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    SKANDAL + WIE SICH ARBEITSLOSE WEHREN + - 500 Beiträge pro Seite

    eröffnet am 12.04.01 13:57:02 von
    neuester Beitrag 17.04.01 14:23:52 von
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      schrieb am 12.04.01 13:57:02
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      Eine Stütze fürs Leben

      "Kann nur morgens" - "Bin in Behandlung" - "Nicht unter 14 Mark": Wie sich Langzeitarbeitslose gegen Arbeit wehren und sogar Lohnzuschüssen widerstehen. Eine Entdeckungsreise nach Duisburg-Rheinhausen, wo einst der Kampf um Arbeit tobte

      Von Stefan Willeke


      Es ist Freitag in Duisburg-Rheinhausen, und in Duisburg-Rheinhausen ist Freitag ein fürchterlicher Tag für jemanden, der Arbeit zu vergeben hat. Freitag ist sogar noch ein bisschen schlimmer als Montag, obwohl Montag schon unerfreulich ist. Montag gilt manchem, der Arbeit aufzunehmen hat, als Ausklang des Wochenendes, Freitag als dessen Auftakt. Den verdirbt sich niemand gern. Wenn erst im Juni die Freibäder öffnen und die Baggerseen sich erwärmen, ist Freitag ein gänzlich hoffnungsloser Tag in Karl Joeres` Woche. "Dann kommt manchmal keiner." Karl Joeres tritt ans Fenster und schaut hinaus auf die Pfützen in der Straßendecke. "Glaub schon", sagt der Arbeitsvermittler, "dass heute noch einer kommt."

      Der kleine Zeiger der Wanduhr springt auf neun, und Joeres setzt sich an den Glastisch. Zwölf Hängeordner hat er darauf geschichtet, zwölf aus dem Aktenschrank mit 2000 Hängeordnern. Zwölf arbeitslosen Menschen aus Duisburg-Rheinhausen hat er Briefe geschrieben und sie geladen in sein Büro, weil er ihnen Jobs anbieten will. Termine hat er gesetzt, 8 Uhr, 8.30 Uhr, 9 Uhr und so weiter. Abgesagt hat niemand.

      Als die Glocke im Kirchturm vertraut anschlägt, ist es 9.30 Uhr. Vier von zwölf sollten bisher erschienen sein, vier von zwölf sind nicht erschienen. Hat er sich missverständlich ausgedrückt? "Verpflichtend", stand in den Schreiben. Da öffnet sich die Tür, und aus dem Vorzimmer singt eine Stimme: "Soll ich noch ein paar Käsebrötchen holen?" - "Ja, bitte", murmelt Joeres. Zehn Uhr, auch der fünfte Hängeordner wird heute nicht mehr gebraucht. Als die Tür eine halbe Stunde später aufgeht, hat Joeres die Brötchenkrümel von seinem dunkelgrauen Anzug gestrichen.

      "Herr Köster ist da!", ruft die Assistentin, Helmut Köster (Namen aller Arbeitslosen geändert), sechster Hängeordner von oben.

      "Schön, dass Sie pünktlich sind, Herr Köster", sagt Joeres. Der Mann in dem sandfarbenen Parka senkt den Kopf und nickt.

      "Nun, Herr Köster", sagt Joeres, und das Lächeln wird lange nicht weichen aus seinem Gesicht, "wir haben Ihnen mehrere Stellen angeboten, bitte, sagen Sie mir: Warum haben Sie keine davon angenommen?"

      "Ich arbeite nicht für 13 Mark die Stunde und auch nicht für Zeitfirmen. Das sind Sklaventreiber."

      "Woher wollen Sie das wissen? Sie haben doch keine Stelle angetreten."

      "Ich weiß das."

      Joeres blättert in der Akte. Helmut Köster. 49 Jahre, 1300 Mark Arbeitslosengeld, vor vielen Jahren mal Maschinenführer, "lange in Indien", Pflegeschüler in einer Klinik, bei einer Sektion umgekippt und deswegen "zwei Jahre unter Schock", danach bei einem Bootsbauer, aber allergisch gegen Lacke und Kunstharze.

      "Herr Köster, wie ich hier sehe, hätten Sie vor zwei Wochen bei einer Firma anfangen können. Sie sind nicht hingegangen. Was war los?"

      "Die wollten, dass ich zum 15. anfange. Aber ich musste zu Hause noch zwei Zimmer renovieren."

      "Sie müssen eine Stelle annehmen."

      "Bringt doch nichts, wenn ich morgens aufstehe und sage: Scheißarbeit. Ich lasse mich nicht jagen, nur weil ich keine Arbeit habe."

      Helmut Köster nimmt die Zettel mit den neuen Stellenangeboten und steht auf. Als er an der Tür ist, hört er den Satz: "Wir werden darauf achten, was aus diesen Angeboten wird."

      Karl Joeres ist kein gewöhnlicher Arbeitsvermittler, keine Amtsperson. Er ist Geschäftsführer einer Personal- und Unternehmensberatung namens Media Forum, die im Auftrag des Duisburger Arbeitsamtes die so genannten Problemfälle in Jobs bringen soll. "Niedrigqualifizierte", oft Leute mit abgebrochener Lehre, "schwer Vermittelbare", solche, die immer wieder was anfangen und immer wieder hinwerfen, solche, über die Joeres in Ämtern den Satz hörte: Diesen Sack machen wir nicht mehr auf. 3600 Arbeitslose haben beim Arbeitsamt Rheinhausen seit über einem Jahr eine "Kundennummer". Langzeitarbeitslose. Ihr Anteil an allen Arbeitslosen liegt bei 35 Prozent, genau wie im bundesweiten Schnitt. Auch wenn man die irreführenden Fälle herausfischt, etwa die älterer Arbeitsloser kurz vor der Rente: Die größte und schwierigste Gruppe bleiben les misérables, wie Joeres sie nennt. Arbeitslose, 20 bis 50 Jahre alt, die prinzipiell jeden Job annehmen müssten, für die nach der Definition der Arbeitsverwaltung selbst die stumpfsinnigste Tätigkeit "zumutbar" ist, vorausgesetzt, der Stundenlohn liegt bei 12,50 Mark. Brutto.

      Kann man für diese Leute überhaupt etwas tun, noch dazu in Rheinhausen, fragte sich Karl Joeres damals, im September 1998, als seine Beratungsfirma engagiert wurde. Rheinhausen, das deutsche Symbol für einen glühenden Arbeitskampf, der verloren ging. Symbol für eine kleine Stadt, die auf ewig ein großes Stahlwerk sein wollte. War nicht alles verloren, nachdem Krupp Rheinhausen 1993 verlassen hatte?

