checkAd

    Schicht in der Unterschicht! oder: Wem nützt die hochgekochte Debatte um die -neue soziale Frage-? - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 17.10.06 22:01:08 von
    neuester Beitrag 19.10.06 00:14:41 von
    Beiträge: 11
    ID: 1.088.351
    Aufrufe heute: 0
    Gesamt: 2.130
    Aktive User: 0


     Durchsuchen

    Begriffe und/oder Benutzer

     

    Top-Postings

     Ja Nein
      Avatar
      schrieb am 17.10.06 22:01:08
      Beitrag Nr. 1 ()
      "Früher war sowieso alles besser". Zu dieser Weißheit Schluß kommt fast jeder, der einige Jahrzehnte Lebenserfahrung auf den Puckel hat. Gut, es gab natürich zu jeder Zeit junge Spunte und Querulanten, die diese Erkenntnis neutorisch in Zweifel gezogen haben, aber dass soll jetzt nicht das Thema sein.

      Also, früher, als es "noch besser war", da lag alles klar auf der Hand: Der kapitalistische "Ausbeuter" brauchte den "Ausgebeuteten", weil er ohne ihn keine Profitmaximierung erzielen konnte, un der "Ausgebeutete" braucht wiederum den Ausbeuter, weil er ohne ihn sonst verhungern müsste. Alle waren glücklich, weil jeder seine Stellung und seinen festen Platz in der Gesellschaft hatte und weil jeder zum Nutzen des anderen da war und dementsprechend jedermann das Gefühl hatte, gebraucht zu werden und wichtig zu sein.

      So war es, wie gesagt, "früher". Heutezutage aber haben sich die gesellschaftlichen Regeln verändert. Für viele zum Positiven aber auch für so Manchen zum Negativen. Angesprochen sind hier vorallem und insbesondere diejenigen, die man damals noch mit dem Begriff: "Ausgebeutete" umworben. Heute nennt man diesen Personenkreis zwar weniger reflektiv rückanklagend, aber nichts destotrotz ebenso lautmalerisch-euphemistisch: "bildungsferne Schicht(en)", ".....-benachteiligte", "Menschen mit sozialen und Integrationsproblemen", auch "abgehängtes Prekariat" oder neuerdings sogar auch ganz hart und wirklichkeitsnah: "Unterschicht"

      Nur, diese Menschen, die zu dieser Millieu gehören, hatte es schon zu allen Zeiten gegeben; -Zu Aufreger werden sie nun aber nichtetwa, weil man in der Mittel- und Oberschicht, oder auch in den Reihen von Politik und Wirtschaft neuerlich sein mitleidiges Herz für sie entdeckt hätte, und man sie nun, wie Madonna derweil, als herzigsüßes "Neger"-Baby adoptieren und ihnen fortan all ihre Zuneigung schenken will. Nein, zum Erreger wird die benannte Unterschicht deshalb, weil sie den Bundesbürgern, die nicht zu dieser Klasse gehören, nicht immer, aber immer öfter so lästig werden, wie ein mitgeschleppter Konzertflügel bei einem Himalaya-Aufstieg.

      Auf gut Deutsch: Die Unterschichtler sind in unserer Gesellschaft überflüssig und gefährden den Wohlstand der Mittel- und Oberschicht. Sie kosten erhebliche Sozialtransfergelder, bringen aber selber keine Arbeitsleistungen und Steuerzahlungen in die Gemeinschaft ein. Sie sind ein Kosten- und Verlustfaktor, den die (noch saturierte)deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht mehr länger tragen will. Sie werden damit zum volkswirtschaftlichen Ballast der Nation, dessen man sich nun mit der aktuell angezettelten Diskussion elegant entledigen will. Ist erstmal dieser "präkere" Personenkreis in aller Munde kann man dann wagen, was man sich zuvor politisch nicht traute: Nämlich difizilen Druck auf diesen Personenkreis ausüben!

      Das Problem besteht für die maßgeblichen Verantwortlichen in unserer Gesellschaft darin, das man seine geistig, kulturell und monetär armen Landsleute nicht einfach in die Mitte nehmen und mit höflichen, aber bestimmten Nachdruck vor die Pforten und Tore der Städte geleiten kann. Was in einer einer Shopping-Mall, dank des im BGB gesetzlich verbrieften Hausrechtes, immerhin noch problemlos durchzuführen ist, geht auf Staatsebene dummerweise nicht mehr. Man kann nicht unter sich bleiben, auch wenn vielleicht so mancher bei uns gerne in so einem aparten Land leben wöllte.

      Und zu welchen Instrumentarien greift die Politik erwiesenermaßen zu allermeist, wenn sie nicht mehr weiter weiß? Genau! Sie gründet einen Bildungskreis, oh parodon, natürlich eine Bildungsoffensive.
      Diese soll dann dazu verhelfen, dass die ominöse Unterschicht ein für allemal aus der Welt geschaffen und die prekäre Lage für die Regierungsparteien vor den nächsten anstehenden Wahlen wieder sicherer wird, indem man diese Leute mit ein bisschen Drumherum einfach, zippzapp, zu braven Mittelschichtlern umschult.

      Darauf soll die Debatte nämlich letztendlich hinwirken: Zur Entschuld(ig)ung von Politikern und sonstigen Verantwortlichen!

      Das Ziel des Anstoßes ist es einen neuen Grundsatz zu postulieren, der da heißt: "Wir Machthaber können nicht mehr viel für euch bewegen, als müsst ihr Unterschichtler das nun für euch selber in die Hand nehmen!"

      Die Politik kapituliert nun vollendens, weil es ihr als fast unmöglich erscheint für niedrig qualifitzierte ArbeitsnehmerInnen Jobs herbeizuschaffen. Also lautet nun die neue Strategie: Mache aus garnicht oder nur niedrigqualifizierten Beschäftigte, gut- bzw. hochqualifizierte Beschäftigte, für die es, bis dato, in den hochindustrialisierten westlichen Ländern noch ausreichend Arbeit gibt.

      Im Prinzip ist diese Idee sogar sehr gut, wenn sie nicht einen kreuzschiffahrtsankergroßen Hagen hätte: Um ein "richtiger Mittelschichtler zu werden, bedarf es nämlich einer gewissen kulturellen Mentalität, die sich aus der Persönlichkeit und dem Charakter einerseits und anderseits aus einem bestimmten soziologischen Umfeld speist. Zudem bedarf es für höher qualifizierte Berufe auch gewisser intelektueller und sozialkommunikativer Befähigungen und Talente, die halt nicht jeder hat. Schön wär's, wenn man aus jedem Hilfarbeiter einen Quantenphysiker machen könnte. Leider klappt das, erfahrungsgemäß, nun mal nicht mit Jedem. Wie gesagt, leider...........Und das wissen auch die meisten Politiker, die jetzt so eloquent bei dem Thema das Wort führen. Also hat diese ganze frisch ins Leben gerufene Kampange nur den Sinn und Zweck, Verantwortung von sich abzuwälzen und den Unterschichtlern den "schwarzen Peter" klammheimlich zwischen seinen Karten zu schieben, indem man dann nach allen politsch initiierten "Bildungsoffensiven" den übriggebliebenen ungebildeten, weil bildungsunbefähigten Rest so die Schuld für sein angeblich "eigens" Versagen in aller Öffentlichkeit auf's Auge drücken kann.


      Das Fazit: Also, wem nützt nun diese hochgekochte Debatte um die "neue soziale Frage"?

      Allen Anschein wohl den rat- und hoffnungslosen Großkopferten, die sich ob der Lage in Deutschland, anders als mit diesen Mitteln nicht mehr zu helfen wissen, um ihre Macht und ihren Arbeitsplatz zu behalten und um ihr Ansehen und ihr Gesicht zu wahren.

      (c)Harry_Schotter
      Avatar
      schrieb am 17.10.06 22:38:04
      Beitrag Nr. 2 ()
      Zu dem Thema noch was zusätzliches.......

      --------

      UNTERSCHICHTENDEBATTE

      Die neue soziale Frage

      Von Gabor Steingart

      Früher gab es nicht weniger Minderbemittelte als heute - doch damals wurden sie am Werkstor mit Handschlag begrüßt. Der Aufstieg Asiens hat in Deutschland zu Arbeitslosigkeit und einer neuen sozialen Verwahrlosung geführt. Dabei ist die Politik nicht so hilflos, wie sie sich fühlt.

