzt lackiere ich mir noch schnell meine Fußnägel rosa, und los geht`s auf die Piste! ;) (So isssi halt, die Susi. Immer mit sich im Lot).

      TS
      Avatar
      schrieb am 21.09.02 21:27:49
      Beitrag Nr. 23 ()
      #18 #22 sehr gut!

      je länger und intensiver man sich im übrigen in der w-o-kneipe aufhält (und nicht nur dort), desto größer wird die sprachlosigkeit, der "autismus" (sicher kein glücklicher begriff), die beziehungsbeliebigkeit.

      man konsumiert und verliert dabei sukzessiv die fähigkeit zur reflexion, zur diskussion, zur problemlösung und zur unvoreingenommenen selbst- und fremdwahrnehmung.

      das internet ist das manipulationsmedium der zukunft und wird das fernsehen ablösen, weil es subtiler und personalisierter ist.

      sms sind kommunikationsprothesen, weil man das sprechen verlernt hat.
      Avatar
      schrieb am 21.09.02 21:31:38
      Beitrag Nr. 24 ()
      "bei aller begeisterung für die sms sollte man aber auch nicht vergessen, mal wieder miteinander zu reden. ...bah, muss aber auch nicht sein."

      kam gerade als witziger beitrag in der sms-show auf rtl, trifft es wohl ganz gut.
      Avatar
      schrieb am 21.09.02 21:39:00
      Beitrag Nr. 25 ()
      interessant...aber schwierig.

      Nur mal so als erster Gedanke: wenn man zynisch werden muss, um "überleben" zu können, dann überleben eben auch nur die Zyniker...
      Avatar
      schrieb am 25.09.02 14:25:12
      Beitrag Nr. 26 ()
      Hab` den Text leider nicht wiedergefunden. Dafür etwas anderes:

      http://www.brock.uni-wuppertal.de/Projekte/Kittelmann/theori…

      Es geht um Mobilfunk und Technikfolgen, wobei man Mobilfunk über weite Strecken getrost durch "Internet" ersetzen kann. Die Frage, ob die Verbarrikadierung eine Folge ist vom Internet oder die Voraussetzung, wird hier allerdings auch nicht beantwortet.

      Dafür gibt es ein paar interessante Gedanken dazu, wie es kommt, dass die Vernetzung zusätzliche Zeit, gesellschaftliche Kontakte und Freiheiten suggeriert, aber diese genau nimmt bzw. verkompliziert.

      Interessant sind auch die Thesen von MettlerMeibom, die der Ansicht ist, dass "Telekommunikative Erreichbarkeit auf psychosozialer Ebene ein zentrales Hilfsmittel (sei), um in einer sich sozial zentrifugal entwickelnden Gesellschaft Sicherheit und Rückhalt zu suchen (Stichwort: Überblick). Erreichbarkeit mindere auch die Wagnis- und Risikobereitschaft".


      Manchmal hat Meibom zwar eine leicht eso-Schlagseite, und auch die These, dass Frauen Mobilfunk weniger aus "Machtgründen" benutzen als Männer, kann man wohl so nicht zustimmen (nicht umsonst staffieren zahlreiche Mütter ihre Sprösslinge mit Handys aus, damit sie sie bis ins letzte unter Kontrolle).

      Aber ansonsten: Nicht schlecht.

      TS


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