      "Unsere größte Überraschung war, dass wir genügend Jobs gefunden haben, gerade für Ungelernte", sagt Joeres. Packer in Lagern sind gesucht, in Deutschland, in Duisburg, auch in Rheinhausen, Fensterputzer, Verkäufer in Imbissbuden, Gabelstaplerfahrer, Kellner, Helfer in der Produktion. Viele Leute, Tausende. Karl Joeres, 55 Jahre alt, hat es erst nicht glauben wollen. Eine Menge hat er nicht glauben wollen und "mehr gelernt in diesen zweieinhalb Jahren als in den vielen Berufsjahren zuvor". Von Unternehmern kannte er den abgedroschenen Spruch, dass Arbeitslose gar nicht arbeiten wollen. Stammtischgeschwätz, dachte er, üble Legenden. Heute sagt er: "Die meisten Arbeitslosen, die zu uns gekommen sind, hätten unter mehreren Stellen wählen können, wenn sie denn gewollt hätten." Es gibt kein Recht auf Faulheit, verkündet Kanzler Schröder. Joeres formuliert es so: "Das Subventionssystem des Staates verführt dazu, sich auszuruhen." Karl Joeres sieht nicht glücklich aus, wenn er so spricht, und es drängt ihn, etwas nachzureichen, sich auszuweisen durch ein politisches Gewissen: Bin keiner von denen, die Arbeitslose verunglimpfen, habe mein Leben lang die Grünen gewählt, war nie ein Freund des amerikanischen Systems. Jedoch, sein Bild von der Welt, es sei ins Wanken geraten, seit Rheinhausen hinzugekommen ist.

      Das Arbeitsamt wollte einen wie ihn und keinesfalls eine Sozialarbeiter-Initiative. Lieber einen Unternehmensberater, weil so einem genügend Verständnis für Arbeitgeber unterstellt wurde - und genügend Unverständnis für unwillige Arbeitslose. Aber auch da verträgt sich die Wirklichkeit schlecht mit dem Vorsatz. Denn so oft sich Joeres bei dem Gedanken ertappt: Sollen sie endlich arbeiten, die Hunde - so oft denkt er: Vermutlich hat jeder von ihnen gute Gründe, es nicht zu tun.

      "Herr Rogowski ist da."

      Karl Joeres greift nach dem Hängeordner. Früher Bratschist, geboren in Danzig, 32 Jahre alt, bis vor anderthalb Jahren Helfer in einer Schreinerei, den Job hingeworfen. "Herr Rogowski, wie kommen wir weiter?"

      "Glaube, ich brauche Umschulung."

      "Umschulung zu was?"

      "Ich denke, Tourismus. Muss aber besser Deutsch haben."

      "Ich finde, Sie sprechen gut Deutsch."

      Rogowski lächelt verlegen.

      "Sie haben mal Möbel renoviert in einer Schreinerei. Wäre das nicht wieder was für Sie?"

      "Nein. Nein. Stauballergie habe ich. Und Bluthochdruck, Stress."

      "Vielleicht fällt der Blutdruck, wenn Sie Arbeit aufnehmen."

      "Will nicht putzen Fenster bis Leben Ende. Oder Schreiner." Stille. "Bin Musiker."

      "Ja, das stimmt", Joeres durchsucht die Akte. "Sie hatten Vorstellungsgespräche bei Firmen. Warum haben die Sie nicht eingestellt?"

      "Ich habe gesagt: Stauballergie. Da war aus."

      So geht das hin und her, bis Joeres sagt: "Herr Rogowski, ich gebe Ihnen jetzt die Adresse einer Künstleragentur. Wenn es auch dort nicht klappt, sollte man tatsächlich an eine Umschulung denken." Als die Tür sich geschlossen hat, sagt Joeres: "Viele, die hier hereinkommen, überschätzen ihren Marktwert maßlos. Aber natürlich, für jeden stellt sich die Frage der Ehre. Soll ich diesen Bratschisten unbedingt in eine Schreinerei zwingen, wenn er sich dort die Hände ruiniert? Müsste ich das tun, weil er seit anderthalb Jahren keine Arbeit aufnimmt?" Vielleicht ja, vielleicht nein. Tausend arbeitslose Menschen sind tausend verschiedene Menschen mit tausend verschiedenen Biografien.

      Beratungstag im Arbeitsamt. Die Kunden mit den Nummern 0583251 bis 0721793 grüßen nicht, als sie hereinkommen. Ein Raum wie ein Gebrauchsmuster, akkurat gestanzt, cremefarben vom Teppich bis zur Tapete. Herr Jetten, der Berater vom Amt, nickt aufmunternd herüber. Die Frauen tuscheln, die Männer starren ins Leere. 31 Menschen, aufgeteilt in Gruppen, sind angewiesen, "der Meldeaufforderung nachzukommen". Was nun folgen wird, heißt "Motivationsgespräch", und es meint: unter diesen Leuten, lange ohne Arbeit, die Ungeeigneten herausfiltern, Alkoholiker, Drogensüchtige, Schwerkranke. Damit gleich am Montag, in Kursen bei Karl Joeres` Media Forum, eine Woche lang die Geeigneten trainieren können. Trainieren müssen. Arbeiten trainieren.

      "Zwei, drei Minuten warten wir noch", Herr Jetten tippelt ans Fenster. Nieselregen, kalt und grau. "Grippewetter, kann sein, dass sich welche krankmelden." Dann beginnt sein Referat, höflich in der Form. "Sinn der Maßnahme, die am Montag beginnt, ist die Arbeitsaufnahme." Kein Knistern, kein Räuspern, nichts. "Es gibt einen Clou an der Geschichte. Wir nennen das Plus-Lohn. Wir fördern Sie, finanziell. Wenn Sie Arbeit aufnehmen, und Ihr neuer Nettoverdienst liegt unter Ihrem früheren, zahlen wir den Unterschied dazu. Ein Jahr lang. Jeden Monat bis zu 500 Mark", kurze Betonungspause, "netto." Die Präsentation für ein Produkt, das sich Arbeit nennt, nähert sich dem Höhepunkt. "Das alles bis zu einer Obergrenze von 2500 netto. Und", als müsse noch eine Treueprämie ausgelobt werden, "sollten Sie später wieder arbeitslos werden, geht Ihnen nichts verloren. Der Plus-Lohn wird bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes einbezogen." Ausatmen. Warten auf die Reaktion des Publikums. Der Arbeitsberater sucht in den Gesichtern, sucht nach Überraschung, Freude vielleicht, Fragen, zumindest Fragen. Aber er findet nichts. Nichts, was nicht schon vorher da war. Hat jemand vielleicht eine Frage zu Plus-Lohn? Er wartet. Niemand.