      Es gibt derzeit in Deutschland zwei Parteien. Die eine heißt "Nicht mit mir" und stemmt sich gegen Veränderungen aller Art. Ihre Mitglieder kommen aus den Reihen von Linkspartei, Union, SPD und Grünen. Das wichtigste Erkennungsmerkmal ihrer Mitglieder sind die trotzig über dem Bauch verschränkten Hände. Oskar Lafontaine ist ihr unumstrittener Spitzenmann, ein Neinsager aus Passion.

      Die andere Formation hat sich unter dem Banner "Lauft schneller, Leute" versammelt. Ihr gehören die FDP und die verbliebenen Truppenteile der anderen Parteien an. Das einzig Bemerkenswerte dieser Allparteien-Partei ist ihre ausdauernde Erfolglosigkeit. Wer sich als Antreiber vors Publikum stellt, wird abgestraft. Als Gerhard Schröder seine Agenda 2010 verlas, begann tags darauf sein politischer Abstieg.

      Kaum hatte Angela Merkel sich als gestrenge Reformerin empfohlen, setzte das große Frösteln ein. Beide erfuhren einen Machtverlust, wobei die Strafe für Merkel härter ausfiel als für Schröder: Sie muss den Machtverlust im Amte erleiden, derweil der Memoirenschreiber sich auf dem heimischen Sofa räkelt.

      Formal betrachtet, hat sie die Bundestagswahlen zwar für sich entschieden, doch in Wahrheit ist sie die Chefin einer Minderheitenregierung. Selbst innerhalb ihrer Koalition, die sich zu Unrecht die große nennt, sind die Anhänger der "Nicht mit mir"-Bewegung in der Überzahl. Auch deshalb fristet die Reformerin Merkel ein so kümmerliches Dasein. Ihr Leitmotiv "Mehr Freiheit wagen" versteht eine Mehrheit im Lande als die Drohung, weniger Sicherheit zu bekommen. Ihre Aufforderung, die Deutschen sollten unerschrocken "ins Offene gehen", empfinden nicht wenige als besonders perfiden Ratschlag, da sie den geschlossenen Raum als ihr Biotop begreifen. So schieben sich die Hände vor dem Bauch weiter ineinander.

      Der wichtigste Rohstoff des einundzwanzigsten Jahrhunderts, sagen die Politiker, sei die Bildung. Welch ein Irrtum: Die wichtigste, da knappste Ressource unserer Tage ist die Willenskraft. Ausgerechnet in jenem Land, das nach verlorenem Weltkrieg mit einem ökonomischen Wunder überraschte, kam es zu einer Entladung der mentalen Antriebskräfte. Seit Jahren wird auf Halten gespielt, nicht auf Sieg.

      Sie wissen wenig, aber sie spüren die Globalisierung

      Nun ist Volksbeschimpfung eine gleichermaßen beliebte wie müßige Beschäftigung. Es gibt in unserem Herrschaftssystem auf Dauer keine andere Macht als jene, die vom Volke ausgeht, und zuweilen wohnt dieser Macht sogar eine kollektive Klugheit inne. Es hat sich schon oft gezeigt, dass das Volk zwar kein großes Wissen besitzt, aber ein feines Gespür, auch für die politischen Notwendigkeiten. Eine Mehrheit erkannte früh, früher zumindest als die Konservativen, dass eine neue Ostpolitik schmerzhaft, aber sinnvoll sei; von unten wurde der Umweltschutz nach ganz oben auf die Tagesordnung der Politik gedrückt; Helmut Kohl blieb sechzehn Jahre lang unbeliebt, aber er blieb sechzehn Jahre lang Kanzler. Die Menschen ahnten, dass er dem Land bekömmlicher war als die Herren Scharping und Lafontaine, die als Alternative empfohlen wurden.

      Dieses vorausgeschickt, sollten wir uns an folgendes Gedankenexperiment wagen: Wir unterstellen, die Mitglieder der "Nicht mit mir"-Fraktion sind keine Verwirrten, sondern haben gute Gründe für ihre Verweigerung. Wir gehen davon aus: Sie wissen wenig, aber spüren viel von dem, was wir gemeinhin Globalisierung nennen. Sie sind durch Erfahrung klug, vergleichbar dem Bergbauern, der das Wetter der nächsten Tage mit größerer Treffsicherheit vorhersagt als die Experten vom Deutschen Wetterdienst.

      Sehen wir also mit ihren Augen auf die Welt. Wir blinzeln der herbstlichen Mittagssonne entgegen, hinaus auf die Straßen von Berlin-Neukölln, Hamburg-Billbrock oder Köln-Kalk. Je länger wir hinausstarren, desto deutlicher erkennen wir, dass es gesellschaftliche Verformungen gegeben haben muss. Es gab früher nicht weniger Minderbemittelte als heute, aber sie wurden am Werkstor mit Handschlag begrüßt. Selbst Bauernsöhne aus Anatolien, ungebildet und des Deutschen kaum mächtig, winkte man herein. Es gab Arbeit und Lohn satt. Das Wohlstandsversprechen stand nicht nur auf dem Wahlplakat.

      Seither hat sich vieles verändert. Der Handel ist seit dem Markteintritt von China, Indien und Osteuropa weltweit frei, aber er ist nicht so friedlich, wie es die Bilder von den bunten Containerschiffen glauben machen. Wandel durch Handel hieß das Postulat der Entspannungspolitiker, das auf die allmähliche, die unmerkliche Veränderung der Ostblockstaaten im Zuge der Handelsbeziehungen setzte. Die Erkenntnis war damals richtig und ist es womöglich noch immer, nur daß sie jetzt in die umgekehrte Richtung wirkt. Die Mitglieder der "Nicht mit mir"-Partei sind heute die Verwandelten.

      Der Aufstieg Asiens hat die Preise auf den für diese Menschen relevanten Weltarbeitsmärkten purzeln lassen, und sie purzeln in loser Reihenfolge hinterher. Ihre einst hochgeschätzte Arbeitskraft ist mittlerweile so wertlos wie ein Auto ohne TÜV, weshalb der Staat viel Geld für ihre Stilllegung ausgibt. In Amerika sind seit fünfundzwanzig Jahren die Löhne der Industriearbeiter nicht mehr gestiegen. In Europa wurden binnen zweier Jahrzehnte zwanzig Millionen arbeitslos. Die einen sind arm mit Arbeit, die andern sind arm ohne Arbeit, und der Streit der "Lauft schneller"-Bewegung darüber, welche dieser Armutsformen nun die bessere ist, muss den Betroffenen wie die reinste Narretei erscheinen.

      Die Herren Professoren haben ihr Wissen in der Zeit vor Chinas Aufstieg erworben

      Auch für die anderen, die wir bisher Mittelschicht nannten, hatte die neue Zeit vor allem Zumutungen zu bieten. Sie bekommen von allem weniger - weniger Urlaub, weniger Weihnachtsgeld, weniger Lohn, und nur die Wahrscheinlichkeit, dass ihr bisheriger Lebensstandard nicht zu halten sein wird, hat sich deutlich erhöht. Vielleicht war es ja ein Irrtum, zu glauben, auf den Weltmärkten würden nur Waren gehandelt, wie es der klassische deutsche Professor uns weismachen will. Diese Herren, die jetzt so viel von den Chancen der Globalisierung zu berichten wissen, haben allesamt in der Zeit vor Chinas Aufstieg ihre Expertise erworben. Ihre Theorien sind mittlerweile so verstaubt wie die Arbeitsplätze der ehemaligen Textilarbeiterinnen, nur dass an den Universitäten der örtliche Landeswissenschaftsminister und nicht die Globalisierung die Regie führt, weshalb die Professoren noch da sind und die Textilarbeiterinnen nicht.