      Dann geht er los mit einem Haufen Papier, spricht einzeln mit den Leuten. Ein Mann im Trainingsanzug gibt zu Protokoll: "Ich darf nicht lange sitzen, bin in Behandlung." Einer mit Lammfelljacke klagt über "ein Problem mit den Augen. Sobald ich Arbeit aufnehme, kann es sein, dass ich zum Arzt muss." Eine Türkin will "nur frühmorgens" arbeiten, weil ihr Mann, Rentner schon, sie gerne bei sich hat, wenn er aufsteht. Ein Mann mit Bürstenschnitt will eine Teilzeitstelle, "na ja, weil sonst der Hund zu lange allein zu Hause ist". So geht das einen verregneten Morgen lang, und doch ist die Bilanz ziemlich gut. 31 Arbeitslose eingeladen, 24 gekommen, 17 angemeldet zum Training. Oben, im siebten Stock des Amtes, spricht der Direktor gerade über sanften Druck und über starken. Auch wenn, natürlich, für Arbeitslose das Versicherungsprinzip gelte, so sei die Wahrheit einen Satz länger: Jede Versicherung zwinge den Versicherten, den Schaden gering zu halten.

      "Herr Joeres, Frau Baumann ist da."

      Anke Baumann, 20 Jahre alt, früher Putzfrau in einem Kinocenter, stellt eine halb volle Flasche Orangensaft auf den Tisch.

      "Ah, Frau Baumann", sagt Joeres, "immer noch nichts gefunden?"

      Sie zuckt mit den Achseln.

      Karl Joeres zählt maschinenbeschriebene Blätter. "Acht. Acht Angebote für Sie habe ich hier. Wie wär`s zum Beispiel mit Küchenhilfe?"

      "Weiß nicht."

      "Salatwaschen, steht hier. Geht das?"

      "Alles nur Küche? Ist nicht mein Ding. Lieber was Handwerkliches."

      "Rufen Sie die Firmen bitte heute noch an. Sie können von hier aus anrufen."

      "Nee, ich mach das schon. Von zu Hause."

      "Ich melde mich nächste Woche und frage, was daraus geworden ist."

      Anke Baumann reicht ihm die Hand, und als sie gegangen ist, sagt Joeres: "Hier bekommt jeder eine Reihe Chancen, bevor es ernst wird." Fünf, sechs, vielleicht ein Dutzend Chancen, aber nicht hundert. Die Zeiten sind ein bisschen härter geworden.

      Montagmorgen, der Regen lässt noch immer nicht nach, als das Training in einem evangelischen Gemeindehaus beginnt. Der Trainer nennt sich Dozent und schreibt seinen Namen ans Clip-Board. Ralf Hermanns, 38 Jahre, erfahren in Fortbildungen für Erwachsene. Neun Arbeitslose hören ihm zu, neun der ausgesuchten Geeigneten. Hermanns Plan: Das Publikum erst desillusionieren über seinen Wert auf dem Arbeitsmarkt. Danach lässt es sich leichter motivieren, angebotene Stellen anzutreten. So weit die Theorie. Die Praxis geht so: "Hier findet", leitet Hermanns ein, "eine Arbeitswoche statt." - "Kriegen wir die dann auch extra bezahlt?", fragt eine arbeitslose Putzfrau.

      Hermanns lacht, nur kurz jedoch. "Wer krank wird, reicht bitte eine so genannte Schulunfähigkeitsbescheinigung rein, keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung." Das zu erwähnen, gleich zu Beginn, ist ihm wichtig. Einige Arbeitslose klappern die Ärzte ab, um sich krankschreiben zu lassen, lernen rasch zu unterscheiden, nach sehr speziellen Kriterien, zwischen guten und schlechten Medizinern. Jeder Zweite, der nicht zur Trainingswoche erscheint, meldet sich krank.

      "Wie viel", fragt Hermanns einen ehemaligen Bergmann aus der Türkei, "wie viel Arbeitslosengeld zahlt man in Ihrer Heimat?" - "52 Mark im Monat, glaube ich." Der Dozent spricht nun lange über andere Länder, in denen Arbeitslosigkeit als Schicksal der Betroffenen behandelt werde, bevor er sagt: "Hier ist das anders, und dennoch wird nicht alles geduldet." - "Dann Sperre", ruft der arbeitslose Wachmann. Richtig, sagt Hermanns, die Zahl der Sperrzeiten in Nordrhein-Westfalen sei binnen Jahresfrist um 40 Prozent gestiegen. Das liegt auch an Leuten wie Hermanns. Seit Media Forum nach Duisburg geholt wurde, ist 63 Arbeitslosen - weit mehr als zuvor - das Geld vom Amt gestrichen worden, weil sie ohne triftigen Grund Stellenangebote ausschlugen. Es wäre viel öfter so gekommen, wenn die Vermittler in den Ämtern nicht fürchten müssten, dass sie bedroht und geschlagen werden, sobald sie eine Sperre verhängen, und dass Sozialgerichte die Sperrzeiten später wieder aufheben.

      "Raucherpause!", ruft der Dozent nach zwei Stunden Clip-Board, und der arbeitslose Reifenmonteur fühlt leise vor, ob er eher heimkehren dürfe, weil bei ihm ein Handwerker einen Durchlauferhitzer anbringen wolle. Ausnahmsweise. Ungern. Die Teilnehmer sollen zurückfinden in ein geregeltes Leben. Kursbeginn um acht, Feierabend um vier, dazwischen acht Stunden Beschäftigung. Dazu eine erwünschte Nebenwirkung: Wer es bis zum Nachmittag in einem Gemeindehaus aushält, kann während dieser Zeit nicht schwarzarbeiten.

      Als die zweite Trainingseinheit beginnt, verblüfft der Dozent mit einer schlichten Bemerkung: "Sie haben, meine Damen und Herren, fast vier Millionen Konkurrenten." - "Konkurrenten?", fragt einer. "Ja, um einen Job." So eigenartig hat das noch niemand ausgedrückt.

      Nicht mehr lange wird es dauern, bis Ralf Hermanns Stellenangebote verteilt. Vier von neun werden bis Ende der Woche einen Arbeitsvertrag unterschreiben, zwei weitere später, vielleicht. Ralf Hermanns wird von einem guten Kurs sprechen, wird sich später erinnern an ein paar glückliche Menschen, die ihn umarmten, weil er ihnen Arbeit gab. Dass Dozenten, die dasselbe vorhatten, mit Prügel rechnen mussten, wird die Erinnerung nicht trüben; dass Dozenten aufgaben, seelisch verwundet vom pausenlosen Kampf gegen Apathie und Verweigerung; dass Dozenten aus Rheinhausen flüchteten, um nie wieder einen Arbeitslosen zu sehen - all das wird für ihn am Freitagabend bedeutungslos sein. Zu kostbar ist dieser Moment, zu selten, als dass er ihn verschenken wollte.

      "Jetzt ist Frau Heger gekommen."

      34 Jahre alt, liest Karl Joeres im Hängeordner, ehemals Verkäuferin. "Nach unseren Unterlagen sollten Sie längst wieder arbeiten. Tun Sie das?"

      Karin Heger zögert. "Nein."

      "Bestückerinnen wurden doch gesucht, von einem Personalservice. Warum haben Sie den Arbeitsvertrag nicht unterschrieben?"

      "Weiß nicht. Ist wohl was schief gegangen bei denen."

      "Mit wem haben Sie gesprochen? Den rufen wir gleich an. Gleich hier."

      "Die haben gesagt: 13 Mark die Stunde. Ich habe gesagt: Nicht unter 14. Darunter nicht."

      "Sie kennen doch Plus-Lohn. Wir zahlen etwa fünf Mark brutto pro Stunde dazu." Er tippt Zahlen in den Taschenrechner. "Mit Plus-Lohn bekämen Sie 2250 Mark ausgezahlt."

      Karin Heger schüttelt den Kopf. "Vorher hatte ich mehr: 2458."

      "Das ist unser letzter Versuch. Sie müssen eine Stelle annehmen. Melden Sie sich übermorgen wieder."

      "Mein Nachbar ist auch arbeitslos", sagt sie, "viel länger als ich." Karin Heger lächelt.

      "Sie lächeln. Warum lächeln Sie? Hat Ihr Nachbar immer Geld vom Arbeitsamt bekommen?"

      "Mm."

      "Tschüs, Frau Heger." Und noch etwas bekommt sie mit auf den Heimweg: "Sie sind eine junge Frau. Sie können was erreichen. Sie werden sich doch wünschen, dass Ihre Kinder zu Ihnen aufblicken." Als Karin Heger die Tür ins Schloss gezogen hat, sagt Joeres: "Ich rede mit Erwachsenen in einem altväterlichen Ton, den sich nicht mal meine eigenen Kinder gefallen ließen. Aber es geht nicht anders."

      Arbeitslose, Langzeitarbeitslose. Ist noch etwas übrig vom Denkmal Rheinhausen, dem Denkmal der Arbeit? Die Antwort muss warten. Verspätet hat sich der Chef des Büros in der Friedrich-Alfred-Straße, schräg gegenüber Tor 1, ehemals Krupp. An der Pinnwand eine Karte von Duisburg. Im Westen mausgrau das Hüttendorf, das sich der Welt widersetzte im frostigen Winter 87/88.

      Auf dem alten Schwarzweißbild, das da im Büro hängt, steckt der Chef noch in einer abgewetzten Lederjacke mit hohem Kragen, das Haar lang und zottelig. Mit Arbeitern, die Helme tragen, steht er auf einer Brücke, die später Brücke der Solidarität heißen wird. Von ihr hat er ein Farbfoto aufbewahrt, die Brücke bei untergehender Sonne, menschenleer. Der Chef, Theo Steegmann, einst einer der wortführenden Helden von Rheinhausen. Stellvertretender Vorsitzender des Krupp-Betriebsrats, damals, heute Geschäftsführer. Dazu befördert vor sechs Jahren, als es endgültig aus war mit Krupp, Abteilung Rheinhausen. Seither steht er an der Spitze der Qualifizierungsfirma RHS, um Rheinhausenern ohne Job einen zu verschaffen.

      Theo Steegmann trägt noch immer eine Lederjacke, eine modische nun mit kleinem Kragen, das Haar ist noch immer zottelig, wenn auch viel kürzer, einen Telefonhörer packt er noch immer wie einen Vorschlaghammer, noch immer schreit er in den Hörer, als müsse er sich durchsetzen gegen einen kreischenden Kran - und dennoch: Viel hat sich verändert. So viel Widersprüchliches ist entstanden, dass Theo Steegmann Mühe hat, die Bilder in seinem Kopf ebenso liebevoll zu ordnen wie die an seiner Pinnwand. Er sagt: "Anfangs dachte ich, Arbeitslose, das sind alles arme Schweine. Jetzt sehe ich das differenzierter."

      Anfangs, das war, als seine Firma neben vielen Langzeitarbeitslosen ohne Krupp-Siegel auch einige ehemalige Kruppianer auffangen musste. Dass die einstigen Krupp-Arbeiter in den Betriebsrat der neuen Beschäftigungsfirma gewählt wurden, verstand sich von selbst. Von dort hörte Steegmann drastische Worte, als einige Arbeitslose nicht mehr zur Arbeit erschienen: "Schmeiß die raus, Theo. Wer dreimal unentschuldigt fehlt, dem wird gekündigt." Steegmann zauderte. "Wir Kruppianer haben immer gegen drohende Arbeitslosigkeit gekämpft, und dann so was." Inzwischen hat Steegmann etwa 2000 Arbeitslose beschäftigt und einige von ihnen rausgeschmissen.

      Die Rheinhausener Arbeitslosenquote ist von ehemals 15 auf heute 11 Prozent gefallen. Drei Prozentpunkte weniger als im Duisburger Durchschnitt. Was ein erfreuliches Signal wäre, wenn diese Quote tatsächlich mehr Beschäftigte ausdrückte statt mehr Krupp-Rentner. Und wenn man übersähe, wie breit der beständige "Bodensatz" ist, von dem Steegmann spricht. Arbeitslose, "von denen die meisten niemals die Probezeit überstehen würden da draußen". Deshalb werden sie da drinnen beschäftigt, als ABM-Kräfte bei RHS. Drinnen reißen sie Hallen nieder, die Krupp errichtete, oder entfernen Asbest. Manchmal werden einige nach draußen geschickt, zum Betriebspraktikum, landen später aber wieder drinnen, wo weniger gefordert wird, aber besser gezahlt. 2700 Mark brutto, plus Zulagen aus dem Europäischen Sozialfonds, sind netto mehr, als ein Handlanger in einem Lager verdienen kann, in Deutschland, in Duisburg, auch in Rheinhausen.

      Das Szenario von Alfried Krupps Totenstadt ist nach der Schließung des Stahlwerks bloß ein Szenario geblieben. Wer bei Krupp war, fiel weich. In die Sozialpläne, für viele ein sicheres Netz bis zur Rente, gelangten sogar 52-Jährige, und die Jüngeren wurden oft versetzt. Es sind nicht die alten Kruppianer, die Steegmann irre machen, "richtig irre". Es sind ihre Söhne und Töchter. "Die keine Bedürfnisse haben, keine Träume, auf dem Balkon Urlaub machen, sich eingerichtet haben mit dem Arbeitslosengeld."

      Unter den Arbeitslosen in seiner Firma hat Steegmann drei Gruppen ausgemacht. Erstens "die mit massiven Defiziten". Analphabeten, vereinsamte Menschen, Säufer, heillos Verschuldete, Neurotiker, Psychotiker, "alles dabei". Zweitens "die Cleveren". Die Geld vom Staat einstreichen, jedoch nebenbei oder hauptsächlich schwarzarbeiten. Drittens "die Qualifizierten". Die etwas können, es aber nicht hergeben, weil sie nicht schuften für 13 Mark.