      Was wurde da nicht alles von höchster akademischer Autorität prophezeit: Die Industriegesellschaft geht unter, und die Dienstleistungsgesellschaft kommt. In Wahrheit erlebt die Industriegesellschaft derzeit ihre Blüte, allerdings in Fernost. Anstelle der Dienstleistungsgesellschaft kam hierzulande das Schuldenmachen in Mode. In Europa sind die Staaten auf Kredit finanziert, in Amerika die Privathaushalte, so dass die Wirklichkeit überall im Westen nur noch unter Narkose wahrgenommen wird. Die Wachstumserfolge der vergangenen Dekade sind erkauft, nicht erwirtschaftet. Der Freihandel nützt allen, die sich an ihm beteiligen, sagen die Professoren. Doch auch diese Behauptung hält der Realität nicht stand. Könnten die Produkte im Kaufhausregal die wahre Geschichte ihres Entstehens erzählen, würde deutlich, dass Waren nichts anderes sind als geronnene Werte. Das Ringen um Marktanteile ist immer auch ein Ringen um die Dominanz von Werten.

      Wer sich für den Kühlschrank aus China entscheidet, der akzeptiert damit auch die sozialen Bedingungen seines Zustandekommens. Wer die Pharmaprodukte aus Indien in die Hausapotheke einstellt, erteilt damit den dort üblichen Patiententests seine Absolution. Wer Spielzeug aus Taiwan ordert, signalisiert sein Einverständnis mit den dortigen Produktionsverhältnissen. Das Ergebnis jedenfalls ist beeindruckend: Die Wohn- und Kinderzimmer wurden über die Jahre gewerkschafts- und sozialstaatsfrei, befreit auch von einer Umweltschutzgesetzgebung, die diesen Namen verdient. Viele träumten links, aber lebten rechts. "Es gibt nichts Neoliberaleres als den Kunden", sagt Adolf Muschg.

      Der kleine Mann ist kleiner als je zuvor

      Was in den Wohnzimmern begann, pflanzte sich in den Arbeitsstätten fort. Der Rückzug von Gewerkschaftsmacht verlief spiegelbildlich zum Vormarsch der gewerkschaftsfrei produzierten Waren. Auf der Rückseite der Importbestellung fanden sich immer häufiger die Entlassungsschreiben. Der Friedhof der westlichen Industriesaurier ist mittlerweile gut gefüllt. Was würde wohl passieren, wenn sich die Konkurrenz im Inland in gleicher Ursprünglichkeit entfalten könnte wie die aus dem Ausland? Wenn die Siebentagewoche eingeführt, die Kinderarbeit erlaubt, die Löhne bis auf sechzig Euro im Monat abgesenkt werden dürften? Von der Sozialen Marktwirtschaft bliebe binnen weniger Monate nur ein Torso übrig.

      Die Professoren beschwichtigen. Schon immer habe es weltweit unterschiedliche Produktionsbedingungen gegeben, das sei der Clou des internationalen Handels, den man sich bei gleichen Bedingungen ersparen könnte. Sie sagen: Was im Inland das Ordnungsamt, die Jugendschützer, den TÜV und beide Tarifparteien auf den Plan rufen würde, sei, wenn es im Ausland geschieht, nicht nur gefahrenlos, es sei regelrecht erwünscht. Das steigere den Wohlstand aller Nationen. Die "Nicht-mit-mir"-Mitglieder bezweifeln das. Sie erleben ja, wie die globale Wirtschaftswelt, in der Zeit und Entfernung zusammengeschrumpft sind, sie einem enormen Stress aussetzt. Shanghai liegt um die Ecke. Die Vergangenheit ihrer Urgroßväter, als der Sozialstaat noch nicht erfunden war, kehrt in Gestalt der Moderne zurück.

      Das eben unterscheidet die Globalisierung vor und nach dem Eintreffen der neuen Angreiferstaaten ganz erheblich: Ihre Art zu arbeiten, zu lernen, zu leben war vorher hoch angesehen und wird nun in Frage gestellt. Der kleine Mann ist kleiner als je zuvor. Ulrich Beck spricht von den "strukturell Überflüssigen", die Amerikaner reden in der ihnen eigenen Direktheit vom "White trash", dem weißen Müll. Nahezu zehn Prozent der deutschen Bevölkerung beziehen mittlerweile Geld aus dem Hartz-IV-Programm.

      Nun könnten die Reformer erwidern: Weil das alles so ist, müssen die Menschen schneller laufen. Die Welt von gestern ist untergegangen, bewegt euch gefälligst, seid flexibel, seid billig, lernt, was das Zeug hält. Gern erzählt der deutsche McKinsey-Chef den Witz von den zwei barfüßigen Läufern, die in der afrikanischen Steppe dem Löwen zu entkommen versuchen. Der eine hält plötzlich an und zieht sich Turnschuhe an. Der andere fragt: Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du jetzt schneller bist als der Löwe? Nein, erwidert der Turnschuhträger, aber ich bin nun schneller als du.

      Das Volk und die Führung haben den Sichtkontakt verloren

      Die Reformer glucksen vor Vergnügen, die anderen aber erstarren. Und Oskar Lafontaine ist der lachende Dritte. Der Löwe treibt ihm die Menschen zu. Er darf sich als Fürsprecher aller Barfüßigen fühlen, womit wir bei den Schlussfolgerungen wären. Drei sind es insgesamt.

      Erstens: Es ist keine Laune des Augenblicks, auch nicht das Ergebnis schlechter Öffentlichkeitsarbeit, sondern Ausdruck handfester Interessen, dass es in Deutschland keine Legitimation für eine wirkliche Reformpolitik gibt. Das gemeine Volk und große Teile der Führung haben den Sichtkontakt verloren, weil das Wollen der Führung sich nicht mit den Erfahrungen der Mehrheit deckt. Ein Patt zwischen der "Nicht mit mir"-Bewegung und der "Lauft schneller"-Partei ist entstanden, das sich in den kommenden Jahren vermutlich auflösen wird - nicht automatisch zugunsten derer, die Veränderung wollen.

      Zweitens: Um das Patt in die andere Richtung aufzulösen, ist ein Brückenschlag nötig. Was sich ändern muss, ist den Barfüßigen oft genug gesagt worden. Jetzt müsste ihnen verbindlich erklärt werden: Was bleibt? Wo ist die Demarkationslinie, an der fallende Löhne und geschrumpfte Sozialstandards zum Stehen kommen? Und: Was tun die gewählten Interessenvertreter, um diese Haltelinie zu verteidigen?

      Wider den Raubkatzenkapitalismus

      Drittens: Damit richtet sich das Augenmerk der Politik erstmals auf den Löwen selbst. Der Raubkatzenkapitalismus aus Fernost hat die Spielregeln zu seinen Gunsten verändert und muss nun in die Schranken verwiesen werden. An Themen, über die mit den Befehlshabern der gelenkten Marktwirtschaften zu reden wäre, herrscht kein Mangel: Vom milliardenteuren Ideenklau über systematische Umweltzerstörung bis hin zu Kinderarbeit und der offen zur Schau gestellten Unterdrückung freier Gewerkschaften reicht die Liste dessen, was wir heute akzeptieren und in dieser Bedingungslosigkeit nicht akzeptieren müssten. Es geht um nichts Geringeres als den Schutz unserer Wertewelt. Der Westen ist nicht so wehrlos, wie er sich fühlt.

      In einem langen, mutmaßlich Jahrzehnte dauernden Prozess bekäme die Globalisierung jenen Ordnungsrahmen, der ihr heute fehlt. Der Liberalismus von unten, wo urwüchsige Märkte sich den passenden Staat formen, würde durch einen Liberalismus von oben ersetzt, wie er den Gründungsvätern der Sozialen Marktwirtschaft, Walter Eucken und Alfred Müller-Armack, vorschwebte. Das Neue: Die Politik würde ihre Forderungen, die ja in Wahrheit Zumutungen sind, nicht mehr allein an die eigene Bevölkerung richten. Die Reform im Inneren und das Beharren auf Bewahrung im Äußeren bilden jetzt die zwei Seiten der Medaille.

      Vielleicht ließen sich die vorm Bauch verschränkten Hände so wieder lösen. Womöglich kehrt die alte Energie aufs Neue zurück, wenn die Politik die Reformnotwendigkeit auch bei sich erkennt. Das Publikum will seine Politiker endlich kämpfen sehen - gegen die Löwen und nicht gegen sich selbst. "Das Volk", wusste schon Kurt Tucholsky, "ist doof, aber gerissen."