      Theo Steegmann hat darüber mit seiner Schwester telefoniert, auch sie verwurzelt im Jahr 68, heute Sozialarbeiterin, allerdings sehr weit im Westen, in Brooklyn, USA. Dass Bill Clinton beschloss, den Bezug von Sozialhilfe auf fünf Jahre im Leben zu beschränken, begrüßte die Schwester. Völlig richtig. So sprach sie, und Theo Steegmann, Geschäftsführer, ehemals Arbeiterführer, hörte irritiert zu. "Das deutsche Sozialsystem", er sieht das jetzt neu, 2000 Arbeitslose später, "das System macht es einigen Leuten zu leicht."

      Was also tun? Diejenigen härter bestrafen, die zumutbare Arbeit ablehnen, meint Steegmann, Sperrzeiten, so ist das Gesetz. Sperrzeiten, gewiss, die spürt vor allem ein Alleinstehender, der statt des Geldes vom Arbeitsamt nur noch knapp 1200 Mark Existenzminimum vom Sozialamt holt. Doch eine Sperrzeit kann, zum Beispiel, den unwilligen Vater einer vierköpfigen Familie kaum schrecken. Weil sein Arbeitslosengeld als Kleinverdiener unter dem Existenzminimum von fast 2900 Mark blieb, hat das Sozialamt seit jeher bis dahin aufgestockt. Bei einer Sperre ärgert sich nur der städtische Kämmerer, denn nun kommt ein Teil des Geldes nicht mehr aus Nürnberg, sondern das Sozialamt zahlt alles allein.

      Was also tun? Weniger als das Existenzminimum auszahlen, zur Strafe, wie Bayerns Ministerpräsident Stoiber jetzt fordert? Nein, das nicht, meint Steegmann. Was würde, fragt er, geschehen mit jenem Familienvater, wenn man ihm etwas wegnähme von den 2900 Mark? So entschieden ist er nun, dass er auf seine Fragen prompt selbst antwortet. "Man darf doch nicht riskieren, dass dieser Typ dann seinen Kindern keine Schulhefte mehr kauft oder sie hungern lässt." Oder wäre es der Gesellschaft das wert? Was, wenn das Schlimme manchmal nur um den Preis auszutreiben wäre, dass alles noch schlimmer würde?

      "Herr Gülsün, bitte."

      Mehmet Gülsün, 24 Jahre alt, abgebrochene Lehre zum Industriemechaniker. Er trägt ein kariertes Jackett zur dunklen Anzughose.

      "Sie sind ja schick angezogen", staunt Joeres.

      "Ich seh immer so aus."

      "Herr Gülsün, warum nehmen Sie nicht eine der vielen Stellen an, die wir vorgeschlagen haben?"

      "Ich will ja arbeiten. Ich habe drei Kinder und brauche 2000 Mark netto, mindestens."

      "Das kriegen wir hin. Was können Sie arbeiten?"

      "Egal. Aber in einer Firma, in der ich bleiben kann bis zur Rente."

      "Bis zur Rente. Und wenn das nicht geht?"

      "Dann Detektiv, im Kaufhaus oder so."

      "Wirklich? Das kann ich mir bei Ihnen gut vorstellen. Das sollte zu machen sein, so elegant, wie Sie aussehen. Von Detektiven wird allerdings oft ein einwandfreies Führungszeugnis verlangt. Kein Problem, oder?"

      Mehmet Gülsün schmunzelt.

      "Sind Sie vorbestraft, Herr Gülsün?"

      "Bisschen nur."

      "Was haben Sie gemacht?"

      "Nur Körperverletzung."

      Es gab eine Zeit in Duisburg-Rheinhausen, da wurden aus Lohnempfängern Helden, besungen, bejubelt, beschworen von Tausenden, die auf einer Brücke die Hände wärmten an Tonnen mit glühendem Koks. Und wenn man sie heute reden hört, die einstigen Helden der Brücke, kann man sich schlecht vorstellen, dass sie je Helden geworden wären, wenn sie schon damals so geredet hätten. Auf Helmut Laakmann trifft das besonders zu.

      Wenige Minuten sprach der Leiter des Stahlwerks Rheinhausen, am 30. November 1987, ein Spezialist für flüssiges Eisen, umringt von 10 000 grimmigen Arbeitern - seine erste Rede vor so vielen, fassungslos beäugt von Krupp-Vorständen neben ihm. Und als er fertig war mit den Tiraden gegen die "Mafia-Clique" oben im eigenen Konzern, da zogen die Menschen auf die Brücke und feierten ein neues Lebensgefühl, das sie von nun an Widerstand nannten.

      Helmut Laakmann, noch immer Mitglied der IG Metall, gehört inzwischen eine Firma, in der 15 Arbeiter Stoffe recyceln. Laakmann hat neue Erfahrungen gemacht, die man auch Widerstand nennen könnte, aber weil es sich um Erfahrungen mit rund 150 schwer vermittelbaren Arbeitslosen handelt, kommt Laakmann dieser Begriff nicht in den Sinn. Alte und neue Wahrheiten sind nicht so leicht miteinander abzugleichen in Rheinhausen.

      Laakmann erinnert sich an ein Gespräch, es war 1997, mit Theo Steegmann, von Geschäftsführer, ehemals Arbeiterführer, zu Geschäftsführer, ehemals Aufrührer. Schick mir die Crème de la Crème deiner Jungs, bat Laakmann den Freund von der ABM-Gesellschaft, zwei Stellen sind hier zu besetzen. Es kamen fünf Leute, und Laakmann dachte: "O Gott, wie soll ich drei von denen absagen?" Doch diese Frage erledigte sich schnell, denn schon nach vier Tagen erschien nur noch einer. Oft endete es so, wenn ABM-Leute in Laakmanns Halle auftauchten. So wütend war er zwischendurch, dass er keine mehr sehen wollte.

      Bei Krupp konnte auch aus solchen Menschen etwas werden, die anfangs nichts oder fast nichts konnten. Jungarbeiter wurden sie genannt. Junge Leute, die nur die Sonderschule besucht hatten oder die Hauptschule ohne Abschluss, begannen bei Krupp eine kurze Ausbildung zu Teilezurichtern, sägten Metall und bohrten als Handlanger für die Schlosser. Wer auch diese Lehre nicht schaffte, wurde als Bote eingesetzt und später, mit 18, in der Produktion. Die Nachtschicht wurde gut bezahlt, 3000 Mark Nettolohn waren drin, eine Familie zu gründen war plötzlich denkbar.

      Die Zeit der Teilezurichter ist abgelaufen in Rheinhausen, und eine Lehre abzubrechen bedeutet heute, sein Leben nicht zu beginnen, Kind zu bleiben, jedoch die Sanktionen zu spüren wie ein Erwachsener. Man muss, wie Laakmann sagen würde, das Leben in die eigenen Hände nehmen, und wer das nicht kann oder nicht zu können glaubt oder nicht will, der krallt sich fest im Auffangnetz.

      "Herr Bartels ist gekommen."

      Bevor Karl Joeres die Akte aufschlagen kann, platzt es aus dem 34-Jährigen heraus: "Geben Sie mir einen Job als Ver- und Entsorger, dann sehen Sie mich nie wieder."