      Quelle: www.spiegel.de //Dieser Text wird mit freundlicher Genehmigung der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" nachgedruckt, in der er zuerst erschienen ist.

      -----------

      Kommentar: Tja, zweifelsohne ein sehr kluger Artikel, den da der Herr Steinhard verfasst hat, und als Resümee fordert er dann am Ende, dass Deutschland nicht seine Arbeits- und Sozialgesetzgebung an China, sondern China seine Arbeits- und Sozialgesetzgebung an Deutschland anpassen soll.

      Die Barfüßigen sollen also, wenn man sein Gleichnis zu Hilfe nimmt, nicht schneller laufen lernen, um nicht vom Löwen gefressen zu werden, sondern der Löwe soll sich, bitteschön, der sozialen Gerechtigkeit gegenüber den davoneilenden Menschen wegen, strikt an eine von Tarzan den Dschungelkönig höchstpersönlich erlassene Geschwindigkeitsbeschränkung halten.

      Heujeujeu, dass ich mir da nicht vor Lachen noch glatt in die Hose puller. Na, ob seine Idee wohl so zukunftsweisend ist? Ich weiß nicht so recht. Ich glaube eher, nicht nur die von ihm gescholtenen "Herren Professoren", sondern auch er hat sein Wissen und seine Mentalität "in der Zeit vor Chinas Aufstieg" erworben. Dementsprechend kann man wohl behaupten, dass der Herr Steinhard ebenfalls zu den "Nicht mit mir!"-Anhängern gehört. Ob er sich wohl mit seiner Einstellung gerne zusammen mit Oscar Lafontaine, als Bruder im Geiste, geschlossen in Reih' und Glied sieht, wage ich ja zu bezweifeln.
      :D;)
      Avatar
      schrieb am 17.10.06 23:16:13
      Beitrag Nr. 3 ()
      Nicht der Aufstieg anderer Länder hat dazu geführt...

      Mein Dank geht an Schröder und Merkel für den beispiellosen Abgang Deutschlands...

      Besser hätte man ein Land nicht an die Wand fahren können. :(
      Avatar
      schrieb am 17.10.06 23:39:19
      Beitrag Nr. 4 ()
      herr steinhard heißt eigentlich herr steingart und schreibt in letzter zeit immer öfter kluge dinge.
      Avatar
      schrieb am 17.10.06 23:58:03
      Beitrag Nr. 5 ()
      Antwort auf Beitrag Nr.: 24.692.582 von borsenmakler am 17.10.06 23:16:13@Börsenmakler

      Und das sagt ein Börsenmakler????? :confused::confused::confused:


      @Heizkessel

      Naja, teilweise klug, teileweise weniger klug. Wie man' eben sieht.

      ----------------

      Unterschicht

      Das wahre Elend

      In Deutschland hat sich eine neue Unterschicht gebildet, die ohne Zukunft ist. Jahrzehntelang wurde versucht, ihre Armut mit Geld zu bekämpfen. Doch was die Benachteiligten wirklich brauchen, wird ihnen verwehrt. Reportage aus der bildungsfreien Zone.


      © Andreas Reeg Das süße Leben der Armen: Schokolade, Bonbons, Zigaretten und Geld vernichtende Handys. Die tätowierten Arme gehören Udo Hupa, 44, aus Essen-Katernberg, der trotz Zuckerkrankheit und Übergewicht fleißig nascht

      Es gibt keine Region in Westdeutschland, in der die Menschen ärmer sind als im Ruhrgebiet. In keiner Stadt des Ruhrgebiets ist der Anteil an Sozialhilfeempfängern höher als in Essen. In keinem Stadtteil Essens ist das Haushaltseinkommen niedriger als in Katernberg. Und in keiner Straße Katernbergs leben mehr Arme als im Meerkamp. Hier ist unten. Hier also gibt es sie, die deutsche Armut.

      Wie sieht sie aus? Die niedrigen Wohnblocks aus den 60er Jahren sind gepflegt. Kein Müll, keine Graffiti, auf weitläufigen Rasenflächen stehen Rutschen und Schaukeln im Herbstlaub. Ein Bataillon aus Schüsseln peilt Satelliten an. Hinter den Gardinen flackert bläuliches Licht. Studiogebräunte Mädchen klackern über die Betonwege. In ihren Armbeugen baumeln Handtäschchen. Dicke Kerle wuchten sich aus breitbereiften BMWs, Audi TTs und tiefergelegten Golfs. Der Hausmeister sammelt ein paar Kippen auf. "Armut?" Sein Lachen stirbt in einem rauchigen Hustenanfall. "Ich kenne wirklich jeden im Meerkamp. Aber Armut, nee, die gibt's hier nicht."

      Früher arbeiteten die Männer aus dem Meerkamp auf Zollverein, der größten Zeche Europas. 1986 wurde sie geschlossen und die meisten Katernberger arbeitslos. Die Leute aus dem Meerkamp waren ungelernte Arbeiter, die von den Kohle-förderbändern die Steine aussortierten oder andere einfache Arbeiten erledigten. Diesen Rand der Gesellschaft gab es schon immer: die Unterschicht. Damals hatte die Unterschicht noch Arbeit, in Katernberg, im Ruhrgebiet, in ganz Deutschland. Doch die Jobs für Leute ohne Ausbildung sind weg. Sie kommen nie zurück. In unserer heutigen Wirtschaft ist die Unterschicht überflüssig.

      In Deutschland gilt als arm, wer mit weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens auskommen muss. Das trifft auf rund zehn Millionen Menschen zu. Wie viel Geld haben die Armen? Eine vierköpfige Familie, die von Sozialhilfe lebt, bekommt vom Staat inklusive Miete und allen Hilfen rund 1550 Euro im Monat, bei fünf Personen sind es etwa 1840 Euro. Das ist mehr, als Ungelernte netto verdienen können. Im Meerkamp, in München-Hasenbergl, in Hamburg-Wilhelmsburg, in Köln-Chorweiler, in den typischen deutschen Unterschichtsvierteln leben die Armen heute in geräumigen Wohnungen mit Einbauküche, Mikrowelle, Waschmaschine, Spülmaschine, Handy, meist mehreren Fernsehern und Videorecorder. Das zeigen die Erhebungen des Statistischen Bundesamtes. Die heutige Unterschicht leidet keine Not, wie sie in Romanen des 19. Jahrhunderts beschrieben wird. Und dennoch lebt sie im Elend.

      Das Elend ist keine Armut im Portemonnaie, sondern die Armut im Geiste. Der Unterschicht fehlt es nicht an Geld, sondern an Bildung.
      In keinem OECD-Land, das hat der Pisa-Test gerade zum zweiten Mal gezeigt, werden Unterschichtskinder im Bildungssystem so skandalös benachteiligt wie in Deutschland.(Anmerk. Quatsch!!!) Einmal unten, immer unten. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Unterschicht eigene Lebensformen entwickelt, mit eigenen Verhaltensweisen, eigenen Werten und eigenen Vorbildern: die Unterschichtskultur.

      Das monatliche Einkommen ist nicht der richtige Maßstab, um die Situation der Menschen zu beurteilen. Unter den rund zehn Millionen Armen, die derzeit in Deutschland gezählt werden, sind auch etwa 800 000 junge Menschen in Ausbildung und Studium. Sie haben wenig Geld. Aber jede Menge Chancen. In einer Langzeitstudie hat das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) herausgefunden, dass die wirtschaftliche Kluft zwischen oben und unten in den vergangenen Jahren kaum gewachsen ist. Und der neueste Armutsbericht der Bundesregierung zeigt: Die Reichen werden reicher. Und die Armen? Sie werden auch reicher. Dennoch ist Deutschland ein gespaltenes Land. Aber die Spaltung verläuft nicht entlang der wirtschaftlichen Linien. Es ist eine kulturelle Spaltung. Hier ist aus dem Graben zur Unterschicht eine tiefe, breite Schlucht geworden.

      "Sydney! Sydney, du sollst doch nicht so nah an den Fernseher ran." Elf Uhr morgens im Meerkamp. Die zweieinhalbjährige Sydney liegt im Schlafanzug am Fußende ihres Bettes, das Gesicht in Ärmchenweite vor der Mattscheibe. Gebrüll und Explosionen wummern, die typischen Geräusche japanischer Zeichentrickfilme. Unterschichtskinder, das haben Medienwissenschaftler herausgefunden, schauen nicht nur erheblich mehr fern als Gleichaltrige aus der Mittel- und Oberschicht. Sie bevorzugen billige Comics und Werbung. Die "Sendung mit der Maus" überfordert sie oft. Noch nicht in der Schule und schon abgehängt, selbst beim Glotzen.

      Heike Benziane, Sydneys Mutter, ist 40 Jahre alt und hat noch zwei weitere Kinder. Die älteste Tochter ist 23 und schon ausgezogen. Der 20-jährige Sohn schläft im Nebenzimmer. "Ich hab ihm mehrmals gesagt, er soll sich eine Lehrstelle suchen. Mehrmals", sagt sie, holt ein Duplo aus einer der Schüsseln mit Süßigkeiten, wickelt es aus und schiebt es Sydney in den bereits schokoladenverschmierten Mund. Ihren letzten Freund hat Heike Benziane vor wenigen Wochen vor die Tür gesetzt, "weil er sich für nichts interessiert hat, nicht mal für sein Kind". Frau Benziane und ihre beiden Kinder leben von insgesamt etwa 1300 Euro Stütze im Monat. "Sich mal was gönnen, zu McDonald's oder so, das geht nicht oft", sagt sie. Sydneys Vater trägt nichts zum Unterhalt bei, denn er hat keinen Job. "Ist doch klar. Der hat ja schon zwei Kinder mit anderen Frauen", sagt Heike Benziane. In ihren Augen ist das eine schlüssige Erklärung für Arbeitslosigkeit. Hätte er Arbeit, müsste er vom Lohn für seine Kinder Unterhalt zahlen. Für ihn selbst bliebe nicht mehr als der Sozialhilfesatz. Kinder mit einer Ex-Frau zu haben, empfinden viele Männer aus der Unterschicht daher als objektiven Grund, nicht zu arbeiten. Im Meerkamp gehört diese Logik zum Alltagswissen.

      "Die Kerle wissen ja, dass Vater Staat für uns sorgt", sagt Manuela Reimann, die beste Freundin von Heike Benziane. Die 35-Jährige ist im Meerkamp aufgewachsen und lebt noch immer hier. Genau wie ihre beiden Brüder und ihre Eltern. "In dieser Umgebung kann man kein Kind großziehen", sagt sie. Sie ist schwanger. Manuela Reimann zündet sich eine Marlboro an und sagt entschuldigend: "Wegen dem Kind muss ich ja schon auf die Tabletten verzichten."

      An einem Freitagabend im August hat sie ihrem Freund berichtet, dass der Schwangerschaftstest diesmal positiv war. Samstagmorgen war er weg. Sie nimmt es ihm nicht übel. "Welcher Mann zieht denn hier noch seine Kinder mit groß? Also, ich kenne keinen", sagt sie. Trennung und Scheidung sind das größte Armutsrisiko in unserer Gesellschaft. Und Unterschichtsbeziehungen haben eine besonders kurze Haltbarkeit. Manuela Reimann wird nie wieder arbeiten, das ist heute schon sicher. "Schulden", sagt sie. Würde sie arbeiten, müsste sie ihre Schulden zurückzahlen.

      Reimanns Bruder Udo Hupa ist 44 Jahre alt und wohnt auf demselben Stockwerk wie seine Eltern. Er ist klein und wiegt um die 130 Kilo. Im Sommer hat er sich ein Piercing in die linke Augenbraue bohren lassen. Als junger Mann hat Hupa Metzger gelernt. An seine letzte Arbeitsstelle kann er sich nicht mehr erinnern. Arbeit ist in Katernberg einfach kein Thema. Hupa lebt von Arbeitslosenhilfe und davon, DVDs zu brennen. "Was die Leute hier halt so gucken." Pornos. Dafür hat er sich einen leistungsfähigen Computer angeschafft. Obwohl Udo Hupa Diabetiker ist, stehen regelmäßig Süßigkeiten auf dem Speiseplan. "Ich versuch' ja, es zu lassen", sagt er. "Aber ich muss einfach laufend zum Büdchen und mir eine Ladung Weingummis reinziehen." Hupa findet sich nicht zu dick. Jedenfalls nicht im Vergleich zu seinem Bruder. Der ist 38 Jahre alt, wohnt noch bei den Eltern und ist "der fetteste Mensch, den ich je gesehen habe. Viel fetter als Calmund. Der wiegt über 250 Kilo, ehrlich, und hat die Wohnung schon seit Jahren nicht mehr verlassen können", berichtet Hupa.

      "Die Unterschicht ist von allen chronischen Krankheiten überdurchschnittlich stark betroffen", sagt Andreas Mielck vom Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit in München. Das Krankheitsrisiko ist etwa doppelt so hoch, auch bei der angeblichen Managerkrankheit Herzinfarkt. Sind Angehörige der Unterschicht einmal erkrankt, verläuft ihr Heilungsprozess erheblich schlechter. Früher waren mangelnde ärztliche Versorgung und krankmachende Arbeitsbedingungen die Gründe dafür. Heute nicht mehr. Es gibt nur einen Grund: falsches Verhalten.

      Mielck hat die Beweise zusammengetragen: Ehemalige Hauptschüler rauchen fast doppelt so oft wie ehemalige Gymnasiasten. Schon 12- bis 13-jährige Hauptschüler trinken annähernd doppelt so viel Alkohol wie gleichaltrige Gymnasiasten. Fast ein Drittel der Unterschichtsfrauen haben starkes Übergewicht (32 Prozent), viermal so viel wie Oberschichtsfrauen (8 Prozent). Fast Food ist die Nahrung der Unterschicht. Und 25- bis 39-jährige Angehörige der Unterschicht haben dreimal so oft Bewegungsmangel wie Angehörige der Oberschicht. Mit Geld hat das alles nichts zu tun. Im Gegenteil: Einen Monat rauchen ist teurer als der Monatsbeitrag in einem exklusiven Fitness-Studio. Fast Food ist teurer als Selberkochen. Alkohol ist teurer als selbst gepresster Obstsaft, die Presse mitgerechnet. Ungesundes Verhalten ist insgesamt teurer als gesundes.

      Armut macht also nicht krank. Der schlechte Gesundheitszustand der Unterschicht ist keine Folge des Geldmangels, sondern des Mangels an Disziplin. Disziplinlosigkeit ist eines der Merkmale der neuen Unterschichtskultur. Es gibt noch mehr: Konsumforscher haben ermittelt, dass die Unterschicht zu "demonstrativem Konsum" neigt, die angesagtesten Klamotten, das neueste Handy, das Auto mit dem fettesten Auspuffrohr. Und wenn das Geld ausgegeben ist, werden Schulden gemacht. Wofür? Vor allem für Unterhaltungselektronik, sagen Verbraucherschützer. Die Unterschicht lebt im Hier und Heute und kümmert sich nicht um die Zukunft. Weder um die eigene noch um die der Gesellschaft. Die Unterschicht geht der Demokratie verloren. Wahlforscher beobachten seit Jahren: Je geringer die Bildung, desto geringer die Wahlbeteiligung. In Katernberg gingen in diesem Jahr nur 40 Prozent zu den Kommunalwahlen und ganze 28,8 Prozent zu den Europawahlen.

      Der Freizeitforscher Horst Opaschowski hat herausgefunden: In der Freizeit ist die Unterschicht vor allem passiv. Und wer von Stütze lebt, hat viel freie Zeit. Freunde treffen, im Internet surfen, etwas lernen, lesen? Alles Fehlanzeige. Unterschichtler verbringen ihre Freizeit vor allem mit Glotzen. Sie sind die Zuschauer des Lebens. Und sie glotzen vor allem mehr Nachmittagsgeplapper, mehr Gewalt, mehr Trash. "Mediale Verwahrlosung", nennt das Christian Pfeiffer, Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover. Du bist, was du glotzt.