      Kai Bartels, seit vier Jahren arbeitslos, früher Möbelbauer, dann Umschulung zum Abfallentsorger, "lehnt Zeitarbeit aus politisch-soziologischen Gründen ab", hat ein Unternehmen dem Amt geschrieben.

      "Herr Bartels, ich kann Ihnen keine Arbeit bei der Müllabfuhr vermitteln. Ich habe andere Angebote."

      "Die haben mich verarscht beim Arbeitsamt. Zwei Jahre Umschulung, Quali für Sondermüll, Quali für Schadstoffe, jetzt kann ich mir mit den Qualis den Hintern abwischen."

      "Wie wär`s mit Lagerhelfer?"

      "Darf ich nicht. Hab ein Attest, keine Überkopfarbeit. Ich war früher Langstreckenläufer, mein Rücken ist kaputt."

      "Fischgroßhandel im Hafen?"

      "Darf ich auch nicht. Wenn Sie mir aber was als Ver- und Entsorger beschaffen, versuche ich, das Attest zu kaschieren." Er redet hastig, doch geordnet und bestimmt.

      "Herr Bartels, Sie sind zu lange arbeitslos, als dass Sie sich auf den Entsorger festlegen könnten."

      "Dann irgendeine andere gute Firma."

      "So was wie Krupp etwa?"

      Bartels strahlt, als sei ihm die Offenbarung verkündet worden. "Ja, Krupp, das wär was."

      "Krupp hat doch Rheinhausen im Stich gelassen, oder nicht? Finden Sie Krupp wirklich besser als Zeitarbeitsfirmen?"

      Kai Bartels antwortet nicht. Er fingert ein paar Stellenangebote aus dem Stapel, unterschreibt auf der Anwesenheitsliste und geht.

      Weil es viele wie Kai Bartels gibt, die widerwillig bei einer Firma anfangen und rasch wieder aufhören, pflegt Karl Joeres die Personalleiter. Manchmal kauft er einen edlen Rotwein und lässt ihn als Geschenk verpacken, als Trostpflaster für die Chefs. Er hört geduldig hin, obwohl er die traurigen Geschichten der Unternehmer längst kennt. Die von den Weckern, die an ehemalige Arbeitslose ausgeteilt werden, auch die von den Kleinbussen, die frühmorgens bei jedem Einzelnen vorfahren, damit ja niemand sich verspätet. Nach motivierten Leuten fragen sie alle, und wenn er darauf die erhoffte Antwort gibt, "Ja, ja, von denen habe ich viele", dann muss Karl Joeres lügen.

      Das Geld vom Arbeitsamt für ein paar Monate einzufrieren zeige Wirkung bei manchem. "Doch vielen kann ich nur ein bisschen Angst machen", sagt Joeres. Diejenigen, die keine Angst bekommen sollen, weil zu viel davon in ihnen nistet, schickt er zum Psychologen seines Teams. Der soll, Sitzung um Sitzung, nach Motiven dafür graben, warum einer stets scheitert. Man kann nicht behaupten, dass Joeres und seine Kollegen sich keine Mühe gäben. Er erlebt überraschende Wendungen scheinbar hoffnungsloser Kandidaten. Die doch noch einen Job annehmen, obwohl sie weniger Geld verdienen, als sie vorher vom Amt bekamen. Seltene Fälle. Karl Joeres kennt die hohe Zahl der gescheiterten Versuche, aber er sieht hinweg über die nackten Zahlen. "Ich rette mich, indem ich mich zwinge, immer nur Einzelschicksale zu sehen."

      Hundert Jahre Industriegeschichte sind Schlamm geworden in Rheinhausen. Durchweicht vom Regen, 265 Hektar, massiert von Baggern, glatt gerieben von Raupen, zurechtgemacht für die neue Dienstleistungsgesellschaft Rheinhausen. Hier soll ihre Mitte sein, hier, am linken Ufer des Rheins, der sich windet wie ein Aal, sobald er Rheinhausen erblickt. Hier, wo kaum etwas übrig ist von Krupp, die Kokerei noch, dunkel drohend am Horizont, und die ehemaligen Villen der ehemaligen Direktoren. Dennoch, ja gerade deswegen ist Helmut Zekorn guten Mutes, als sein Blick über die braune Wüste fliegt. Was er jetzt hier erkennt, der Erfinder des Plus-Lohns vom Arbeitsamt Rheinhausen, sieht ihm aus wie "gesunde Strukturen". Ungleich vielfältiger als die kranken, an denen der Patient Krupp zugrunde ging. Gigantische Quader aus seidig schimmerndem Blech ragen aus dem Matsch empor, ein bisschen verloren noch, doch vermehren sollen sie sich, schnell, sehr schnell. CM-Eurologistic, von der Süderelbe, ist schon da, New Ware Logistics, aus Japan zugereist. Auf mehrere tausend Arbeitsplätze hofft Helmut Zehorn, zig Jobs in gewaltigen Speditionen, Hochregallagern, Logistikbetrieben. Auch die Zeitarbeitsfirma Kühne & Nagel legt bald los in der Brache von Rheinhausen, die es zu kaufen oder zu mieten gibt unter einem kühlen und unverdächtigen Namen, der in die Welt passt: Logport.

      Ein Name für die Hoffnung. Trotzdem hat Zekorn ein Problem. Die gesunden Strukturen kommen mit niedrigen Löhnen. Die gut bezahlten Arbeitsplätze, die in der Industrie wegfielen, lassen sich kaum ersetzen durch gleich gut bezahlte Arbeitsplätze in anderen Branchen. Selbst die verbliebenen Stahlwerke in Duisburg, die am Ufer gegenüber grellweiße Schwaden in den Himmel blasen, stellen kaum noch Arbeiter ein, wenn sie welche brauchen. Zeitarbeiter werden geheuert, zur Abdeckung der Konjunkturspitzen, wie das heißt.

      Immerhin bleibt Arbeit, selbst für Ungelernte. Service, sagt Zekorn, das sei die Zukunft. Wie viele von denen, die bei ihm seit langem eine Kundennummer haben, wohl anfangen werden in einem der glitzernden Quader, für 15 Mark oder 17? Helmut Zekorn kräuselt die Stirn. Jedes Jahr sucht er unter den 31 000 Arbeitslosen in Duisburg zwölf Menschen, die sich umschulen lassen zu Gebäudereinigern. Zwölf hat er noch nie gefunden.

      "Herr Gösing ist da."

      Fritz Gösing, seit 14 Monaten arbeitslos, ein vertrauter Fall. "Herr Gösing, ich möchte wissen, was Sie unternommen haben."

      "Ich musste ans Band und dann nur Mittagsschicht. Hat mein Kreuz nicht mitgemacht. Bin ich zum Arzt, da haben die mich rausgeworfen." Er lächelt.

      "Das ist nicht lustig."

      Fritz Gösing lächelt noch immer.

      "Was haben Sie früher gemacht?"