      Im Herbst hat Elke Zepig den ersten Buchladen in Essen-Katernberg eröffnet. Davor gab es in einem Stadtteil, in dem fast 24 000 Menschen leben, keine Bücher zu kaufen. Zepigs Buchladen ist eigentlich ein Schreibwarenladen mit drei zusätzlichen Billy-Regalen, in denen lose ein paar Bücher stehen. "Die Leute hier lesen einfach nicht", sagt Elke Zepig. An den Buchpreisen kann es nicht liegen. Denn die Katernberger haben genug Geld zum Spielen. Allein in der Hauptstraße gibt es auf eineinhalb Kilometern sieben Spielhöllen. Die Geschäfte laufen gut.

      Die Unterschicht verliert die Kontrolle, beim Geld, beim Essen, beim Rauchen, in den Partnerschaften, bei der Erziehung, in der gesamten Lebensführung. Nirgendwo wird der Disziplinverlust so deutlich wie beim Sport. Über Generationen war Sport der große Freizeitspaß der Unterschicht. Nach Schulschluss wurde in den Arbeitervierteln gekickt. Früher. Ob Jung oder Alt: Für die Unterschicht findet Sport heute im Wesentlichen im Fernsehen statt. "Hauptschulabsolventen treiben nur noch zu 21,5 Prozent Sport, Gymnasialabsolventen jedoch zu 52,3 Prozent", sagt Opaschowski.


      Je höher das sportliche Leistungsniveau, desto geringer der Anteil von Angehörigen der Unterschicht. "In den Olympiamannschaften finden wir fast nur noch Studenten oder Leute mit Abitur", sagt der Sportsoziologe Klaus Cachay. "Sport bedeutet Selbstdisziplin, Zuverlässigkeit, Durchhaltevermögen und Leistungsorientierung. All das sind Fähigkeiten, die der Unterschicht mehr und mehr abhanden kommen." Doch wie kann heute jemand an unserem Arbeitsmarkt bestehen, der nicht zuverlässig, nicht diszipliniert und nicht leistungsorientiert ist?

      "Los, gib ab, gib ab, gib aaaab!", brüllt ein Junge seinen Mitspieler an. Dann geschieht ein kleines Wunder: Der Angebrüllte spielt den Ball tatsächlich ab. Der Rest ist Formsache: Schuss. Tor.

      Berthold Werth strahlt. So langsam lernen die Jungs, was Zusammenspielen bedeutet. Werth ist ein Sozialarbeiter des Jugendhilfe-Netzwerks der Arbeiterwohlfahrt in Katernberg. Im Auftrag des Jugendamtes betreut er besonders problematische Familien. Weil er selbst Fußballer ist, hat er vor drei Jahren begonnen, mit den 11- bis 15-jährigen Jungs aus diesen Familien einmal die Woche in der Sporthalle zu kicken.

      Joe bekommt den Ball zugespielt. Er hat freie Bahn. Jetzt müsste er losstürmen und das Ding reinmachen. Geht aber nicht. Der 13-Jährige wiegt über 100 Kilo. Sein Kopf ist knallrot, er japst. Drei schwere Schritte tapst er Richtung Ball. Dann ist die Chance vertan. "Och Mensch", brüllt Lars, der selbst kaum dünner ist als Joe. "Das gibt's doch nicht. Das war die Chance." Alle schauen Joe an. Wird er wieder gegen die Wand treten, rumschreien, weinen und schließlich nach Hause gehen, wie letzte Woche, und vorletzte? Joe trainiert beim Fußball nicht nur seinen Körper. Er muss lernen, mit Frustrationen, mit Niederlagen um- zu-gehen, ohne gleich auszurasten. Joe schluckt. In seinen Augen sind Tränen. Aber er reißt sich zusammen.

      "Das war heute einer der schönsten Momente in meinem Job", sagt Berthold Werth später. Im ersten Jahr waren solche Momente selten, als er erkannte, dass er den dicken Kindern vom Meerkamp solche Sachen wie Rückwärtslaufen beibringen musste. Und er musste alle mit einem Bus zu Hause abholen. Sie konnten keine Termine einhalten. "Ich war noch in keiner Familie, in der es nicht das volle Sortiment der Unterhaltungselektronik gab: Fernseher, DVD, Video, PC, Playstation, einfach alles. Aber ich war schon oft in Familien, in denen es keine Uhr gibt", sagt Werth. Wer in der zweiten, dritten oder vierten Generation Sozialhilfe bekommt, lebt in einer Welt ohne Zeit. Der Fernseher strukturiert den Tag, und der läuft immer. "Und wir können schon froh sein, wenn da Zeichentrickfilme laufen und keine Pornos", sagt Werth. "Die Leute erziehen ihre Kinder hier oft nach der Kartoffelmethode: Die wachsen von alleine."

      Würde sich etwas ändern, wenn man jeder Familie im Meerkamp ein paar hundert Euro mehr Sozialhilfe auszahlen würde? Die Zukunftsaussichten der Jungs in Berthold Werths Fußballmannschaft blieben weiter jämmerlich. Sydneys Mutter würde ihre Kinder häufiger zu McDonald's einladen. Der dicke Herr Hupa würde sich mehr Weingummis vom Büdchen holen.

      Seit Jahrzehnten versucht die deutsche Gesellschaft, die Armut mit Geld zu besiegen. Das hat nicht funktioniert. Paul Nolte, Professor für Sozialgeschichte an der International University in Bremen, nennt dies "fürsorgliche Vernachlässigung". Staat, Gesellschaft und auch die Sozialwissenschaften haben versucht, sich von der Verantwortung für die Unterschicht freizukaufen. Die wurde mit Geld ruhig gestellt. Opium fürs gemeine Volk. Doch was die Unterschicht wirklich braucht, das wurde ihr verwehrt.

      Was braucht die Unterschicht? Womit kann ihr geholfen werden, wenn nicht mit Geld? "Bildung", sagt Paul Nolte. "Bildung", sagt Berthold Werth. "Bildung", sagt Klaus Peter Strohmeier, Soziologieprofessor an der Bochumer Ruhr-Universität, einer der wenigen deutschen Sozialwissenschaftler, die sich mit der Unterschicht beschäftigen. "Bildung", sagt der Gesundheitsforscher Andreas Mielck. "Bildung", sagt der Sportsoziologe Klaus Cachay. "Bildung", sagt Klaus Wermker, Stadtentwicklungsleiter in Essen. "Bildung", sagt Karin Neuhaus vom Essener Institut für Stadteilbezogene Soziale Arbeit, die sämtliche sozialen Projekte in Katernberg koordiniert. "Bildung", sagt der Kriminologe Christian Pfeiffer. "Bildung", sagt Gisela Wehner-Böhme,die Leiterin der Kindertagesstätte in Katernberg. "Bildung", sagt Angelika Sass-Leich, Direktorin der Hebartschule, einer Grundschule in Katernberg.

      Bislang glaubten Politik, Sozialwissenschaften und Gesellschaft: Die Lebensformen der Unterschicht und ihre Verhaltensweisen seien die Folge ihrer Armut. Genau das Gegenteil ist richtig: Die Armut ist eine Folge ihrer Verhaltensweise, eine Folge der Unterschichtskultur. In Deutschland sind nicht immer die Armen die Dummen, sondern die Dummen sind immer arm. Wer nicht ein Mindestmaß an Selbstdisziplin gelernt hat, wer seinen Körper nicht gesund hält, ist nicht arbeitsfähig. Wer keinen richtigen Beruf gelernt hat, ist ohne Chance. Arbeitsplätze für Hilfsarbeiter verschwinden immer mehr. Mangelhafte berufliche Qualifikation ist mit Abstand das größte Risiko für Langzeitarbeitslosigkeit. Permanentes Lernen ist heute für jeden Beruf überlebenswichtig. Der Kfz-Mechaniker, Traumjob der Jungs im Meerkamp, ist heute EDV-Fachmann. Und Kindergärtnerinnen, Traumjob der Mädchen im Meerkamp, müssen in anderen Ländern studiert haben. Die Unterschicht hat nur zwei Alternativen: Bildung oder Sozialhilfe.

      "Geld ist echt nicht mein Problem." Die Sozialhilfeempfängerin Anja Rausch ist 29 Jahre alt, lebt im Meerkamp und hat drei Kinder von drei Vätern. Mit 17 bekam sie ihre älteste Tochter. Fabian, der Jüngste, ist sechs Monate alt. Sein Erzeuger ist ein 24-jähriger Sonderschulabbrecher. "Ich will nicht, dass Fabians Vater hier wohnt. Besuchen ist okay, aber ich will mich nicht an ihn gewöhnen", sagt Anja Rausch. "Die Männer kommen und gehen doch sowieso, aber die Kinder bleiben." Als sie mit Fabian schwanger war, hat ihre Älteste, damals elf, sie beiseite genommen. "Sie wurde ganz streng und hat gesagt: "Mama, du musst dich sterilisieren lassen." Ja, und genau das mach ich jetzt. Ich krieg das mit den Männern einfach nicht in den Griff."

      Anja Rausch ist eine bewundernswerte Mutter, eine der erfolgreichsten aus dem ganzen Meerkamp, denn sie hat eine großartige Leistung vollbracht: Ihre älteste Tochter geht aufs Gymnasium, außerhalb von Katernberg. "Und sie hat gute Noten. Ich bin so stolz." Als ihre Tochter klein war, hat Rausch sich jede Woche ein Kinderbuch in der Bücherei ausgeliehen und ihr vorgelesen. Und ab und zu einen Erziehungsratgeber für sich selbst. "Ich hatte ja keine Ahnung, wie das geht mit einem Kind. Und wen sollte ich denn fragen? Die Leute hier?"

      In Anja Rauschs Wohnung steht nur ein Fernseher, und der ist alt und klein. Sie schläft auf der Wohnzimmercouch, obwohl das in der 83 Quadratmeter großen Dreizimmerwohnung nicht nötig wäre. "Aber so haben die beiden Kleinen ein Zimmer nur zum Spielen. Das ist wichtig. Hab ich gelesen." Anja Rausch hat nicht genug Kraft, ihr gesamtes Leben unter Kontrolle zu halten. Süßigkeiten, das Chaos in der Wohnung, das mit Geld und das mit den Männern, "das schaff ich nicht alles auf einmal. Und darum konzentriere ich mich auf eines: dass die Kinder was lernen. Sonst sitzen die in zwanzig Jahren noch immer im Meerkamp. Wie ich."

      >Doch was ist mit den Nachbarkindern, deren Eltern sich nicht aufopfern wie Anja Rausch, die nach der Kartoffelmethode erzogen werden? "Diese Kinder müssen im Kindergarten und in der Schule eben vieles lernen, was Mittel- und Oberschichtskinder zu Hause lernen", sagt der Bochumer Soziologe Strohmeier.

      Die gute Nachricht ist: Bildung hilft tatsächlich. Im Kindergarten kann man den Kindern aus benachteiligten Familien noch am wirksamsten helfen. Das beweist eine neue Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer: 39 Prozent aller Kinder in Deutschland gehen aufs Gymnasium, Ausländerkinder jedoch nur zu neun Prozent. Und was ist mit den Ausländerkindern, die in einen deutschen Ganztagskindergarten gehen? Auch von denen schaffen es 39 Prozent aufs Gymnasium, genauso viele wie im Durchschnitt.

      "Im Grunde genommen wissen wir alle das alles doch schon seit Jahren", sagt Gisela Wehner-Böhme. Sie hat daraus Konsequenzen gezogen. Als die Stadt Essen 1998 auf dem ehemaligen Zechengelände einen neuen Kindergarten eröffnete und sie die Leitung übernahm, bestand sie darauf, dass es ein Ganztagskindergarten wird. "Wir haben hier viele Einwandererkinder. In drei Stunden am Tag lernen die kein Deutsch." Dann sind sie und ihre Kolleginnen erst mal Klinkenputzen gegangen, von Tür zu Tür, um die Eltern von der Notwendigkeit der Ganztagsbetreuung zu überzeugen. Nachdem sie die Kinder hatten, holten sie sich auch die Eltern. Einmal in der Woche bringen Pädagogen interessierten Eltern das kleine Einmaleins des Elternseins bei. "Ernährung, Erziehung, Gesundheitsvorsorge, das volle Programm", sagt Wehner-Böhme. "Elternarbeit ist fast genauso wichtig wie die Arbeit mit den Kindern." Inzwischen werden im Kindergarten eine ganze Menge Eltern erzogen.

      Wie lebensverändernd der Erfolg des Kindergartens ist, kann Angelika Sass-Leich als Erste feststellen, denn sie ist die Direktorin der Hebartschule, in die fast alle Kindergartenkinder von Frau Wehner-Böhme eingeschult werden. "Früher mussten wir mit den meisten Kindern in den ersten Schuljahren Kindergarten machen, ihnen beibringen, einen Stift oder eine Schere zu halten und in einer Gruppe einigermaßen still zu sitzen", sagt die Direktorin. Und heute? "Der Großteil der Kinder ist jetzt unterrichtsfähig. Das ist eine fundamentale Veränderung." Seit zwei Jahren ist auch ihre Grundschule ganztags geöffnet.

      Die erste Katernberger Generation Kinder, die ganztags in Kindergarten und Schule geprägt wurden, hat jetzt die Grundschule verlassen. Fünf von 35 Kindern kamen auf das Gymnasium. Das gab es noch nie in der Hebartschule. Und der Anteil der Sonderschüler ging dramatisch zurück. "Darauf bin ich schon stolz", sagt die Direktorin.

      Das also ist die Lösung. Das wäre die Lösung, wenn aus den Erfahrungen Konsequenzen gezogen würden. Werden aber nicht. Die Hebartschule und der Katernberger Kindergarten sind keine echten Ganztagseinrichtungen. Das Nachmittagsprogramm wird aus Projekten finanziert. Statt mit den Kindern zu arbeiten, verbringen die Leiterinnen, Wehner-Böhme und Sass-Leich, unendlich viel Zeit damit, Geld einzusammeln, die unterschiedlichsten Fördertöpfe anzuzapfen und daraus eine Finanzierung zu basteln, so kompliziert wie der Haushalt von Hans Eichel. EU, Bund, Land und Stadt, alle sind mit unterschiedlichen Minibeträgen aus den unterschiedlichsten Programmen beteiligt, die unterschiedliche Regeln und unterschiedliche Laufzeiten haben. Die Existenz der Ganztagsarbeit ist ständig gefährdet.

      Die heilsame Wirkung der Basis-Bildungsarbeit in Katernberg wird von allen Verantwortlichen begrüßt. Der Erfolg ist nicht nur offensichtlich, sondern wissenschaftlich nachgewiesen. Niemand zweifelt daran. Und dennoch wird er nicht flächendeckend umgesetzt. Warum?

      "Das, genau das macht mich auch depressiv", sagt Klaus Wermker, Leiter der Stadtentwicklung in Essen. "Wir haben für jedes Problem ein Modellprojekt, das uns genau zeigt, wie wir es lösen können. Wir wissen ganz genau, wie wir der Unterschicht in Bezirken wie Katernberg helfen könnten." Aber? "Dazu brauchen wir die Politik. Und dass wir das, was wir alle als richtig erkannt haben, auch politisch umsetzen, daran glaube ich nicht mehr."

      Wie die meisten Städte ist Essen eine geteilte Stadt. Im Norden, in Katernberg, lebt die Unterschicht unter sich. Der Süden gehört den Vorstandsvorsitzenden des Ruhrgebiets. Die Oberschichtskinder brauchen von Schule und Kindergarten viel weniger Hilfe als die Kinder im Meerkamp. Das müsste bedeuten: weniger Lehrer, weniger Kindergärtnerinnen, weniger Planstellen im Süden, mehr davon im Norden. "Ungleiches ungleich behandeln", nennt Wermker das. "Aber denen im Süden etwas wegzunehmen, das würde in Deutschland kein Politiker keiner Partei überleben", sagt Wermker.