      "ABM, erst Wegebau, dann ABM Gartenbau, dann ABM auf dem Krupp-Gelände."

      "Ich biete Ihnen eine Stelle an, die Ihnen inklusive Plus-Lohn 1700 Mark netto bringt. Getränkehandel."

      "Ich fang nicht unter meinem alten ABM-Gehalt an. 2300 netto."

      "ABM ist keine richtige Arbeit. 1700 Mark netto, Herr Gösing. Und nach einem Jahr sind Sie Ihrem Wunschgehalt näher. Die meisten, die so lange durchhalten, bekommen Lohnerhöhungen, auch zwischendurch."

      "Würden Sie etwa für 1700 Mark anfangen?" Gösing wird laut. "Sie doch nicht."

      "Ich habe eine Ausbildung gemacht, Herr Gösing. Was haben Sie gelernt?"

      "Nichts."

      Joeres schaut ihn schweigend an. Schließlich sagt er: "Sie müssen wissen, das Arbeitsamt wird kritischer."

      "Hm", Fritz Gösing überlegt, "ich habe in der Zeitung gelesen, dass das Arbeitslosengeld um 1,85 Mark am Tag erhöht wird. Dann kriege ich demnächst 1900 Mark fürs Nixtun."

      "Das Arbeitsamt zahlt jeden Furz", nun wird auch Joeres lauter, "aber nur Sie haben eine Verantwortung für Ihr Leben. Nur Sie."

      Als Fritz Gösing, den Zettel des Getränkehandels in der Hand, die Straße überquert, sieht Joeres ihm nach. "Wenn ich Pech habe, ruft gleich sein Sozialberater an." Die Frage, die er zu hören bekäme, kennt er schon: Warum setzen Sie den armen Mann so unter Druck?

      Helmut Zekorn hat im Herbst Bilanz gezogen, Bilanz nach zwei Jahren Plus-Lohn. Von den 2061 Arbeitslosen, denen Plus-Lohn angeboten wurde, sind 1335 zum vorbereitenden Training erschienen. Davon haben 708 eine Stelle angetreten. Bei 370 von ihnen lag die Arbeitsaufnahme mindestens ein Jahr zurück, als Zekorn den Bericht schrieb. 114 davon waren zwölf Monate später nicht erneut arbeitslos.

      Viele Städte kopieren Zekorns Erfindung oder haben es vor. Plus-Lohn gilt als einer der erfolgreichsten Wege zur Vermittlung von niedrig qualifizierten Arbeitslosen in Deutschland. 114 Erfolgsgeschichten, genug, um ein Exportschlager zu sein? Zekorn nickt, es rechne sich für die Arbeitsbehörde. 114 Erfolge, also ein Erfolgsmodell? Natürlich, sagt Zekorn, "so gesehen, schon".

      Wenn Arbeitslose weniger Geld erhalten - ein Brevier
      Arbeitslosengeld wird, abhängig von Lebensalter und Beitragszeit, in den ersten 12 bis 32 Monaten der Arbeitslosigkeit gezahlt. Es beträgt 67 Prozent des letzten Nettolohns (60 Prozent bei Kinderlosen), jedoch maximal 3760 Mark.
      Arbeitslosenhilfe bekommt, wer nach dem Auslaufen des Arbeitslosengeldes noch immer keine neue Stelle gefunden hat. Er erhält 57 Prozent des letzten Nettolohns (53 Prozent bei Kinderlosen), höchstens 3198 Mark. Vorangegangen ist eine "Bedürftigkeitsprüfung". Arbeitslosenhilfe ist zeitlich nicht begrenzt. Der Anspruch bleibt erhalten, solange der Arbeitslose "dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht", also keine schwerwiegenden Gebrechen oder psychischen Störungen hat, die ihn an "zumutbarer" Arbeit hindern. Ab dem siebten Monat ohne Job gilt eine Stelle generell als zumutbar, wenn der Nettolohn so hoch ist wie das Geld vom Amt.
      Eine Sperrzeit kann das Arbeitsamt gegen denjenigen verhängen, der so eine "zumutbare" Stelle ablehnt. Das Amt kann bis zu 12 Wochen die Auszahlung der Arbeitslosenhilfe verweigern. Summieren sich Sperrzeiten auf 24 Wochen, streicht das Arbeitsamt das Geld endgültig. Allerdings ist dabei bis ins Kleinste nachzuweisen, dass ein Arbeitsloser keinen triftigen Grund hatte, eine Stelle auszuschlagen. Legt der Betroffene Widerspruch ein und findet sich im Vorgehen der Behörde auch nur ein geringfügiger formaler Fehler, ist davon auszugehen, dass ein Sozialgericht die Sperrzeit aufhebt.


      (c) DIE ZEIT 16/2001
      Avatar
      schrieb am 12.04.01 14:15:06
      Beitrag Nr. 2 ()
      die firmen, bei denen arbeitslose vorsprechen, sollten mit dem arbeitsamt "hand in hand" gehen ! d.h. wenn der dortige personalchef merkt, daß der "arbeits-suchende" "ausweichend" reagiert, sollte eine meldung an das arbeitsamt erfolgen bzw. aufgrund dieses vorfalls die monatlichen "sitz-zuhause-rum-und-schüttel-dir-einen"-gelder gestrichen werden !!!

      natürlich kann man nicht alle über einen kam scheren !!! es gibt härtefälle !!! für diese ist das system auch gedacht ! jeder könnt mal arbeitslos werden !!! nur - wer etwas auf sich hält bleibt es nicht lange !!!!

      gruß

      die synthese
      Avatar
      schrieb am 12.04.01 14:18:06
      Beitrag Nr. 3 ()
      Klasse Text,

      aber lang hab glatt meine Optionen aus den Augn verloren!!!

      :-))
      Avatar
      schrieb am 12.04.01 14:48:43
      Beitrag Nr. 4 ()
      Überrascht mich nicht, dieser Text. Könnte sich so auch in unserer Gegend zugetragen haben. Solange unser soziales System so milde ist, wird sich daran nichts ändern.
      Wenn dann der Bundeskanzler was ( wahres) dazu sagt, hagelt es große Proteste, Wie kann er nur....
      Dabei wissen doch alle, daß ein nicht unerheblicher Prozentsatz der Arbeitslosen zu faul zum arbeiten ist.
      Faulheit stört mich ja auch nicht, solange man nicht auf der Tasche anderer liegt, leider müssen aber die, die jeden Tag arbeiten gehen, diese Faulpelze finanzieren.
      Avatar
      schrieb am 13.04.01 01:18:51
      Beitrag Nr. 5 ()
      Die "Milde" ist wahrscheinlich schon ein Teil des Problems. Aber das Problem ist meiner Meinung nach viel komplizierter und verzwickter.