      Sie werden es wagen müssen. Das Schicksal der Menschen im Meerkamp, der Unterschicht in Deutschland insgesamt, ist keine Frage von Mitleid und Barmherzigkeit. Es ist eine Überlebensfrage für die gesamte Gesellschaft. Keine Volkswirtschaft kann es sich auf Dauer leisten, mehr als zehn Prozent durchzufüttern. Die kulturelle Spaltung lässt sich nicht mit den Mitteln des Sozialstaates überwinden, nicht mit Almosen, nicht mit Sozialhilfe, nicht mit Geld. Die Unterschicht braucht echte Investitionen in ihre Zukunft, Investitionen in die Köpfe der Menschen, nicht in den Bauch. Bildungsausgaben zahlen sich bereits in wenigen Jahren aus - nachweislich. Aus guten Schülern werden bald gute Steuerzahler. Ein besseres Investment können Staaten nicht tätigen.

      Außerdem: Die Mittel- und Oberschicht bekommt immer weniger Kinder. Akademikerinnen bleiben bereits heute zu über 44 Prozent kinderlos. Tendenz steigend. "Das Leben mit Kindern wird mehr und mehr zur Lebensform der Unterschicht", sagt der Soziologe Strohmeier. Die Wiege Deutschlands steht im Meerkamp.

      Quelle: www.spiegel.de // Walter Wüllenweber


      -------


      Stimmt ja alles. Der Königsweg wäre mehr Bildung, Bildung, und nochmals mehr Bildung. Nur, ein derartiges Unterfangen funktioniert nur, wenn die sogenannten "Unterschichtler" auch bildungswillig und-fähig sind. Und genau da habe ich meine Zweifel.

      Waren "Unterschichtler" denn nicht zu allen Zeiten in der selben Art-und-Weise ungebildet, wie sie der Stern-Autor in seinem Artikel beschreibt? Disziplinlos und in den Tag-hinein-lebend ohne an die Zukunft zu denken, nur mit dem Unterschied, dass sie früher ihrer spezifischen Alltagskultur weniger nachgehen konnten, weil sie a) Arbeit hatten und dieser Umstand auch zum Schichtethos gehörte, und B) weil sie arbeiten mussten, da es damals noch nicht diesen umfassenden Sozialstaat gab?

      Wenn alle in dem Viertel, wo man lebt arbeiten, dann fällt man als Arbeitsloser sozial auf. Wenn alle in dem Viertel, wo man lebt, von Harz4 leben, dann fällt man sozial auf, wenn man morgens um sechs Uhr das Haus verlässt um zur Arbeit zu gehen. Und eins ist doch klar. Niemand mag es gerne, wenn er auffällig in seinem sozialen Umfeld ist. Dann passt sich dann doch lieber an. Zum positiven, aber leider auch zum negativen hin. Das ist auch ein Problem.

      Und nun will man versuchen, aus dem Lumpenproletariat mit getunten BMW und 80 Zoll Plasmabreitbildschirmfernsehen ein biederes Mittelschichtsbürgertum zu schmieden, dass den Rest der Gesellschaft nicht mehr durch diverse Harz4-Sozialkosten auf der Tasche liegt. Na, dass man sich da mal wieder nicht gutmenschlich selbst täuscht und belügt. Ja, früher, da hatte es geklappt, mit dem sozialen Aufstieg von Menschen aus der Arbeitnehmerschaft hinein in die Mittel- und Oberschicht. Die sitzen aber nun alle in ihren schmucken Einfamilien- und Reihenhäusern und wollen nun mit ihren damaligen WeggenossInnen nichts mehr zu tun haben, die nicht den langen Marsch von Aldi und Lidl nach Edeka und Kaufland und von Deichmann und C&A nach Clarcs und Esprit geschafft haben. Der traurige Rest dieser Entwicklung verkehrt nun jetzt nur noch mit sich selbst, wird nicht durch Andere befruchtet, weder geistig noch materiell, noch genetisch, und zieht sich durch seine eigene Destruktivität selbstverstärkend immer weiter runter.

      Und dieses Phänomen gibt es nicht nur im Bezug von der Unterschicht zu dem anderen Gesellschaftsschichten, sondern auch im Bezug von Ostdeutschland zu Westdeutschland.

      ----

      Trading Spotlight

      Anzeige
      InnoCan Pharma
      0,1770EUR +0,85 %
      InnoCan Pharma: Wichtiges FDA-Update angekündigt!mehr zur Aktie »
      Avatar
      schrieb am 18.10.06 07:36:31
      Beitrag Nr. 6 ()
      wenn ich die politschen sprüche so höre, müsste jede familie aus der sogenannten unterschicht entmündigt werden und einen vormund bekommen.
      der würde dann entscheiden die brauchen
      eine staatlich bezahlte

      putzfrau,
      köchin,
      buchhalter
      usw


      kohle um normal zu leben kriegen die nämlich genug vom amt.
      Avatar
      schrieb am 18.10.06 17:36:56
      Beitrag Nr. 7 ()
      Antwort auf Beitrag Nr.: 24.694.003 von rohrberg am 18.10.06 07:36:31@Rohrberg

      Ja, was die Leute anscheinend brauchen ist ein Typ, der ihnen mit dem Zaunpfahl sagt, wo es lang gehen soll. Ich glaube, die sehnen sich richtig danach, an die Hand genommen und auf den richtigen Weg gebracht zu werden. Also zususagen eine starke Hand bzw., ja, wie du es schon sagtest, einen Vormund. Sie sind unselbstständig und lethargisch aus, Gott, mangelnden Selbstbewusstsein, Resignation, Bequemlichkeit, aus?....was weiß ich.

      Also, die Lösung wäre dann, schlußfolgernd, ein athletisch gebauter Sozialarbeiter vor jeder Wohnungstür im Assi-Ghetto, und wer anschließend nicht spurt, der kriegt gnadenlos die Stütze gestrichen........Aber setz' das erst mal politisch durch. :(


      ---
      Avatar
      schrieb am 18.10.06 17:48:16
      Beitrag Nr. 8 ()
      Gute Beiträge Harry.

      Ich glaube, dass aber mehr noch als die Mentalität der Leute (die fleißig Auto lackieren, Auto tunen, Auto putzen, Auto waschen Auto....) unser System Schuld hat.

      Was taten die Leute in der Kolchose (auch wenn sie fleißige Genies waren): Karten spielen, Rauchen, Saufen, ....
      Avatar
      schrieb am 18.10.06 20:51:45
      Beitrag Nr. 9 ()
      Da ist etwas dran ...
      Avatar
      schrieb am 18.10.06 23:27:51
      Beitrag Nr. 10 ()
      Das Problem sind nicht die Faulpelze und Drückeberger. Bei 6 Mio. Arbeitslosen und 50000 fehlenden Lehrstellen wird es nicht bleiben können. Macht eine Firma dicht, können die Malocher nicht wie vor 35 Jahren unter 50 Angeboten wählen, sondern in der Regel unter keines. Entweder man hat oder man hat nicht. Hat man dann aber nur 1 X. Das haben die meisten noch nicht verinnerlicht. Dazu kommt, dass fast alle Investitionen in Rationalisierungsmaßnahmen gehen. Das macht man nicht um die Belegschaft zu verdoppeln, sondern um sie zu halbieren.

      Tja Harry, ich befürchte, bei diesem Kamikazesystem wirst du deinen Schotter nicht mehr lange genießen können.
      Avatar
      schrieb am 19.10.06 00:14:41
      Beitrag Nr. 11 ()
      Antwort auf Beitrag Nr.: 24.705.672 von Harry_Schotter am 18.10.06 17:36:56
      Das alles kennen wir ja schon.

      Die fehlkonstruktion des bestehenden kann nicht durch die von 19.. , na du weißt schon, "verbessert" werden. Das falsche wird nicht alt.

      Und dein 'athlet' erreicht nichts, weil er nicht verhindern kann, daß weiterhin kollektiv gedacht und gehandelt wird.


      Beitrag zu dieser Diskussion schreiben


      Zu dieser Diskussion können keine Beiträge mehr verfasst werden, da der letzte Beitrag vor mehr als zwei Jahren verfasst wurde und die Diskussion daraufhin archiviert wurde.
      Bitte wenden Sie sich an feedback@wallstreet-online.de und erfragen Sie die Reaktivierung der Diskussion oder starten Sie
      hier
      eine neue Diskussion.
      Schicht in der Unterschicht! oder: Wem nützt die hochgekochte Debatte um die -neue soziale Frage-?