      Ein anderer Aspekt dieses Arbeitslosenproblem ist meiner Meinung nach die Perspektivlosigkeit vieler Menschen. Man trifft viele Menschen, die von dieser Welt einfach nichts mehr erwarten. Ihnen ist es mehr oder weniger egal, was mit ihnen passiert. Sie haben kein Antrieb mehr. Sie kommen sich als verlorener Spielball eines übermächtigen Machtgefüges vor.
      Viele Menschen erleben ein totales Ohnmachtsgefühl. Sie haben irgendwie nichts mehr für was sie leben.

      Weder möchte ich damit irgendwelche Angelegenheiten entschuldigen noch kritisieren. Das ist nur meine persönliche Beobachtung. Eine Lösung habe ich auch nicht.
      Und das stärker Sanktionen die Situation signifikant verbessern, glaube ich nicht. Bei einem Teil wird das sicher helfen. Aber bei dem Teil, der bis jetzt in seinem Leben nur die Verliererseite kennengelernt hat, wird das gar nichts bezwecken. Vieleicht im ersten Moment, bis die Wohnung dann endgültig weg ist und sie auf der Strasse leben wird`s evtl. schon ein Schock sein. Aber dann nicht mehr. Dann werden sich diese perspektivlosen Menschen mit ihrer neuen Situation arrangieren.

      Ich vermute, das Arbeitslosenproblem ist nur ein Erscheinungsbild einer viel größeren gesellschaftlichen Schieflage. Irgendwie greifen da vermutlich sehr viele verschiedene Themen ineinander über. Das fängt an bei der Veränderung der Rolle der Familie, geht über die Schuldisziplien bei Kindern und Jugendliche, bei der politischen und gesellschaftlichen Meinungsbildung bis eben zur Arbeitslosigkeit.

      Was tun? Ich weis es auch nicht.

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      Avatar
      schrieb am 13.04.01 14:20:41
      Beitrag Nr. 6 ()
      Schützenhilfe für Schrödi :)

      Ansonsten nichts neues! Sozialhilfe kürzen, da sit alles nur eine Kosten Nutzen Frage. Den relativen Nutzenzuwachs von Arbeit kann man erhöhen, indem man die Alternative weniger üppig ausstattet!

      MfG
      Ingmar
      Avatar
      schrieb am 14.04.01 14:36:52
      Beitrag Nr. 7 ()
      Schon erstaunlich, wie einfallslos hier manche argumentieren. Einfach den Druck auf Arbeitslose erhöhen, dann klappts auch mit der Arbeit wieder...

      Bin selbst in der Vermittlung von "schwer vermittelbaren" Arbeitslosen (psychisch Erkrankte) tätig und erlebe, mit welchem Ernst und Engagement diese Leute arbeiten wollen. Nur: Sie finden nur selten etwas, weil Arbeitgeber lieber die (lächerlich geringe) Ausgleichsabgabe zahlen als daß sie einen - zugegeben - schwierigen und "risikobehafteten" (Krankheit...) Arbeitnehmer einstellen.

      Damit will ich das Problem nicht einfach zu den Arbeitgebern verschieben. Ich plädiere lediglich dafür, das Problem Arbeitslosigkeit vielschichtiger zu sehen. Mangelhafte (Aus-) Bildung ist ebenso ein Teil des Problems wie zu hohe Anforderungen an vielen Arbeitsplätzen und zu geringe Unterstützung für Personen mit Schwierigkeiten in Betrieben (Sozialberatung...)

      Wer das Problem Arbeitslosigkeit auf das (Randproblem) Arbeitsunwillige verschiebt, begibt sich auf eine Ebene mit dem Opportunisten Schröder.
      Avatar
      schrieb am 17.04.01 12:15:01
      Beitrag Nr. 8 ()
      A R B E I T S M A R K T

      Kanzler plant Strafen für "Drückeberger"

      Bundeskanzler Gerhard Schröder will mit seiner Ankündigung ernst machen. Die Bundesregierung plant, Arbeitsämter künftig zu Sanktionen gegen Arbeitsunwillige zu verpflichten.

      Berlin - Arbeitsunwillige sollten auf jeden Fall mit Strafmaßnahmen belegt werden, sagte der Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium, Gerd Andres (SPD), der "Financial Times Deutschland". "Wir wollen das verpflichtend vorschreiben." Bislang liege es im Ermessen der Arbeitsämter, ob sie Sanktionen anwenden, wenn jemand ein Job-Angebot ausschlägt oder Vereinbarungen bricht.

      Nach den Vorstellungen von Andres sollen Stellensuchende und Arbeitsvermittler künftig eine Vereinbarung unterschreiben, die konkrete Schritte für die Weiterbildung und den Weg zurück in einen Job festlegt. "Dann hat der Arbeitslose einen Anspruch, aber er hat auch gegenüber dem Amt und der Gesellschaft eine gewisse Bringschuld." Wenn der Umgang verbindlicher sei, könnten Sanktionen wie Sperrzeiten anders angewandt werden.


      © DPA

      Gerhard Schröder

      Die Diskussion hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) Anfang April ausgelöst, indem er sagte, es gebe "kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft". Die Arbeitsämter könnten seiner Ansicht nach "noch konsequenter" Sanktionsmöglichkeiten gegen Arbeitslose nutzen, die einen zumutbaren Job ablehnen. Der Kanzler erntete dafür neuerlich harsche Kritik von den Grünen, Gewerkschaften und Teilen der SPD. Zustimmung kam von der CDU.

      Faulheit nicht vom Staat finanzieren

      CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer sagte dem "Hamburger Abendblatt", er stimme "im Kern" mit Schröder überein, dass gegen Arbeitsunwillige vorgegangen werden müsse. Faulheit dürfe vom Staat nicht finanziert werden. Die Gesetze müssten so verändert werden, dass Arbeitende nicht weniger als Sozialhilfempfänger bekommen. "Es kann auch nicht länger angehen, dass man unter das Sozialhilfeniveau abrutscht, nur weil man mehrere Kinder hat."

      Schärfere Gesetze

      Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, Peter Ramsauer (CSU), sprach sich gegen schärfere Gesetze aus, um Empfänger von Sozialleistungen zur Arbeitsaufnahme zu zwingen. "Diese Möglichkeiten sind weitgehend ausgereizt", sagte er dem "Handelsblatt". Das Problem müsse "durch konsequente Ausschöpfung des bestehenden Rechtsrahmens gelöst werden".

      Grünen-Politikerin kritisiert Schröder

      Die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, warf Schröder vor, mit seiner Äußerung zum Recht auf Faulheit die Ostdeutschen verunglimpft zu haben, "die sich um Arbeit bemühen, aber keine finden, weil es keine Arbeitsplätze gibt". "Immerhin hat Schröder den Abbau der Arbeitslosigkeit im Osten zur Chefsache erklärt. Da tut sich nichts, stattdessen erfährt man, die Leute seien zu faul", sagte die aus Thüringen stammende Grünen-Abgeordnete.
      Avatar
      schrieb am 17.04.01 14:23:52
      Beitrag Nr. 9 ()
      so bekommen wir das arbeitslosenproblem auch in grif


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